Sinn läßt sich finden - Verdrehter Alltag in Thomas Brunnschweilers Anagrammen
Die Geburtststunde des Anagramms vermutet man beim alten Lykophron aus Chalkis, der für seinen König Ptolemaios, den II., ein Anagramm angefertigt haben soll, bei dem er die Buchstaben des Namens Πτολεμαίος in die schmeichelnde Reihenfolge απο μελίτος = von Honig brachte. Es ist heute strittig ob dieser Lykophron des Wortspiels identisch ist mit jenem Lykophron, der das düster-apokalyptische Gedicht Alexandra verfasste, in dem die trojanische Seherin Kassandra das angstvolle Dunkel des Untergangs weissagt...
Missverstandenes Krisenkonzept - Skizzen zu „Theorien der Gemeinschaft“
Es gibt in der Soziologie Konzepte, die einerseits zum Basisinventar gehören, so sehr, dass die wichtigsten Ansätze der Gesellschaftslehre ohne diese Deutungsschlüssel nicht verstanden werden könnten, die andererseits jedoch als „Kampfbegriffe“ eine wechselvolle Rezeptionsgeschichte erlebt haben, die sie für den wissenschaftlichen Diskurs fragwürdig macht. Denn aus dieser Rolle und den vielfältigen weltanschaulich-emotionalen Konnotationen, die damit verbunden sind, ergibt sich für die historische und vor allem...
Wiener Flaneure - durch Geschichten und Zeiten
Beppo Beyerl und Rudi Hieblinger haben eine vergessen geglaubte Tradition wieder aufleben lassen: die des Flaneurs. Von der Paniglgasse sind sie in die Pinaglgasse gehatscht. Allerdings nicht auf dem direkten Weg, Umwege wurden bewusst und überall dort in Kauf genommen, wo Entdeckungen zu machen waren, denn Abschweifungen sind integrale Bestandteile jedes zielorientierten Weges.
Zu beobachten und zu bemerken gab es allerhand, wenn einer bloß die Augen offen und die Ohren steif hält...
Müde und schläfrig durchs Leben - Benn in einem Essay von Jörg Magenau
Jörg Magenau hat bereits ein bewegtes literarisches Leben hinter sich, hat vielen Redaktion bei- oder vorgesessen (Freitag, taz, literaturen, usw. - heute FAZ) und es ist sofort spürbar, daß man ihm auch in Sachen Leben kaum etwas vormachen kann: zum literarischen gehört das wirkliche. Das eine spielt sich zusammen mit dem anderen ab. Dichter verwechseln da oft etwas: das konkrete Leben soll das literarische ermöglichen, ist mehr eine Pacht, die es als Basis zu zahlen gilt. Das eigentliche Zuhause sei die Kunst. Ein Versteckspiel...
Draussen die Summe der Teile - „im toten winkel des goldenen schnitts“ von Marcus Roloff
Dass der Alltag bei vielen Schriftstellern den Ausgangspunkt ihrer Gedichte bildet, erscheint banal, fast schon selbstverständlich. Wenn man die Gedichte eines solchen Autors, wie z.B. die Marcus Roloffs in seinem neuen Band, liest, stellt sich vor allem die Frage, auf welche Weise dieser Alltag sprachlich gestaltet Gedicht wird.
Roloff scheint es um eine Selbstvergewisserung des lyrischen Ichs zu gehen, indem auffallend häufig zeitliche („am 1. september/ auf vierzehn uhr angesetzt/ überm winter/ jeden morgen“) und räumliche...
Gegen das Klischee der Romantik - der neue Roman von Marjana Gaponenko
"In der Nacht träumte mir, ich liege im Sterben und alle Menschen haben die Erde verlassen. Da kommt eine kleine Schlange mit hellgrünen Augen zu mir herangekrochen und fängt an, meine Hand zu lecken wie ein treuer Hund. Ich vergoss Tränen im Traum, Tränen der Dankbarkeit. Dafür wäre ich im wirklich Leben gerne gestorben. Für diese Geste, Ob sie sich in Tieren, Menschen oder in unbelebter Natur zeigt, sie kommt immer von Gott, als Güte, die nichts erwartet und nichts verlangt. Und auch jetzt, wo ich Ihnen diese Worte schreibe...
Über das Wesen der Zeit und dieses Jahrhundert - Sogar Papageien überleben uns, schreibt Olga Martynova
„Die Alten scherzen und lachen und machen sich lustig übereinander. Die jungen Autoren sind ernst und höflich. Und ich bin zwischen „alt“ und „jung“ und weiß nicht, ob ich noch ernst sein darf oder schon scherzen muss.“ Diese Worte schenkt die Lyrikerin und Essayistin Olga Martynova ihrer Heldin Marina in ihrem ersten Roman mit dem Titel: „Sogar Papageien überleben uns“. Vielleicht ist dieses Alter zwischen jung und alt das beste Alter, um so ein Buch zu schreiben. Ein Buch zwischen Ernst und Heiterkeit, über das Wesen der Zeit und ein Jahrhundert...
Du sollst nicht rauchen! - eine Kulturgeschichte der Rauchverbote von Walter Wipperberg
Dass Rauchen nicht gesund ist, soll nicht bestritten werden. Nicht hinnehmbar ist dagegen der „Krieg gegen die Raucher“, zumal er immer absurdere und radikalere Dimensionen annimmt, sodass selbst rauchende Politiker es nicht mehr wagen, ihre Gegenstimme zu erheben, hingegen träumt ein führender EU-Politiker von einem rauchfreien Europa, was Gedanken an Zeiten aufkommen lässt, die man längst für vergangen und überwunden gehalten hat. Einem gewissen Fritz Lickint (1898–1960), vom Reichsgesundheitsführer protegiert, verdankt die Welt ...
Ein vergessener Lausbube hat überlebt - neu übersetzt von Ni Gudix
“Ich besitze nur zwei Fähigkeiten: ich kann ein wenig schreiben und ich kann mit den Ohren wackeln. Da das Ohrenwackeln nichts einbringt, habe ich mich aufs Schreiben verlegt. Sobald eine Arbeit fertig ist, trinke ich eine Flasche Wein, zur Belohnung. Damit ich schneller an den Wein komme, werden meine Arbeiten immer kürzer. Man nennt das dann: Meister der kleinen Form.” bekannte der heute vergessene Kurt Kusenberg 1950.
Mit ihm hat man auch das “Tagebuch des bösen Buben” vergessen...
Indien und das Gespenst des Faschismus - Arundhati Roy sieht eine Dämonkratie
Wie ein böses Omen kamen die Heuschreckenschwärme im Frühjahr 1915 über die armenischen Dörfer. Nur wenige Monate später begannen die Massaker und Vertreibungen der türkischen Nationalisten an der armenischen Bevölkerung, der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts. Die Türkei leugnet den Genozid bis heute. Wer anderes behauptet, dem droht ein Verfahren wegen Verunglimpfung des Türkentums. Den armenischen Journalisten Hrant Dink hielt dies nicht davon ab, bei der Wahrheit zu bleiben, doch diese Wahrheit kostete ihn das Leben...
Erbschaftsangelegenheiten - Léa Cohen über eine moderne Schatzsuche und den guten Unternehmer
Im Unterhaltungsgenre ist die Suche nach dem verlorenen oder verborgenen Schatz ein beliebtes Dauerthema, aus gutem Grund, lassen sich hier doch Abenteuerroman und Thriller gut miteinander verbinden. Manchmal zu gut, wenn dann noch Nazis mitspielen, die in ihrer Gier schnell übertölpelt sind, oder stalinistische Fanatiker, die nicht minder große Simpel sind. Harrison Ford hat hier seine Paraderolle gefunden, und auch Jean Reno war sich nicht zu fein dafür, mit solchen Filmen gutes Geld zu verdienen. Das Publikum will immerhin...
Die schöne Welt ist kein Schein - Getrud Kolmar lebt ihre Gedichte
„Liebesgedichte“ heißt die Reihe und von Anna Achmatowa bis Marina Zwetajewa gibt es bereits kleine handliche Bände, Ernst Jandl ist vertreten, die Mayröcker, Enzensberger und Brecht, Rilke natürlich und die Kaschnitz – der Insel Verlag versammelt zum Thema, was Rang und Namen und auch wirklich etwas zu sagen hat. Hört man die Lautsprecher der vorletzten Lyriker-Generation, so sind Liebesgedichte „Motivgeflechte aus Liebesdiskursen“, die „lebenspragmatisch ausagiert werden müssen“ – so zumindest erklärt Michael Lentz...
Die grosse Zeit von Paris - 1919-1939 – Zwanzig Jahre wie Gold
"L`Age d`or" ist nicht nur das Synonym dieser Pariser Epoche, in der der Krieg beendet schien und die Welthauptstadt der Kultur in Siegestaumel schwelgte, sondern auch der Titel eines Films von Luis Bunuel und Salvador Dali, der 1930 entstanden war. Anhand dieser beiden Künstler könnte man das Ergebnis der "années folles", wie die Zwanziger gerne genannt werden, ausgiebig diskutieren: der Regisseur ging ins Exil nach Mexiko, der andere, der Maler, blieb zu Hause und machte auf unpolitisch. Muss denn auf jedes Fest, jede Orgie, jeden Taumel...
Diese melancholische Milch - zu den Gedichten von René Harmann
Immer auf Augenhöhe des, und, so dürfen wir vermuten, schön gegen den Zeitgeist geschrieben, sind die Gedichte von René Hamann sprachlich absolut in der Gegenwart. Kein abgedroschenes oder verbrauchtes Bild, keine angekäste, romantisierende Metapher hat sich in die Texte geschlichen. Gleichzeitig sind die Gedichte weit entfernt von Alltagslyrik oder profanen Befindlichkeitszeugnissen. Sie erschließen sich erst nach und nach: Auf den ersten Blick gallige, glänzend auf der Rasierklinge zwischen Melancholie und dandyhafter Verachtung...
Wenn die Zunge zum Schwert wird - Sybille Krämer & Elke Koch präsentieren Deutungen eines Alltagsphänomens
Der Gewaltbegriff ist nicht unumstritten. Zwar gibt es einen breiten Konsens dahingehend, dass Gewalt zu vermeiden und – wo geschehen – zu sühnen ist, doch welche Zustände und Vorgänge gewaltsam sind, darüber streiten sich Philosophen, Juristen und andere Gelehrte. Der Friedensforscher Johann Galtung unterscheidet aus soziologischer Sicht drei Erscheinungsformen der Gewalt: die direkte, die sich als physische unschwer identifizieren lässt, die strukturelle, die auf bestehenden Machtverhältnissen basiert, und die kulturelle, welche die direkte...
Die Fantasie erblüht nach Schmerzenslust - Samuel Becketts vermischte Schriften „Disjecta“
Vom späten Glanz des Ruhms von Samuel Beckett, der den langen, über zwei Jahrzehnte währenden Weg dorthin vom wiederum langwierigen Verlöschen der Dichtergestalt Beckett abteilt, geht noch heute, da die Texte des Iren immer weniger ernsthaft zur Kenntnis genommen werden, eine erhebliche Faszination aus. Das Werk Becketts kann als eine Antwort auf die menschliche Tragödie im 20.Jahrhundert gelesen werden; einem so ambitionierten wie affektierten Beginn folgen nach dem kreativen Hochplateau der 40er-Jahre zunächst Schrecken...
Fotografien der „Neuen Frau“ und Bilder eines Lebens - Marianne Breslauer
Am 6. September hätte sie eigentlich zu Ende gehen sollen, doch wegen des außerordentlichen Erfolges wurde die erste umfassende Retrospektive des Werks der Fotografin Marianne Breslauer nun in der Berlinischen Galerie bis zum 1. November 2010 (knapp 3 Wochen vor ihrem 101. Geburtstag) verlängert. Die Deutsch-Schweizerin mit jüdischen Wurzeln erlernte ihr fotografisches Handwerk im Berliner Lette-Verein und ging dem kaum zehn Jahre lang nach, bevor Sie an der Seite des Kunsthändlers Walter Feilchenfeldt (als Marianne Feilchenfeldt...
Der Aberwitz der Realitäten - Iran aus der Innenperspektive - in Parsua Bashis Briefen aus Teheran
Die iranische Mediendesignerin Parsua Bashi, Jahrgang 1966 kehrte 2009 nach Iran zurück, nachdem sie mehrere Jahre in Zürich gelebt hatte. Während das Iranbild in den Massenmedien von den Provokationen des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad dominiert wird, gibt Bashi in ihrem jüngst erschienenen Buch „Briefe aus Teheran“ einen Einblick in das Alltagsleben der Hauptstadt – und räumt einen Haufen Vorurteile aus dem Weg.
Wenn man die Zeitung aufschlägt könnte man manchmal zu dem...
Das Leben schont nicht - Monika Helfer in ihrem Roman auch nicht
"Brust weg, Mann schwul und tot auch noch." Was zu viel ist, ist zu viel. Das jedenfalls findet die Erzählerin von Monika Helfers Roman "Bevor ich schlafen kann". Und erfindet für ihre Hauptfigur Josi Bartok eine bissig ironische Geschichte vom persönlichen Widerstand gegen das eigene Unglück. Denn das komme immer zweimal, resümiert Josi selbst ihr trauriges Schicksal mit einer guten Portion Galgenhumor. Und nun stell dir eine Frau vor, hören wir die Erzählerin zur Deckenlampe sagen: Erst verliert sie bei einer Krebsoperation beide Brüste...
Die Fruchtbarkeit des zweiten Meeres - Andreas Altmann und sein Blick auf das Wesentliche
Ich schaue nicht viel Fernsehen und auch im Kino bin ich (vielleicht zu) selten anzutreffen. Was ich an Filmzitaten parat habe, passt auf einen postkartengroßen Zettel. Einer der auf diesem Zettel verewigten Zelluloidschnipsel zeigt Charlie Sheen in Hot Shots, wie er ein Buch liest. Ein Mann tritt an ihn heran und erkundigt sich nach dem Titel des Buches, der „Große Erwartungen“ lautet. Auf die Frage, wie es ihm gefalle, sagt Sheen: „Ich habe mir mehr davon versprochen!“ - Nun, im Gegensatz zu anderen Kollegen lese ich nur selten...
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