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Frames of Judy
Ein Essay von Anne Dippel
I. Framing the Frame of the Framing Framer
Es heißt, Deutsche stünden nicht gerne in Schlangen an, ganz im Gegensatz zu
ihren englischen Nachbarn, die sich jeder Schlange ergeben anbiederten,
freiwillig Schlangen bildeten, um wie eine Perlenkette aufgereiht nach und nach
den Engpass zu durchlangen. Sie bilden so in der Zeit, nicht aber im Raum eine
Menge, die als algorithmische Masse bezeichnet werden kann. Die Deutschen
hingegen verhalten sich gegenüber Engpässen en gros wie Kamele, besser, sie
bilden gemeinsam eine kollektive Formation, deren Vorhaben es ist, einen mir
nichts dir nichts zum Nadelöhr mutierten Engpass mit einem Mal zu durchgehen.
Ohne es zu gegenwärtigen wiederholen sie in actu die Fehlübersetzung Luthers,
dem dieser Umstand aber nicht zu schulden kommen soll. Nur, seitdem er, von
damals noch unbekanntem Orientalismus befallen, fantasiert hatte, »eher gehe ein
Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelange«,
bauschen sich vor schmalen Öffnungen gerne Wolken von Deutschen auf. Es soll
nicht behauptet werden, die Deutschen neigten dazu, sich mit Reichen
überzuidentifizieren. Die Engländer lieben Engpässe genauso wie die Deutschen,
indes bilden sie zeitlich-tröpfelnde, nicht räumlich-quellende Massen. Und dass
die Deutschen eine ganz eigenständige Form haben, sich in Massenereignisse treu
zu ergeben, zeigt ja schon ein kurzer Blick in die Geschichte der letzten 150
Jahre. Seltsam bloß: Revolutionen waren nie ihr Ding.
Törichte Schlüsse dieser Art erweckte zuletzt der Dienstagabend des 3. Februar
2009. Das Spektakel hätte die Form einer Schlange annehmen können, ein Ereignis
deutscher Disziplin darstellen müssen, ach, aber das war es ja genau so, denn
lineares, der Nachzeitigkeit verpflichtetes, zeitlich ausgedehntes Massenbilden
ist uns in diesem Fall Beweis englischer Disziplin. Eine unangekündigte
Dokumentation von Google Maps hätte per Satellitenaufnahme auch hochaufgelöst
die Menschen in Form eines zusammengefügten Kamels gezeigt und die These der
folgenreichen Fehlübersetzung bewiesen. Was konnte da an den Türschwellen des
Audimax im Henry-Ford-Bau der Freien Universität Berlin beobachtet werden: Es
stürmten, drängten die jungen deutschen Studentinnen und Studenten. Die
Veranstaltungsorganisatoren aber wussten das neurotische Massenbegehren durch
fehlende Klarheit und Kanalisierung, durch verwirrende Informationen im
Vorhinein auf wahrhaft deutsche Weise zu meistern: Gleich fein rieselnden Sandes
einer überdimensionierten Uhr stauten sich hunderte Menschen an der Engstelle
des Audimax, alle wollten sie gleichzeitig auf die andere Seite des Raums,
einzeln aber nur gelang ihnen die Passage. Als wäre mit einem Mal das Vestibül
auf den Kopf gestellt worden, fielen die Menschen durch die Tür von Raum zu
Raum. Hunderte von ihnen strömten in das Auditorium, vertröstete akademische
Hundertschaften platzten in die Säle der Videoübertragung, sie waren um Sekunden
zu spät gekommen. Nur, welchen Heiland kamen sie zu hören? Wem huldigten die von
allen Bildungseinrichtungen Berlins herpilgernden suchenden Seelen? Selten
winden sich zwei Stränge zu einer Doppelhelix von Massenleben, hier aber war es
wieder einmal möglich, aus den Unterschieden zweier diametraler Ichs gebar sich
ein realer Augenblick: Die exzellente Freie Universität paarte sich mit der
brillanten Judith Butler und die Menge wurde für Augenblicke zur protestierenden
unheimlichen Masse. Das Ereignis sollte sich ungewohnt dramatisieren und,
geradezu ein drohendes Vorahnen für sommerliche Protestwochen wecken. Denn diese
sind geplant: gegen Bologna, für die gleiche, freie, gerechte Wissenschaft. Eine
schwelende Lust am Widerstand schwirrte durch das Auditorium.
Wie konnte das geschehen?
Ad Eins: Eine Universität, die Freie, besonders ihre Geisteswissenschaften,
vermochten für sich durch eine außerordentliche Kür im Exzellenzwettbewerb einen
vielbeneideten Geldregen ertanzen - im Gegensatz beispielsweise zu ihrer
schöneren, älteren, selbstzufriedeneren und daher erfolglosen und neidischen
Stiefschwester Humboldt-Universität.
Ad Zwei: Ein »Humanity Center« in Dahlem wurde gegründet. Dieses »Center« will
exzellenter Schüler des Bolgoneser Gleichschaltungsprogramms sein und nutzt das
viele Geld zur Maximierung von Renommee und Produktion marktgängigen Wissens.
Denn Bologna erzählt nicht bloß von Vereinheitlichung der Institutionen, sondern
auch von der des Geistes. Die Scholastik nahm ihren Ausgang in Bologna, die
Neoscholastik auch.
Ad Drei: Renommee folgt dem Gesetz der Repräsentation. Sie braucht und leistet
es sich, Renommierte einzuladen. Der französische Denker Georges Bataille schon
lehrte: Verausgabung ist Grundlage allen feudalen Gebahrens.
Ad Vier: Deshalb wurde ein Anlass ins Leben gerufen, dessen Pate niemand
Geringeres als der synthetische Idealist Hegel ist. Wer ließe sich nicht zur
»Hegel Lecture« einladen, wer nicht bitten, und bitte wer nicht mehr als die
zweite Rednerin dieser jungen Institution, Ad Fünf, Judith Butler, ihres
Zeichens Maxine-Elliot-Professorin für Rhetorik und Vergleichende
Literaturwissenschaft an der Universität Berkeley; Hoffnungsträgerin aller
Unzufriedenen und Fehleingeschätzten; Stern am Himmel aller queer, trans, homo
und sonstig subversiv gegen Heteronormativitität aufbegehrenden linkspolitischen
westlichen Menschinnen und Menschen.
Nun, unter diesen Auspizien lässt sich die Existentialität des Hin- und
Wegpilgerns der Massen besser verstehen. Zwei Studierenden- und eineinhalb
Lehrendengenerationen wollten die Ikone der Performativität und
Nicht-Essentialität von Geschlechteridentitäten sehen_hören_spüren. Und es
verwundert Niemanden, dass der totale Konstruktivismus trotz naturalistischer
Siegeszüge in Biologie, Psychologie und was da sonst noch sich
Modeneurowissenschaften nennt, seine Berechtigung unter dem trüben Wissenshimmel
Bolognas einfordern will.
Im Gegensatz zu vorhergehenden Lesungen Butlers in Berlin, hat sich der Andrang
vervierfacht, Leersäle leben für zwei Stunden wieder als Lehrsäle auf. Die Türen
werden bald geschlossen. Willkommen in Westberlin! Am Checkpoint Judy gibt es
keinen Einlass mehr, auch die Wochen zuvor schon per Email erfolgte Anmeldung
gilt den universitären Türwächtern nichts. Wütende Gebärden hysterischer
Historikerinnen zeigen vereinzelt noch Erfolg, triumphal reihen sie sich auf den
Hühnerstangen-look-a-like-Heizkörpern am Rande des Auditoriums aneinander und
warten (gackernd). Nach diesem Kraftakt bleiben noch fünfzig Minuten Zeit, Zeit
sich umzusehen (Das Ich dieses Textes ist viel zu spät mit der dreisten
Behauptung, jemand hielte ihr im Saal einen Platz frei, an den strengen Wächtern
vorbeigehuscht und kann danach sogar noch einmal für die Toilette das Auditorium
verlassen, um es unbehelligt wiederzubetreten, auch ihr bleibt ausreichend Zeit
zu betrachten). Junge Männer, Middlesex von Jeffrey Eugenides lesend,
kurzhaarige, langhaarige schöne und hässliche Lesben jeden Alters, männliche und
weibliche Feministinnen jüngerer und älterer Generation, interessierte
Immatrikulierte Philosophischer Fakultäten aller Hochschulen füllen plappernd
und aufgeregt den Saal - mit der Langeweile verstärkt sich die Lust an der
Beobachtung. Neben mir sitzt eine verirrte Modedesignstudentin, die mit einem
Fingerzeig auf die Fotografie Judith Butlers, von der Faltblattpräsentation
abgestoßen, flüstert: »Ich verstehe nicht, warum sie nicht mehr aus sich macht!«
Verzweifelt versucht sie den Ohrring zu verdecken. »Ohne Ohrring sähe sie viel
besser aus.« Sie hält die Hälfte von Butlers Gesicht zu. Sibyllinisch entgegne
ich: »Aber für die Meisten hier macht sie doch genau so sehr viel aus sich.«
Stutzen; umblicken, anblicken; in ihren Augen blitzt Erkenntnis, ein Bonmot!,
glücklich lächelt sie. Ich folge ihrem schweifenden Auge, doch weniger
aufgeregt. Man fragt sich, in welchen Löchern diese vielen Menschen sich
tagsüber versteckt halten. Wie anders sähe die Welt aus, wie queer und fremd wär
ihr das Wort normal. Alle warten geduldig auf ihren Star.
Als ich Judith Butler das erste Mal erlebt habe, 2001 auf der Frankfurter
Foucault Konferenz, rief ihr nach ihrem Vortrag die berühmte US-Politologin
Nancy Fraser zu einer Bemerkung aus dem Hörsaal zu »We have to work on that,
Judy!« Und Judy nickte zustimmend. Das hat mich maßlos beeindruckt, denn mit
einem Mal war der Saal, von 1000 Menschen erfüllt, zu einem Seminarraum aus 10
Personen geschrumpft gewesen, und Judy zum Menschen geworden. Viele aber hier
warten auf Judith Butler Superstar, eine kleine zierliche Frau, Typ Butch, eine
Denkerin, die nie daraus einen Hehl gemacht hat, eine solche zu sein; eine
Denkerin natürlich. Jemand, der die Chuzpe besaß, Foucault und 1970er-Jahre
Feminismus zu radikalisieren, Geschlechtlichkeit zum Grundstein der Legitimation
idealistischer und aktivistischer Philosophie zu machen. Roland Barthes stellte
einmal fest: »die Absonderung verwandelt sich in den Stoff des Werkes selbst, in
die konkrete Arbeit am Werk (vgl. die Homosexualität annehmen = sie
transformieren)«. Judith Butler verkörpert ihre Philosophie wie sie die
Philosophie verkörpert hat ...
Die Prominenz, später von Prof. Dr. Küpper, Vorsitzender des Dahlem Humanity
Center als »Exzellenzen« betitelt, vertreibt sich das Warten im geschlossenen
Saal stehend. Souverän, halten sie vor ihren reservierten Plätzen Stellung, die
Blicke scheinbar desinteressiert, ein wenig von der Besonderheit Butlers in
Berlin, Deutschland, Kontinentaleuropa, kostend ...
In der Internetenzyklopädie Wikipedia fällt die Biographie Butlers
bemerkenswerterweise auseinander, einzig auf der Deutschen Seite ist sie als aus
»jüdischer Familie« entstammend beschrieben. Ach, die Deutschen, freuen sich,
wenn man sie liebt und sie freuen sich noch viel mehr, wenn sie geliebt werden
von einer Frau, die sich selbst als amerikanische Jüdin bezeichnet, lesbisch,
israelkritisch. Vor dreißig Jahren studierte sie an keinem geringeren Ort als in
Good Old Heidelberg, wo sie den damals auch schon ziemlich old aber immer noch
good Gadamer hörte. Eine kleine lesbische, jüdische Amerikanerin, kommt, um
Hegel zu preisen. ... Unvermittelt drängen sich die kleinen Fragen vehement auf:
Wie viele in diesem Saal wohl Hegel studiert haben; wie viele Butlers einfache
aktivistische Formel der Subversivität im Original gelesen; wie viele sie
begriffen; wie wenige ihren dialektischen Streitereien mit den philosophischen
Gesprächspartnern gefolgt sind? ... Minuten verstreichen dann doch im surrenden
Bienenhaufen das Auditoriums.
Das Ereignis, ganz Ereignis, vollzieht sich unerwartet. Leise überquert eine
unscheinbare kleine Frau den roten Teppich (Gummisohlen, ein schwarzes,
»vernünftiges Paar Schuhe«, wie Simone de Beauvoir anzumerken hätte). Sie
passiert die Reihen der Wartenden, nur durch ihre Entourage fällt sie auf, eine
Traube äußerst exzellenter Exzellenzen, mehr oder weniger exzellent gekleidet.
Für wie viel sie wohl so eine Vorlesung macht? Laut schwillt das Klatschen der
glücklichen Hörerinnen und Hörer in spe an, das Warten hat ein Ende. Und so sehr
sie ein Ereignis begehren, werden sie nicht damit rechnen, dass ihnen,
Zuschauern und Zuhörern gleichermaßen bald das Simulakrum eines existentiellen
Ereignis leibhaftig widerfahren wird. Judith Butler wird sprechen, doch ihnen
wird sich der Sinn des Gesagten im Augenblick der Aussprache wieder entziehen.
Sie werden Butler anstarren, aber nicht sehen können. Sie werden sie hören, aber
nicht verstehen. Und das kommt so:
Die erste von drei stellvertretenden Präsidentinnen der Freien Universität, Frau
Professor Doktor Ursula Lehmkuhl, preist ihre Institution auf beinahe
ungebührliche Weise. Die Deutschen haben aber keine Tradition institutioneller
Gruppierung von Wissen, jeder Lehrstuhl ist sein eigener Kosmos, zuweilen huscht
einmal eine Sternschnuppe aus einer andere Galaxie vorbei (sie verglüht zumeist
im Orbit), aber Vernetzung der Sonnensysteme sind von kalkulierten Symbiosen und
klientelistischen Strukturen gesteuert. Frankreichs pyramidales System,
anglosaxonische Efeuranken um altehrwürdige Steingemäuer wissenschaftlicher
Siegespaläste, bleiben hier Fantasmen des alternden, lorbeerumkränzten
C4-Professors und seiner Satelliten. So wecken Professor Lehmkuhls Lobpreisungen
den Unmut immer lauter kommentierender Zuhörer. Exzellenzverliebte
institutionale Selbstdarstellungen, die vom Inhalt so träumerisch-amerikanisch
und vom Ausdruck her so unbedarft-deutsch daherkommen, können in diesem Raum nur
mit lautem Protest und Belustigung empfangen werden. Verunsichert von der
eigenen Demonstration souveräner Exzellenz, gelingt ihr bald ein großartiger
Versprecher. Sie sei erfreut, lässt sie vernehmen, dass eine der bedeutendsten
lebenden amerikanischen Philosophinnen, »Judith Buster, nein Butler« der
Einladung gefolgt sei. Nicht jeder Geist ist offensichtlich medial so versaut
worden, wie der meinige: angespornt durch diese unfreiwillige Assoziation,
blitzt in mir das Bild einer schlau zu Geld gekommenen, dicklippigen Pornoqueen
auf, ich hör schon nicht mehr zu und frage mich indes, ob Frau Butler dem
Paradigma von Herr und Knecht allein aufgrund ihres Nachnamens nicht entfliehen
konnte, ob ihr Name sie zum Programm geführt und von vorn herein in die Rolle
desjenigen gebracht habe, der mehr als der Herr immer das alte Spiel von Macht
und Ohnmacht busten möchte. Professor Lehmkuhls Laudatio auf die
Exzellenzbemühungen ihrer Freien Universität veranlassen derweil das Auditorium
dazu, ihre Ausführungen mit einem Schwall von Zwischenrufen und aufmüpfigen
Brüllereien à la »lächerlich«, »aufhören«, »Buh« und lautem Lachen zu
beantworten. Die Masse verspürt Lust, sich ihrem Unbehagen gegenüber den
angelaufenen Reformen Luft zu machen. Endlich gibt es eine Dritte, eine
unbeteiligte Hörerin, Judith Buster, nein, Butler, die sie alle zu
revolutionärem, linken Verhalten immer geistig beflügelt hat. Sie soll hören,
wie mutig sich der Unmut über die Reform des Universitätssystems äußern kann,
wie unzufrieden alle sind, dass sie nicht mehr jene Freiheit des Studiums haben,
die ihren Ausgang doch in Hegels Freiheitsbegriff nahm. Frau Butler soll hören,
urteilen darüber, wie zuwider den deutschen Universitätsverbundenen es ist, dass
sich da einer aufspielt, Herr über ihre geistigen Entwicklungen und Leistungen
zu sein. Sie möchten diesen Herren und Damen mal den machtgeschneiderten
Bolognarock herunterreißen und die blanke Gier nach Akkumulation von Geld und
Leistung zur Schau stellen. Endlich, Frau Lehmkuhl ist erlöst, demonstratives
Klatschen einiger Exzellenzen und angepasster Studenten.
Alles in allem schlechte Startbedingungen für den Einführungsvortrag von Prof.
Dr. Joachim Küppers. Der Kredit ist ihm von vorn herein schon entzogen, seine
Rede hält er aus roten Zahlen heraus, knietief im Dispo stehend. Der Romanist,
Sprecher des Dahlem Humanities Centers, schreitet beschwingt noch die Treppe
herauf, aber die ersten fünf Worte schon zeigen verknöcherte
Geistesungegenwärtigkeit: auch er kann es sich nicht nehmen lassen, vor die
Einführung in das Ereignis Butler, der Freien Universität Humanity Center zu
rühmen. Konzentriert preist doch schon die Homepage »Das 2007 gegründete Dahlem
Humanities Center bündelt die deutschlandweit einzigartige Breite
geisteswissenschaftlicher Forschung an der Freien Universität. Es schafft für
diese Fülle der Disziplinen und Aktivitäten einen übergeordneten,
interdisziplinären Forschungsrahmen: die Untersuchung der Erscheinungsformen,
Prinzipien und Wirkungsweisen kultureller Dynamik.« Die Worte des Redners ernten
noch lautere Buhrufe, wieder schreit man »lächerlich«. Sind hier etwa wilde
Studenten incognito von der Humboldt-Universität angeheuert worden, die die
Feierlauene der schönen reichen Dahlemer stören sollen? Als Küppers dann auch
noch geradezu flaubertesk in bildungsbürgerlichen Metaphern badend, Frau Butlers
Anreise via Land aufgrund des verschneiten und gesperrten Flughafens Heathrow
schildert, und sich anschickt, die räumlichen Umdisponierungen im Vorfeld zu
erklären, ist es den Anwesenden unmöglich, das »organisatorische Imbroglio« zu
entschuldigen. Lachen wellt durch den Saal und der Redner hält sich am Pult
fest, sein Körper versucht durch den Schallfluss hindurchzutauchen. Das
revolutionäre Implikat Butlers sei, Freiheit über die Materialität des Körpers
hinauszudenken, ausgehend von der Idee des Körpers als Phänomen des Bewusstseins,
unsere Auffassungen zu ändern, wenn »wir« nur wollen. Als geistige Wesen, die
wir auch sind, könnten wir die Materialität verlassen. »Change« wird mutig
zitiert und Obamas Präsidentschaftsrede, das Publikum stöhnt bei jeder Zeile und
murrt ungeduldiger, das kontinentale Publikum wird geradezu verbal inkontinent,
als der Referent diese Kombination von Idealismus und Aktivismus in Butlers
Denken auch noch als das Erbe der USA proklamiert. Doch leise hör ich da den
Riss zwischen der bekennenden US-Amerikanerin und ihren deutschen Zuhörern, der
später, in ihren Beurteilungen der israelischen Situation möglicherweise noch
stärker aufgebrochen wäre, wenn man ihr hätte folgen können, wenn Fragen erlaubt
gewesen wären. Linke Politik auf dieser Seite und auf der anderen Seite des
großen Atlantik ist und bleibt oft ein Falscher Freund. Viele Amerikaner wissen
das besser als die meisten Deutschen. Leise schwelt ein Zweifel: Es geht den
Zuhörern offensichtlich gar nicht um die Gedanken, die Butler jetzt
beschäftigen, sie möchten sich nicht Eindenken in das bald zu Hörende, von dem
der Romanist erzählt. Es interessiert die Wenigsten die Befreiung aus dem
Gefängnis des scheinbar naturhaften Kulturverhafteten. Küppers resümiert: Ethik
und Moral im Angesicht des Krieges; von der Bibel und Aristoteles wollen sie gar
nichts wissen. »Lächerlich! Aufhören!« Alles olle Kamellen, das Publikum hört
bloß Geschwafel. Die Zuhörer wollen nur ihrer Führerin die Gefolgschaftstreue
zeigen, indem sie die anderen Sprecher nicht hören wollen. Sie möchten das
Popereignis, sie möchten Judith Butler sehen. Sie möchten danach sagen können,
dass sie dabei gewesen waren. Butlerjudy wollen sie und keine Philosophie. Wer
möchte schon hören, dass sich die höchste Verdichtung der Geisteswissenschaften
in der Philosophie wiederfände - im Übrigen eine gerade unter
klassisch-rhetorischen Aspekten streitwürdige Annahme von Professor Küppers.
Aber deshalb buhen die Zuhörer nicht. Dass Frau Butler für Freiheit und
Befreiung in Person und Werk steht, ist allen im Raum schon lange vor ihm klar
gewesen. Von ihrer Promotion über den Hegelschen Freiheitsbegriff bei
Frankreichs Intellektuellen im 20. Jahrhundert bis hin zu ihrer Queer Theory
will niemand etwas durch diesen blauen Anzug mit Kulturstrick um den Hals hören.
Hängt ihn auf! Hat der überhaupt einen Kopf oder sitzt da auf dem weißen Hemd
nur ein lautstarker Sender von Radio Bologna? Während der Rede Prof. Dr. Küppers
beginnt sich die Masse ins Selbstgerechte zu steigern und stürzt in die
Vermessenheit. Das war ja immer schon das Problem der Massen, und dann wurden
sie noch immer unbehaglich: Jetzt zweifeln sie seine Aufgabe an sich an.
Seine Einführung in den Vortrag »Frames of War« von Judith Butler ist aber
wichtig gewesen, das Auditorium hätte hören sollen, dass Butler sich abkehren
will von all den Genderproblematiken, sie hätten ihr Denken öffnen sollen für
politische Fragen, die Krieg und Körperlichkeit betreffen. Bald werden die
Zuhörer Butler hören und nichts verstehen und ihr »Aufhören!« reißt Gräben auf.
Berechtigter Unmut war zu feiger Ungerechtigkeit geworden. Endlich endet Herr
Professor Küppers, nicht ohne mehrfach ungeschickt wie ein kleiner Junge mit dem
Oberkörper trotzig eine Wellenbewegung zu vollführen, dabei am Rednerpult
krampfend ein letztes Mal sich mit seinem ganzen Körper gegen die Flut der Masse
trotzig aufzubäumen - »und ich rede doch bis zum Ende«. Butler erlöst ihn,
treppauf die Eine, treppab der Andere, hunderte Hände branden ineinander,
während Judith Butler höflich die große Hand des Herrn Professor Küppers in
ihrer Kleinen stillend birgt.
Die transatlantische Hörerin enttäuscht all die, die ein Wort von ihr zum lauten
Tosen erhofft hatten und stürzt sich gleich in ihren Vortrag. Butler
interessiert sich nicht für europäische Probleme, sie will keine Richterin sein,
sie ist Philosophin. Die Amerikaner sind auf dem Rückzug aus Kriegsgebieten und
die Völker sollen selbst ihr Schicksal in die Hand nehmen. Cold War is over. Wir
müssen über das Ende von ganz anderen Kriegen sprechen und wollen nichts hören
von Universitätsgrabenkämpfen a la Bolognese, die doch nichts an der
bereitwilligen Hinnahmefähigkeit der Hörer etwas ändern. Denn die Reformen
reformieren sie nicht durch ihr Protestverhalten, sie bestärken sie vielmehr in
ihrer ganzen Notwendigkeit, sie geben ihnen Raum. Sie sprengen den Bologneser
Rahmen nicht und bauen an seiner Verfestigung noch mit. Ähnliches wird Frau
Butler später zur Wirkung von Kriegsphotographien sagen. Doch solches entzieht
sich dem Verständnis der Mehrheit. Und das liegt erstens an ihrer Ausbildung,
die sie zwar Butler hat lesen lassen, aber nie Hegel und zweitens an dem
Englisch, zu dem Butler, das Deutsche fließend beherrschend, aus »Höflichkeit«
im Vorfeld gedrängt wurde, ein Umstand, den sie irritiert ihrem Vortrag
vorausschickt.
II. Framing the Frame of Judys Framing
Folgende Denkbewegungen beleben Judith Butlers Philosophie: Die Erste
betrifft den dialektischen Verlauf von These - Antithese - Synthese. Die Zweite
bricht jede Dialektik in Manier eines typisch strukturalen Suchens nach
Leerstellen, Rissen und Diskontinuitäten einerseits und dem dekonstruierenden
genauen Lauschen der Etymologien, Verwandtschaften und Semantiken von Wörtern
einer Sprache, dem omnisensuellen Nachspüren ihrer (Un)Möglichkeiten der
Variation andererseits. Aus der Reziprozität der Bewegungen eröffnet sich ein
mehrdimensionaler Raum für Spiele: Das Spiel mit der différance von Laut- und
Schreibweise verweist auf die eminente Bedeutung von Schriftlichkeit und
Mündlichkeit; das Spiel mit der symbolischen und imaginären Dimension von
Materialitäten wiederum spricht von der besonderen Bedeutung des digitalen
Zeitalters und seinem durch elektronische Medien ausgelösten grundlegenden
Zweifel an der jeweiligen Wahrnehmung. Mit Blick auf Differenz und Wiederholung
von Ereignissen, zeichnet auch Butler den von Heidegger zuerst beschriebenen und
von Derrida beispielsweise meisterhaft imitierten Weg des Denkens nach.
a. Framing the Thoughts
Die Poesie philosophischen Denkens eröffnet Butler die Chance von den neuen
medialen Kriegen auf eigene Weise zu sprechen. Sie schließt von den new wars auf
die new ways of precariousness (Bedenklichkeit, Unsicherheit); sie kann von dort
aus die Wechselbeziehungen zwischen precariousness und precarity behandeln (Prekarität
- ein sowohl räumlicher, wie auch zeitlicher Begriff, der sowohl den Status »Prekariat«
als auch den Prozess »Prekarisierung« bezeichnen kann). Judith Butler verwebt
kontinentale Traditionen der politischen Ästhetik mit ethischer Philosophie
anglosaxonischer Prägung. Immer fordert ihr Denken Handeln ein. Butlers Denken
haust an der Schnittstelle zwischen Politik und Philosophie. Gewollt oder
ungewollt basiert ihr Vorhaben auf der thomasischen Formel agere sequitur esse -
das Handeln folgt dem Sein. Damit steht sie in der Nachfolge zweier großer
Philosophinnen, Hannah Arendt und Simone de Beauvoir.
Judith Butlers Bekanntheit entspringt ihrer politischen Weise Materialitäten als
Körper zu denken. Die Form fällt hier mit Materie (Hyle) zusammen. Die Hülle
dieser Körper, bindet das Subjekt in die Gesellschaft ein, es ist aktiv, medial
und passiv einem desire unterworfen (Herr/Knecht, Klappe die Erste)- desire,
désir dem so vieldeutigen Wort, das im Deutschen Begierde, Verlangen, Wunsch und
Begehren umfasst. So zersprengt Butlers subversives Programm das normierte
Denken geschlechtlicher Zuschreibungen. So nähert sie sich auch dem Thema Krieg.
Von seinen frames her sei der Krieg zu begreifen - frame, ein Wort, das von
jeglicher Art des Rahmens über Gerüst bis zu Telegramm und Einzelbild alles
umfasst, das medial oder materiell dem Transport von Informationen, Inhalten und
Bedeutungen eignet. Butler grenzt den Begriff für ihr Vorhaben ein, frame
bezeichnet für sie - a, sichtbare Wahrnehmungen und b, Normen und normative
Bedingungen. Frame sei grundlegender als alle anderen Begrifflichkeiten, denn
Subjekte und Leben könnten nicht ohne Normen, als solche, wahrgenommen werden.
Die Kategorien bilden ein soziokulturelles Apriori. Daher sei - c, Die
normierende Konstruktion von Leben eine konstruktive Aufgabe, die niemals
beendet wäre. Ständig wiederhole sie sich, immer sei sie heterogen. Normierung
ist nicht zu vermeiden. An dieser Stelle begegnen wir Hörenden Hegel persönlich.
Denn wo sonst geschehe das erste framing, als im reflexiven Unterscheiden von
mir als Ich im Jetzt, im Davor, im Danach, einem Trennen, das die Dialektik von
Herrschaft und Knechtschaft vorzeichnet; denn Ich benötigt ein Drittes, ein
Außen, eine Form der Reflexion.
Durch Selbstreflexion verdoppelte man sich. Dieses »aus sich heraus kommen«
bezeuge ein Ich, das »Hier« und »Da« sein kann. Erst durch Reflexion werde man
etwas Anderes, zu einem Selbst. Von der Bedingtheit im Raum entbunden, erlebe
jeder eine Verdoppelung des räumlichen Systems »Selbst«. Noch taucht der
»Andere« in der Erkenntnis des Herr/Knecht-Paradigmas gar nicht auf, Ich und
Nicht-Ich konstituieren sich weit vorher in jedem Einzelnen, als eine andere
Gestalt oder shape (Als Judith Butler »Gestalt« erwähnt, wird deutlich, wie
gerne wir an dieser Stelle weiter auf Deutsch gehört hätten; ihre Gedanken wären
disputabel geworden). Dieses Ich sei eben die universale Form des Lebens. Ich
künde von der Dauer des Lebens und des Körpers Endlichkeit. Dieses Ich
akzeptiere, dass andere sind, die dieses Leben, dieses Ich überleben. Das Leben
verweise auf das Davor und Danach, auf das, was vor und nach der Gestalt eines
Wesens das Ich anzeigt. Als Gestalt sei Ich an Andere gebunden und ungebunden
zugleich, resümiert Butler und wiederholt Leibniz zentrale Aussage: »Ein Ding
ist, ist nicht«, eine Gedankengrundlage für diskrete Algorithmen aller Art.
Butler argumentiert, die Substituierbarkeit des Menschen sei ihm immer schon ein
störendes Anliegen gewesen. Doch nur indem die Gestalt selbst ausgelöscht wird,
verlischt die Substituierbarkeit des Ich. Das ist der Tod im Tod. Wir stoßen an
die Grenze der Immanenz, Butler betritt das Reich der Ontologie: Sie mutmaßt,
Tote haben wohl keine Gefühle, die Existenz eines reflektierten Selbst nach dem
Ableben sei nicht gesichert. So wendet sich die Frage nach dem Sein dem Leben
zu. Eine Frage, die sich auf dem Beginn einer Dialektik ohne Synthese gründet.
Das Problem, ob es eine Dialektik ohne Synthese geben kann, bleibt bestehen. Und
wie erfolgreich dieser Weg einer von Existentialphilosophie geprägten Denkweise
im politischen Alltag ist, muss ebenfalls offen bleiben. Butler indes besteht
darauf, dass es aus ethischen Gründen das Leben als ein fortlaufendes Paradoxon
zu akzeptieren gelte.
Darauf bauen die nächsten Schritte der Argumentation Butlers auf. 1. Das Ich
registriere seine Ersetzbarkeit, obwohl 2. Singularität die Vorbedingung jeden
Verstehens ist. 3. Diese Nichtersetzbarkeit ist die Vorbedingung der
Ersetzbarkeit, ergo 4. Das Ich sei bedürftig nach dem Anderen, deshalb 5. Die
Sozialbilität des Ich: Das Ich möchte überleben, deshalb sei es offen für die
Bewegungsbahnen des desire, deshalb unterhalte es soziale Beziehungen. Summa
summarum 6. Man nehme sein Leben durch die Norm als etwas Besonderes wahr,
daraus ergäben sich mannigfaltige Spiele mit der Norm. 7. Semantischer Break:
Bewusst spreche sie an dieser Stelle von Wahrnehmen, nicht von Erkennen.
Wahrnehmen sei von Normen des Erkennens abhängig. Nur das Wahrnehmen vermag zu
erkennen, dass das Erkennen des Lebens als solches selbst nicht die einzige
Wahrnehmungsmöglichkeit der normierten Erkenntnis sei. Sie spreche von
Wahrnehmung, denn ihr gehe es um eine egalitärere Wahrnehmung von Leben, eine,
die weniger den normativen Bedingungen unterliegt und danach fragt, wer zum
»Ich« oder »Wir« gehöre, und wer zum »Anderen«. Außerhalb eines jeweiligen
diskursiven Rahmens gebe es keine Diskussion über Leben und Tod. Deshalb eben
müssten die ontologischen Felder, die an die Normen des Lebens rühren,
mitdiskutiert werden. 8. Jedes normative Ereignis sei durch einen Bruch, einen
Misserfolg, eine Unterlassung erschüttert. Normativität nämlich sei darauf aus,
Lebende und nicht Leben zu produzieren. Normativität sei ein Rahmen, gleich dem
eines Bildes, der etwas in sich trage und dabei immer schon ausschließe. 9. Der
Rahmen lenkt die Interpretation (ðbodies
that matter). Diese Erkenntnis bringt die postkoloniale Differenz-Theoretikern
Trinh T. Minh-ha zur Frage, ob man den Rahmen des Rahmens rahmen kann, bemerkt
Butler. Ein Problem über das sich im Übrigen aber Aristoteles und Platon schon
entzweiten. Immer bleibt etwas außerhalb des Rahmens, etwas, das nie vorher
Innen war, etwas, das nie hätte Innen sein sollen, hören wir sie warm
deduzieren. Ihre Hände dirigieren den Rhythmus ihrer Rede dezent. Diese
Produktion von Drinnen und Draußen aber, so erfahren wir, gleiche der
technischen Reproduktion, die Walter Benjamin für das Kunstwerk im Zeitalter
seiner technischen Reproduzierbarkeit formuliert habe. So situiert sie das
antike Problem im technischen Zeitalter mit seinen medialen Paradigmen neu und
greift im Folgenden auf die für Roland Barthes viel subversiveren Medien als
Kino und Fernsehen zurück: auf die Fotografie und das Gedicht.
b. Framing the War
Butler erörtert die Auswirkungen der Kriegsbilder und der Gefängnispoesie in
Zeiten der Global Coverage. Dem Topos gemäß, stellen Fotografie und Gedicht zwei
unterschiedliche, bis zur Unendlichkeit produzier- und reproduzierbare Phänomene
menschlicher Schaffenskraft dar. Beiden ist gemein, dass sie mit ihrem Kontext
selbst grundsätzlich brechen müssten. Sie müssen den Rahmen, in dem sie
entstehen, verlassen, damit sie wirken (Wir erinnern an die posthum gefundenen
Berichte und Bilder der Sonderkommandos in Auschwitz). Ein zirkulierender
Rahmen, Bedingung des Kriegsbildes oder der Gefängnispoesie, bricht mit dem
Kontext des Krieges. Ihr Zirkulieren ist einzig durch Zensur zerstörbar. Doch
die Kontexte der fotografischen und poetischen Artefakte sind wiederum gerahmt
durch den Text des Krieges. Krieg indes sei inzwischen (inzwischen? Schon seit
der Dolchstoßlegende...) auch ein Medienphänomen geworden. So kann nur ein neuer
Kontext sich vom Krieg selbst abgrenzen. Jedes Mal, wenn die Fotografie
versucht, etwas zu zeigen, bricht das Bild durch die Zirkularität des Artefakts
selbst aus seinem ursprünglichen Rahmen aus. Das ist der selbst-brechende Teil
der Definition, dieser perpetuierende Bruch eignet dem Artefakt und gleicht
darin der zuvor beschriebenen Dopplung des Ich durch die Reflexion bei Hegel.
Die Veröffentlichung der Fotografie, ihre Verbreitung, Dissemination über die
Welt selbst, verschiebt sie von ihrer Ursprungszeit und Ursprungsort weg, sie
ist »hier« und »da« zugleich. Im Gegensatz zur Gefängnis-Poesie Guantanamos,
haben die Bilder von Abu Ghraib das Gefängnis verlassen. Doch befreien konnte
die Fotografie niemanden, indes die allgemeine Empörung gegen den Krieg
vergrößern. Der Rahmen selbst erlaubt den Krieg. Jede veröffentlichte
Kriegsfotografie zeigt ihren Rahmen global. Das Artefakt selbst ist flüchtige
Vergegenwärtigung, eine kurzlebige Zurschaustellung des Rahmens. Kein Wandel
setzt ein, allerhöchsten produziert ein solches Foto neue Rahmen, Gegenrahmen,
wie alternative Medien es sind. Mediale Repräsentationen des Krieges, wie die
der Kriegfotografie, förderten gegenwärtig einzig die Arten und Weisen
militärischen Verhaltens (Wir denken an die toten Kinder auf Digitalfotos, die
im Medienkrieg gleich Bomben auf Israel niederhagelten). Wahrnehmung und Methode
werden hier zu zwei Modalitäten der gleichen Ordnung. Sie produzieren wer Leben
erhält und wer Leben gefährdet.
An dieser Stelle kippt Butlers
Habitus von der Philosophin zur politischen Aktivistin. Sie proklamiert, dass es
die Spalten, Risse (fissures) die aus den Rahmungen entstehen aufzufinden und zu
brechen gilt. Wir erinnern uns, dieser Bewegung schon einmal in ihrem Denken
begegnet zu sein, als es um die Performativität von Geschlecht und Körper ging.
Die Begriffe sind nahezu austauschbar, Butler hat sich schon immer mit Krieg
auseinandergesetzt. Erst der Krieg der Sexualitäten und Körper, jetzt der Krieg
der Bilder und Wörter. Butler fordert, dass es herauszufinden gelte, welche
Leben innerhalb des Rahmens lägen und welche ausgeschlossen würden, weil sie
bedrohlich wirken; welche außerhalb der normativen Definition des Lebens und
welche innerhalb des Rahmens geborgen seien. Denn heutzutage gliche verlorenes
Leben nicht verlorenem Leben. Im Gaza seien ca. 1400 Palästinenser (Zivilisten
und Krieger: Partisanen oder Soldaten?) und 15 israelische Soldaten jüngst
verstorben. Und doch wiege die Wahrnehmung der einzelnen Toten nicht gleich
schwer. Sich diesen Umstand zu gegenwärtigen heißt einen Riss in den Rahmen der
medialen Kriegsführung zu ziehen. Der Prekarität des Lebens gelte es bewusst zu
werden. Die Wahrnehmung der Bedrohtheit menschlichen Lebens dränge zum
universalen Wiedererkennen bedrohten Lebens an sich. Das eigene Leben hängt
immer vom Anderen ab. Immer benötigt es einen anderen, von dem wir annehmen, er
weiß, wer »wir« seien - wer »wir« auch immer sein mögen. »Wir« ist eben ohne die
anderen nicht möglich. Schon der Dichter Rimbaud schrieb an seinen Freund
Izambart »Ich ist ein Anderer«; Jacques Lacan gründete auf dieser Erkenntnis
seine Theorie des Spiegelstadiums.
Ein zweites Mal kehrt Butler zu Hegel zurück: Die Nicht-Kommunalität,
Nicht-Gemeinsamkeit des »wir« muss die Basis der Verpflichtungen werden.
Überleben hänge von dem sozialen Netzwerk der Hände, die einen hielten, ab. Die
Betrauerbarkeit eines Lebens, das matters, das zählt, das in die Zählung der
1400 oder der 15 aufgenommen ist, setze voraus, dass man das Leben als ein
Verlorenes wahrnehmen kann, als ein Leben, das gelebt wurde und betrauert wird.
Erst wenn das Leben als ein verlorenes Leben betrachtet wird, ist es ein Leben,
das betrauert werden kann. Die Frage nach dem Trauern indes bleibt eine Frage
der Macht (Schon die solonische Gesetzgebung Athens bezeugt diesen Umstand: Den
Frauen war das Klagen um die Toten verboten worden, die Mütter wurden
Herrscherinnen des Oikos und aus der Öffentlichkeit der Polis verbannt, wie
Nicole Loraux treffend analysiert). Die Wahrnehmung eines bedrohten Lebens, das
exponiert ist, setzt voraus, dass es zu Beginn ein Nicht-Leben war, außerhalb
des Rahmens existierte, bevor es als »wertvolles«, betrauerbares, eingerahmtes
Leben wahrgenommen wurde. Die Bedrohtheit des lebbaren Lebens bleibt von einem
sozialen Netzwerk abhängig. Es bietet die Bedingung für den Rahmen, der ein
Leben betrauerbar oder nicht betrauerbar werden lässt.
Im Gegensatz zur aktuellen US-amerkanischen und israelischen Politik der
Unterscheidung von betrauer- und nichtbetrauerbaren Leben fordert die
Philosophin die Anerkennung von Leben allgemein, von einem an sich
aufrechtzuerhaltenden Leben, das aber kein monadisches, anthropozentrisches
Individuum sei. Alle Leben sollten als bedroht angesehen werden und die
Verpflichtungen, die daraus erwüchsen, sollten nicht verneint bleiben (eine
fiktionale Utopie
ðparadiesischer
Zustand
ðMonotheismus).
Die Bedrohtheit des Anderen bindet das Ich an den Anderen, den Fremden. Der, den
wir nie kannten, den wir nie gewählt haben, müssten wir als Nächsten
akzeptieren, denn er bezeugt unser Ich. Ein weiteres Mal schleift Butler ihr
Band des Denkens durch die Öse des Hegelschen Bewusstseinsbegriffs geschickt
zurück.
Palästina und Israel seien aneinander gebunden. Sie definierten sich
wechselseitig. Was für Verpflichtungen erwachsen nun daraus? Überleben hängt vom
Leben und Aufrechterhalten von Bedingungen ab. Die Prekarität und die
Bedrohtheit zu denken, eröffnet nach Butler eine neue Form linker Politik; eine
andere Sexual-, Immigrations- und Bevölkerungspolitik; einer Politik, in der der
andere »congrievable« werde, in der man mittrauerte; in der die Prekarität zu
einer geteilten Bedingung würde. Erst die Rahmen machten die Form des Krieges
möglich.
Mit der Metapher des Krankheiten unterworfenen Körpers, seinem subject-to, endet
Butler ihre Ausführungen. Am Körper lässt sich begreifen, dass Leben nur in
seiner Grundsätzlichen sozialen, wechselseitigen Abhängigkeit und
Eingebundenheit möglich ist. - Hobbes und Hegel schon haben dieses Verhältnis
analysiert und begriffen, dass aus diesem Umstand die Formen der Dominierung
resultieren. Eben das zeigen die modernen Kriegsfotografien: Tote Kinder werden
zu Untoten. Einverleibt in das Arsenal des Krieges dienen sie einer verdrehten,
perversen Logik und verstärken die Überzeugung, dass der Andere getötet werden
müsse. Aber als atmende und denkende Tiere, die wir nun seien (wir erinnern uns
wieder an Aristoteles und sein Diktum, der Mensch sei das Tier, das Logos habe),
müssten wir lernen mit denjenigen zu Leben, die wir nie kannten und nie gewählt
haben.
III. Framing the Words of Judy
Wenn Butler uns erklärt, dass es Frames, Rahmen, seien, die die Form des
Krieges ermöglichten, erleben wir eine Wiederholung der alten Diskussion von
Form und Inhalt, differenziert hinsichtlich Strukturalität und Medialität in die
jedes Erkennen und Wissen um ein Ereignis eingebunden ist. Die »frames of war«
sind genauso mächtig, jene Körperlichkeiten ihres früheren Diktums von »bodies
that matter«. Darauf baut das Butlersche System, eine stetig gleiche Bewegung,
der sie sich nicht entziehen kann auf. So sehr sie es sich auch wünschen wollte,
aus diesem Grundproblem in ein anderes überzuwechseln (falls sie das überhaupt)
tut, ihr Denken fällt konsequent in die gleichen Muster der erhellenden
Erkenntnis zurück. Vielleicht ist dies die einzige Bewegung, die Butler in
dieser Gesellschaft möglich ist, ihr Berliner Schlüssel zum Verständnis der
Dinge, der doch, in seiner ständigen Institutionalisierung zwar einerseits ein
Gegenlesen der Ereignisse und Erscheinungen ermöglicht, andererseits aber zu
einem oppositionellen Festschreiben einlädt, der den Ausweg aus den allgemein
anerkannten Problemen genauso schwer macht, wie jeder andere theoretische Weg.
Man möchte ihr glauben, doch jeder philosophische Sonderweg ist eine
Verzweigung, die wieder zurückführt zu ihrer Wurzel aus der sie entsprungen ist:
Hegel produziert Dialektik, konstruktive wie destruktive. So konstatieren wir
eine Kontinuität Butlerschen Denkens - dann wenn wir ganz »hier« und »da« im
Jetzt sind und unsere Augen schließen, können wir heute Abend, im Audixmax der
Freien Universität, bei stickiger Luft und großer Hitze, nach laut geäußertem
Massenunmut und dem Popanz um das Ereignis einer großen Philosophin heraushören,
was uns allen wichtig erscheint: den Willen, die Welt ein Stückerl besser zu
machen.
Butlers Zirkel des Denkens, ein ehrwüridger Versuch, gleicht ausgefeilter
Gedankenakrobatik. Und geschickt wirbelt durch die Luft, was den Gesetzen der
Schwerkraft zufolge doch wieder auf dem Boden landen muss. Judith Butler endet
ihren Vortrag, ihr Manuskript verborgen in einer Mappe, zwischen fragilen Händen
vor den Körper gehalten, verbeugt sie sich vor dem Publikum wie ein
siebenjähriges Wunderkind vor den Mandarinen eines staatlichen Konservatoriums.
Gerührt klatschen wir alle.
Dass wir in unseren Körperlichkeiten atmende, denkende Tiere sind, schließt den
Kreis zur Antike. Ernst blickt sie ins Publikum, Ernsthaftigkeit schwingt in
ihrer Stimme, wir Menschen hätten zu lernen, mit denen zu leben, die wir niemals
vorher gekannt und niemals gewählt haben. Das sei die precariousness (und dem
deutschen Leser soll die Vielfalt dieses Wortes nicht noch einmal vorenthalten
bleiben: Unsicherheit; Unstabilität; Gefährlichkeit; Zweifelhaftigkeit;
Unbewiesenheit; Unbegründetheit) des Anderen, der uns Selbst erst Sein lässt.
Eine Ahnung solchen Umgangs müssten wir alle schon längst haben, denn wir üben
diese Bewegung mit uns selbst unbewusst und seltener bewusst tagtäglich aus. Ein
Zustand, der sich in den industriellen und informationellen Zeiten der totalen
Selbstentfremdung noch verstärkt. An den anderen, wie an das Ich zugleich
gebunden, jenen anderen Unbekannten, Ungewählten, der uns daran erinnert, dass
wir uns selbst nie aussuchen konnten, dass wir nie wissen werden, wer wir sind,
weil dies Wissen ein Werden ist und kein abgeschlossenes Sein, kein Zustand,
sondern Dauer.
Folgen wir den ehrlichen Fußnoten, die Butler während ihres Vortrags macht, so
steht sie in ihrer Lektüre auf den Schultern der Filiation Levinas< Heidegger<
Husserl< Kierkegaard< Schlegel< Hegel. Mit ihrem Verweis auf den talmudische
Denkbewegungen in Philosophie übersetzenden Emmanuel Levinas offenbart sich
Judith Butlers auf Ethik ausgerichtete Philosophie. Wir hören sie aus der
Akzeptanz unaufhebbarer Andersheit des Anderen heraus, die jede geschichtliche
Totalität zersprengt und, noch deutlicher, sehen wir sie in Butlers Skizze des
Antlitz einer Gegenwart, die Totalität der Medienrepräsentation und Totalität
des Krieges kennt, aber keine Totalität von Göttlichkeit erfahrbar werden lässt.
Butlers Anlehnung an Kierkegaard erneuert die Position radikalen
Individualismus', die eine Abwehr des Spekulativen mit sich bringe (das
Spekulative liegt jeder Logik des Krieges zugrunde, aberwitzige Hoffnungen:
»Wenn der Feind besiegt ist, dann...«). Diese Haltung hebt existentielle
Gegensätze im konkreten Individuum in einer »höheren Einheit« auf. Mit
Kierkegaard zweifelt Butler zurecht aber auch an der Ausschließlichkeit der
Selbstreflexion und erklärt das aktive Handeln auf der Stufe des Ethischen zum
konkreten Ziel: die Wahl seiner Selbst ermöglicht die Freiheit. Wie Kierkegaard
lehnt sie den Zwiespalt zwischen Endlichem und Unendlichem durch eine
teleologische Lösung desselben in der Transzendenz zum Unendlichen hin ab. Die
»Synthese« des Zwiespalts bleibt für sie ein Paradox, eine bleibende Aufgabe,
des menschlichen Sich-Verhaltens zum Unendlichen, zu dem was außerhalb des
Rahmens ist und sich dem Rahmen notwendig entzieht. Es ist ein Paradox, das sie
der Bestimmung des Menschen zugrundelegt.
Judith Butler ist zu danken, dass sie, gleich der verstorbenen Susan Sontag, die
Brücke des Denkens aus Amerika nach Europa schlägt. Eine erstaunliche Brücke,
die um einiges stabiler und fester gebaut ist, als die vielen hochaktuellen,
exklusiven und exzellenten Brücken jener Cooperations, die in den vielen kleinen
Clusters der Universitäten Mitteleuropas verzweifelt gebaut werden. Es mag sein,
dass es von Moral und Ethik her kommend leichter ist, Haus und Fundament
westlichen Denkens zu betrachten, als von der kontinentalen Position aus wild
nach Ethik zu suchen. Im Gegensatz zu Butler scheut man sich in der Mitte
Europas oft angsterfüllt, das eigene Haus des Denkens und sein Fundament neu zu
lesen.
Judith Butler hat in ihrem Vortrag bewiesen, eine strenge und treue Schülerin
Hegels zu sein. Zweierlei aber stimmt nachdenklich: das Mantra des Vortrags
beschwört die totale Abhängigkeit des Ich vom Anderen und die Hoffnung auf
Erlösung aller im Jetzt, beides beruhend auf dem von Sterben und Krankheit
bedingten Körper des Menschen. Wenn Butler erörtert, dass die
Nicht-Allgemeinheit (noncommonalty) (oder meinte sie Nicht-Gemeinsamkeitsgrad (noncommunality)?,
(à Fehler des Hörens, semantische Vielfalt, différance) des »Wir« als Gegensatz
zu den »Anderen« die Basis von Verpflichtungen sein muss, wenn sie davon
spricht, dass das Überleben durch ein soziales Netzwerk von Händen getragen ist,
spüren wir die Einsamkeit des Menschen im Angesicht des Todes. Betrauerbarkeit
ist die Vorsaussetzung für Leben von Bedeutung (life that matters) - und es ist
zentral, dass die englische Wendung »that matters« den Begriff »Materie« in sich
trägt. Hier klafft der Riss zwischen kontinentaler und anglosaxonischer
Hegel-Philosophie wohl am weitesten, da fügt sich die Grenze von Materialität
und Bedeutung, von Signifikant und Signifikat in der unifizierenden Tendenz der
englischen Sprache synthetisch zusammen, wo sie im Deutschen oder Französischen
getrennt bleiben muss.
Ein Verdacht drängt sich leise voll Mitgefühl auf: Wessen Einsamkeit fragt man
hier, gilt es noch zu betrauern? Vielleicht auch die der Autorin? Zählt es
nicht, wenn ein Mensch die Fünfzig überschritten hat? Kann es sein, dass, auf
dem Höhepunkt ihrer wissenschaftlichen Karriere die arrivierte Philosophin jenen
Augenblick gewahrt, den Roland Barthes als die »Mitte des Lebens« bezeichnete:
das Gewahrwerden der eigenen Sterblichkeit; und Trauer verspürt? Roland Barthes
schreibt: »Sterblich zu sein ist keine ‚natürliche' Empfindung (weshalb so viele
Leute gegen einen Baum fahren, weil sie von ihrer Unsterblichkeit überzeugt
sind)... Die Mitte meines Lebens ist nichts anderes als der Moment, in dem man
entdeckt, dass der Tod wirklich ist.« Proust suchte daraufhin manisch die
verlorene Zeit im Schreiben zu finden.
In der Massenunruhe vor Butlers Vortrag trat neben freudiger Lust an Aufruhr und
Protest, an einem deutschen Saalverhalten mit Tradition, das die Nazis schon
leider auszunutzen wussten, auch Positives zu Tage. Denn diese jungen Menschen
sehnen sich danach, Butler zu verstehen. Und auch wenn sie im Rausgehen in
Trauben leis' tuscheln, dass sie das »Guantanamo- und Abu-Ghraib-Gelaber«
Butlers nicht »gerafft« hätten, waren sie alle da gewesen. Sie zeigten
Anteilnahme, sie wollten verstehen. Dass sie Butler nicht mehr folgen konnten,
liegt an der Bildung, die sie genossen haben und genießen, eine Bildung, die
geisteswissenschaftliche Bewegungen der Hermeneutik in einem blindwütigen Reflex
zugunsten empirizistischer Rationalität zerstört; einer törichten Technokratie,
die den Quell kontinentaleuropäischer Kreativität tumb erstickt. Und Teil dieses
Zerstörungs- und Gleichschaltungsprogramms war auch die Zurückweisung des
Vorschlags der Philosophin, ihren Vortrag auf Deutsch zu halten. Hätte Butler
unhöflich sein können, dann wären den Zuhörern vielleicht schneller Konsequenzen
eines von Materialität und Konstruktion geprägten philosophischen Denkens in
aktueller Politik klar geworden, ein Übersetzungsprozess wäre in Gang gekommen,
und nicht zuletzt, sondern zuerst hätte eine konstruktive Diskussion die über-
und überfüllte U1 für die nächste Stunde von Dahlem Dorf bis nach
Friedrichshain, vom reichen Westen bis zum prekären Osten der Stadt Berlin
bevölkert. Anne Dippel
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Die amerikanische Philosophin
Judith Butler hielt die diesjährige Hegel-Lecture am Dahlem
Humanities Center (DHC) der Freien Universität Berlin.
Der Titel ihres Vortrags vom 3. Februar 2009 lautete: »Frames of
War«.
Judith Butler ist Professorin für Rhetorik und Vergleichende
Literaturwissenschaft an der University of California, Berkeley.
Der Essay als pdf-Datei
Aktuell:
Judith Butler
Die Macht der
Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen
Aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann und Martin Stempfhuber
Suhrkamp
Erschienen: 09.03.2009
414 Seiten, Gebunden
Euro 24,80 [D]/Euro 25,50 [A]/sFr 42.50
ISBN 978-3-518-58505-4
Leseprobe
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