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Negative
Aufklärung
Der
britische Philosoph John Gray macht der Politischen Theologie der Menschenrechte
den Prozess. Er vergisst dabei aber zu erwähnen, woher sie kommen.
Von Rudolf Maresch
John
Grays „Politik der Apokalypse“ (Klett-Cotta 2009) kommt weder zu „knapp“ noch zu
„spät“. Hier irrt der Berichterstatter der Zeitung Die Welt (Ist
ja doch alles Religion). Der Säkularismus hat
weder gesiegt noch ist er vollendet. Hier irrten auch Max Weber und Hans
Blumenberg, die ein solches Projekt für möglich und wünschenswert gehalten
haben. Längst ahnen wir, dass seine Ära in der Vergangenheit liegt, und nicht in
der Zukunft.
»Jeder Versuch, die Erlösung
ohne Verwandlung der messianischen Idee auf der Ebene der Geschichte zustande zu
bringen, führt direkt in den Abgrund« (Jacob
Taubes)
»Es lohnt sich, für unsere
Werte zu kämpfen« (Tony Blair)
Immer anfällig
Schon die
nächste größere soziale Verwerfung, ein katastrophisches Geschehen oder ein als
traumatisch empfundenes Ereignis wie das vom elften September werden
Gemeinschaften, Staaten oder sogar Weltmächte für politische Theologien und „millenarische
Regime“, Führer oder Lösungen anfällig machen. Auch, weil die annoncierten
Kämpfe um Rohstoffe, Energie und Klima das Gewaltpotenzial, das Glauben oder
Religion in sich bergen, eher anheizen als dämpfen werden.
Gewiss haben George W. Bush und einige seiner
neokonservativen Stichwortgeber abgedankt, die die liberale Demokratie zunächst
in den Mittleren Osten und von da in die ganze Welt exportieren wollten. Und der
Irak scheint allen Unkenrufen zum Trotz weder auseinanderzubrechen noch zu jenem
Sumpf zu werden, in dem die Weltmacht alle ihre Werte und Ideale versenkt.
Selbst Zbigniew Brzezinski zählt das Zweistromland mittlerweile nicht mehr zu
den drei größten militärischen Herausforderungen, denen die Nochsupermacht
gegenübersteht (From
Hope to Audacity).
Dass ausgerechnet mit dem Charismatiker Barack Obama ein politischer Realismus
ins Weiße Haus wieder eingekehrt ist, ist aber alles andere als ein Gegenbeweis
oder gar Widerspruch dazu. Zu groß und zu tief verankert ist der Glaube der
US-Amerikaner an die herausragende Rolle und Mission ihres Volkes, das einzige
wahrhaft revolutionäre Land zu sein, das ein Bollwerk gegen das Reich des
Antichristen errichten kann und die Menschheit von allen Übeln der Welt rettet,
erlöst und befreit (Macht
und Mission).
Weltkerker
sprengen
Freilich ist die
Präsidentschaft Bush, die Irak-Kampagne und der Neokonservatismus nur einer von
diversen anderen Bezugspunkten, denen John Gray eine „Politik der Apokalypse“
attestiert. Andere waren der Sowjetkommunismus und der Nationalsozialismus, die
sich auf „wissenschaftliche Erkenntnisse“ berufen haben, auf den „historischen
Materialismus“ oder eine „wissenschaftliche Rassenlehre“. Oder auch die
Aufklärung und der Humanismus mit ihren überaus „kühnen Fortschrittsidealen“ von
Rationalität, individueller Freiheit und Selbstbestimmung, sowie der
Neoliberalismus mit seinem Vertrauen auf die Wohltaten eines grenzenlos freien
Marktes, zu deren Ausprägungen Gray sowohl den Thatcherismus als auch Tony
Blairs „dritten Weg“ rechnet.
In allen diesen jüngeren
Projekten zur „Menschheitsbeglückung“ entdeckt der jüngst emeritierte britische
Philosoph der London School of Economics eine „religiös-apokalyptische“
Unterfütterung, weil diese auf einem „Glaubenssystem“ beruhten, die zwar im
„säkularen“ Gewand auftraten und sich scheinbar gegen religiösen Ideen sperrten,
in Wirklichkeit aber von „religiösen Mythen“ getragen waren oder sind.
„Die
Frage nach der Freiheit“, schreibt Jacob Taubes in seinem geschichtlichen Abriss
„abendländischer Eschatologie“ (Matthes & Seitz 2007), einem immer noch
unterschätzten Standardwerk, das bereits 1947, kurz nach Ende von WK II
erschienen ist und das Gray offenbar nicht kennt, „ist das Urthema der
Apokalyptik. Alle ihre Motive weisen auf die Wende hin, in der das Gefüge des
Weltkerkers sich sprengt.“
Apokalyptische Schneise
Manchen Beobachter
wird diese apokalyptische Schneise missfallen, die Gray in die westliche
Ideengeschichte schlägt, zumal der Philosoph vor dreißig Jahren noch selbst die
britische Premierministerin beraten hat, ehe er um die Jahrtausendwende dann die
Pferde gewechselt und sich zum neoliberalistischen Kritiker gemausert hat (Die falsche Verheißung, Alexander Fest 1999). Und ihm dürfte
auch missfallen, dass Gray keinen scharfen Trennungsstrich zieht zwischen dem
aufklärerischen Fortschrittsglauben à la Kant oder Habermas und apokalyptischen
Heilslehren eines George Orwell oder Francis Fukuyama.
Für Gray ist es nämlich einerlei, ob ein politisch-geschichtliches Projekt die
Verbesserung der Welt anstrebt oder deren Vernichtung im Auge hat. Denn im
zerstörenden Element scheint auch für ihn immer wieder auch der „Neue Bund“
durch, der danach geschlossen werden soll und muss. Wäre es anders, versänke die
Revolution unvermeidlich im „leeren Nichts“. Darum kann er das politische Denken
und Handeln Mahmud Ahmadinedschads und George W. Bushs als auch das der
Revolutionäre oder liberal denkenden Humanisten als „säkularisierte Spielarten“
ausweisen, die von „religiösen Überzeugungen“ befeuert werden.
Aufs Ende hin
Eine solche
eher grobschlächtige als differenzierte Sicht auf die Welt der politischen Ideen
hat natürlich Gründe. Gray interessieren mehr die Gemeinsamkeiten
„utopisch-apokalyptischer Projekte“ als deren Unterschiede. Nimmt man den Preis,
den der Ideenhistoriker für eine derart Epochen übergreifende Studie zahlt, in
Kauf, dann purzeln nicht nur Unterschiede und Gegensätze, die so mancher für
„unvereinbar“ hält und kritisiert, beispielsweise der zwischen Sowjetkommunismus
und Nationalsozialismus oder der zwischen „säkularer Aufklärung“ und
„evangelikalen Messianismus“. Dann lässt sich auch eine ebenso breite wie lange
und logisch stringente Entwicklungslinie ziehen, die vom frühen Christentum über
die „radikalen Aufklärer“ und Humanisten bis hin zum US-amerikanischen
Neokonservatismus führt.
Für den britischen Philosophen setzt sich mit den christlichen Sekten und
Märtyrern der Gedanke durch, dass die Geschichte der Menschheit ein auf ein Ende
hin gedachtes Geschehen sei. Im „Eschaton“, erfahren wir bei Jacob Taubes,
„übersteigt die Geschichte ihre Grenze und wird selbst sichtbar.“ Es waren
zunächst die Chiliasten, die diese Erwartung auf ein baldiges Ende hegten und
sich einem apokalyptischen Geschichtsbild hingaben. Im Mittelalter wird dieser
teleologische Heilsglaube von den Millenaristen, Wiedertäufern und Puritanern,
weitergetragen, bis er sich schließlich in Form des säkularen Utopismus und des
blinden Fortschrittsglaubens zum, wie Gray meint, „Geburtsfehler“ der westlichen
Zivilisation überhaupt entwickelt.
Besserer Mensch
Denn mit dem
Transfer der Idee von der „innerweltlichen Erlösung“ auf Politik und
Gesellschaft beginnt für den britischen Philosophen nicht nur das neuzeitliche
Drama, das er in den vermeintlich so unterschiedlichen Ideenlehren
wiederzufinden glaubt: die Rolle des Glaubens in und für die Politik. Sondern es
setzt sich allmählich auch die blutige Vorstellung durch, die Menschen könnten
mithilfe von Gewalt, Bomben und Terror eine harmonischere, universellen
Menschenrechtsprinzipien folgende Welt hervorbringen.
Glaubten die Christen, dass Rettung und Heil erst nach dem Tod in einer
jenseitigen Welt auf sie warteten, versprachen die politischen Religionen der
Moderne, dass die Erlösung von allen Widrigkeiten schon auf Erden und in naher
Zukunft stattfinden würde. So nimmt es nicht wunder, dass totalitäre Bewegungen
einige dieser kühnen Vorstellungen der Aufklärung, wie etwa die Idee vom
„sozialistischen“ oder „arischen“ Menschen, mit inhumanen Mitteln ins Werk
setzen.
Die Umdeutung gewaltsamer Konflikte in „humanitäre Interventionen“, fällt mithin
nicht vom Himmel. Und eine neue Form vom Imperialismus, der sich auf universelle
Geltungsansprüche beruft, ebenso wenig. Sie sind fortan auch dazu da, Krieg,
Erpressung und Besetzung als moralisch oder gerecht zu legitimieren.
Alter Wein
Für den
angelsächsischen Leser dürfte Grays Buch, das bereits 2007, auf dem Höhepunkt
der Irak-Krise erschienen ist, durchaus neue Einsichten beinhalten. Norman Cohns
Werk „Die Sehnsucht nach dem Millenium“, worin dieser die
religiös-apokalyptischen Ursprünge revolutionärer Bewegungen untersucht hat, ist
mittlerweile fünfzig Jahre alt. Und Cohns jüngstes Werk: „Die Erwartung der
Endzeit“ bietet keine großartig neuen Einsichten.
Für
den deutschen Leser dürften seine Thesen hingegen nur neuen Wein in alte
Schläuche gießen (Politische
Theologie der Menschenrechte. Sie bekräftigen,
was hierzulande schon Jacob Taubes und Walter Benjamin, die Dialektiker der
Aufklärung und Carl Schmitt vor, während und nach WK II behauptet und mit guten
Gründen aufgeschrieben haben.
Beispielsweise, dass mit
der Säkularisierung um 1500 kein radikaler Bruch und Neuanfang in der
Ideengeschichte verbunden war, sondern allenfalls eine Umbesetzung oder ein
Austausch der Begriffe stattgefunden hat. Oder dass die Aufklärung nicht nur
jederzeit in Barbarei umschlagen kann, sondern ihr schon von Beginn an oder von
Grund auf eingeschrieben war und ist.
Nachholende Debatte
In vielerlei Hinsicht mutet Grays Essay wie eine
nachholende Debatte an, die bereits in den Achtzigern zu heftigen
intellektuellen Gefechten zwischen Modernen und Postmodernen,
Linksintellektualismus und Jungkonservativismus, Habermasianern und
Foucaultisten geführt haben. Sie entzündete sich seinerzeit, als viele die
atomare Verlichtung oder Verseuchung fürchteten und gegen AKWs und die
Stationierung neuer Mittelstreckenraketen auf die Straße gingen, an der Frage,
wie man sich zu Fortschritt und Vernunft richtig zu verhalten habe, ob die
Moderne der Menschheit ein Schrecken mit (Auslöschung) oder ohne Ende (Posthistoire)
bereite oder doch, wenn sie sich auf ihre Vernunft berufe, jederzeit in der Lage
sei, ihre Selbstverständigungskräfte zu stimulieren und die Menschen durch eine
„radikalisierte Aufklärung“ (J. Habermas) aus ihrer selbstverschuldeten
Unmündigkeit zu führen.
Mittlerweile glaubt selbst Habermas nicht mehr an die uneingeschränkte Macht der
Vernunft, sich als Äquivalent für die vereinigende Macht der Religion zur
Geltung zu bringen. Auch er will in der Religion jenen metaphysischen
Jungbrunnen entdecken, aus dem liberale Gesellschaften ihr universelles und
normatives Potential schöpfen, um ihre Motive und Überzeugungen gegenüber
autokratischen oder illiberalen Systemen zu legitimieren.
Und auch der kanadische Philosoph Charles Taylor, der gerade ein monumentales
Werk zur Geschichte des „säkularen Zeitalters“ vorgelegt hat,
hält eine Vorstellung, die davon ausgeht, dass das
Individuum den Sinn seines Lebens ohne Religion findet, für pure Illusion. Die
Säkularisierung, so seine Behauptung, sei selbst ein Produkt der Religion und
verdanke sich einer doppelten Weltbildrevolution, der Entzauberung archaischer
Weltbilder sowie der Austreibung heidnischer Kulte durch eine, von
Selbstdisziplin (M. Foucault) motivierte „innerweltliche Askese“ (M. Weber).
Kulturclash droht
Mittlerweile ist diese
nachholende Debatte auf den islamistischen Fundamentalismus übergeschwappt und
hat auch die deutschen Feuilletons in den letzten Wochen erfasst und belagert.
Es wird gefragt, wie sich die Aufklärung zu den politischen Herausforderungen
des Islamismus verhalten soll, tolerant oder kantig (The
Islam in Europe).
Eröffnet hatte sie der britische Publizist Timothy Garton Ash. In
einem Artikel für die „New York Review of Books“ hatte er die niederländische,
inzwischen in den USA lebende islamische Frauenrechtlerin Ayaan Hirsli Ali wegen
ihres anti-islamistischen Kampfes zunächst als eine „Fundamentalistin der
Aufklärung“ (Islam
in Europe)
bezeichnet, die dem islamistischen in nichts nachstünde. Später hatte er in
einer Fußnote davon wieder Abstand genommen, weil sie möglicherweise zu
politischen Missverständnissen führe. Mit „Fundamentalisten“ würde häufig, so
Ash, auch der Begriff des „Terroristen“ konnotiert.
John Gray wiederum hatte diese Rücknahme im „New Statesman“
(Facts
Are Subversive) kritisiert
und moniert, dass solche Umdeutungen nichts an der
Faktenlage änderten. Solange der Westen mit demselben universalistischen Pathos
und Gehabe auftrete wie Frau Ali, marschierte er „unweigerlich“ auf einen Clash
of Civilizations zu. Die Gefahr dafür, so Gray, sei „durchaus real.“
Halbierte Aufklärung
Thierry Chervel, Gründer
des
Perlentauchers
und einer der Anstifter dieser Debatte, sah sich darauf genötigt, Ash zur Seite
zu springen
(Wunschtraum
eines Apokalyptikers).
Nichts in den westlichen Reaktionen auf den islamistischen Anspruch deute auf
fundamentalistische Einstellungen hin. Ihre Prinzipien seien vielmehr gegen jede
Art fundamentalen Glaubens gerichtet. Einen „Fundamentalismus der Aufklärung“
könne es mithin gar nicht geben. Im Selbstbezug habe sich der neuzeitliche
Mensch von den Dogmen der Kirche und der Religion gelöst und sich aus den Klauen
einer „Priesterkaste“ schließlich befreit.
Auch
stünden die „westlichen Werte“ nicht im Gegensatz zu denen des Islam. Vielmehr
ermöglichten sie eine friedliche „Koexistenz der Religionen“. Genau diese
Freiheit sei es, die den Hass der Islamisten hervorrufe. In Wirklichkeit gehe es
aber gar nicht um Religion, sondern um die Verfügungsgewalt über Personen, deren
sichtbarstes Zeichen das Kopftuch der Frau sei – auch oder gerade dann, wenn sie
es freiwillig tut.
Grays Buch gelesen scheint
der „Perlentaucher“ Chervel aber nicht zu haben. Darin ist nämlich ausdrücklich
von der Hoffnung auf ein friedlich-schiedliches Auskommen der Religionen die
Rede. Die Regierungen müssten daher Strukturen schaffen, in denen ein
Nebeneinander unterschiedlicher Religionen möglich werde. Solche Maßnahmen
änderten aber nichts daran, dass das Theologische auch weiterhin ein
gefährliches Minenfeld bleibe, das von politisch explosiven Begriffen getragen
werde, die sich auch durch Verweis auf andere Phänomene, auf soziale,
ökonomische oder technische, nicht einfach wegkommunizieren ließen.
Israel, nicht Rom
Freilich
enthält John Grays Essay einen historisch wie diskurspolitisch eklatanten
Fehler. Der historische Ort revolutionärer Apokalyptik ist, auch das kann man
dem Buch von Jacob Taubes entnehmen, nicht Rom, sondern Israel. Das Volk Israel
ist „das unruhige Element in der Weltgeschichte, der Gärungsstoff, der erst
eigentlich Geschichte schafft“, und damit: das Leben in der Zeit.
Erst als das jüdische Volk Ursprung und Verwurzelung im Raum verliert und zum
„Volk ohne Raum“ wird, gerinnt Geschichte zum Heilsgeschehen. „Im Einst der
Schöpfung hat die Geschichte ihren Anfang, und im Einst der Erlösung kommt sie
zu ihrem Ende“. Was zwischen Anfang und Ende liegt, ist die Zeit. Zeit heißt
Frist, und der Weg dorthin ist dann das Heil. Darum muss jede Form von
Geschichte notwendigerweise „Heilsgeschichte“ sein.
Diese Lage der Juden,
heimatlos, im Exil und in der Diaspora verstreut lebend, ist und war laut Taubes
„das geeignete Klima für das Seelentum der Apokalyptik“. Hier, in der Wüste,
werden durch die Offenbarung Gottes die „messianischen Erwartungen“ geboren, die
Verheißung eines „gelobten Landes“ ebenso wie die Apokalyptik Daniels oder die
des Johannes; hier, in der Verbannung und unter Fremdherrschaft, entsteht die
Vorstellung vom „auserwählten Volk“ und die Hoffnung auf Erlösung; und hier
taucht auch und zum ersten Mal überhaupt die „neue Idee der Nation“ auf, in der
„das Band zwischen Volk und Boden gelöst ist.“
Christliche Umdeutung
Was im
Urchristentum später aus all dem gemacht wurde, war und ist nur Fortschreibung
jener apokalyptischen Erregung, die den jüdischen Messianismus damals ergriffen
hat. Predigte Johannes noch, das Himmelreich als Gericht sei nahe, verhieß
Jesus, das Reich Gottes sei mit ihm gekommen und mit ihm auch das Ende des
römischen Weltreiches. Wer fortan dazugehören wollte und ins versprochene Reich
hinein wollte, der musste sich sputen, er musste umkehren und schnellstmöglich
Christ werden.
Erst von da an wartete die christliche Urgemeinde sehnlichst auf das
Hereinbrechen des Reiches. Und je länger sich das Warten hinzog, desto
ungeduldiger wurden die Wartenden. Die Todesfälle häuften sich und setzten dem
Glauben, aber auch und vor allem den christlichen Gemeinden stark zu. Erst
Paulus öffnete die Sackgasse, in die sich die Urgemeinde selbstredend
hineinmanövriert hatte. Er beschwichtigte nicht nur die Gemeinden, indem er
ihnen verkündete, dass die neue Zeit längst angebrochen sei, er leitete auch die
Wende ein, indem er die messianische Erfahrung „ins Innere“ verlagerte und damit
gleichzeitig die Grundlage für das „Gewissen“ des Abendlandes und die
„innerweltliche Askese“ (M. Weber) des calvinistischen Kapitalismus schaffte.
Dass er damit auch die Kehre von der christlichen Apokalyptik zur christlichen
Gnosis einleitete, die Differenz von Schöpfer- und Erlösergott, sei nur noch der
Vollständigkeit halber am Rande erwähnt.
Ernüchterung kehrt ein
Diese Vorgeschichte
der messianischen Idee unterschlägt der britische Philosoph. Es war Gershom
Scholem, der auf diesen Unterschied zwischen Judentum und Christentum aufmerksam
gemacht hat. Suchten die Christen die Erlösung im geistigen und unsichtbaren
Seelen- und Innenleben, wollten die Juden diese im Bereich der Geschichte und
damit des Öffentlichen vollziehen. Diesen „Rückzug ins Private“ hielt Scholem
für den Versuch, der Verifizierung des messianischen Gedankens auf der Bühne der
Geschichte zu entgehen.
Und es war wiederum Jacob Taubes (Vom Kult zur Kultur, Fink Verlag 2007), der
gegenüber seinem jüdischen Lehrer Scholem behauptete, dass eine derartig „
statische Gegenüberstellung von jüdischen und christlichen
Erlösungsvorstellungen die innere Dynamik der messianischen Idee verdunkele.“
Der Messianismus verlange keinen Aus-, sondern Einstieg in die Geschichte. Er
forme und bündle die antagonistischen Kräfte und setze sie in „revolutionäre
Aktion“ um.
Verinnerlichung kennzeichne nur jene „Krise“, in die das vergebliche Warten auf
die Wiederkunft des Messias die jüdische Welt geführt habe. Nur so lasse sich
die Verlagerung erklären. Die „innere Einkehr“ folge stets, wie später bei Hegel
das „unglückliche Bewusstsein“, jeder messianischen Bewegung, deren Erwartungen
enttäuscht wurden und deren Hoffnungen bitter gescheitert sind.
Hellenistische Firniss
Diese Bedeutung,
den diese spirituelle Energie der Juden für das chiliastische und revolutionäre
Europa der Neuzeit besitzt und später dort mitunter als „jüdische Lehre“ oder
„jüdischer Geist“ heftigst bekämpft wurde, wird sowohl durch die hellenistische
Kultur, in die Jesus hineingeboren wurde, als auch durch die hellenistische
Patina, die sich dank der katholischen Kirche und ihrer päpstlichen
Repräsentanten seitdem über den Messianismus gelegt hat, weitestgehend verdeckt.
Der Hellenismus war, was mitunter aus dem Blickfeld gerät, aber auch Bodensatz
und Vorbild für die millenaristischen Erwartungen der Puritaner in Neu-England.
Nachdem sie sich „nach Massachussets aufgemacht hatten, um ein neues Zion zu
schaffen“, errichteten sie, als Zeichen eines „Neuen Bundes mit Gott“ zuerst
ihre „City Upon a Hill“. Später schrieben die amerikanischen Gründerväter die
Idee von einem „Neuen Jerusalem“ sowohl in die Verfassung als auch in die
Doktrin des manifest destiny, um danach Revolution und Modellgesellschaft
erst nach Europa und dann in die weite Welt zu tragen.
Athen statt Jerusalem
Noch heute werde,
sagte Jacob Taubes 1979 auf dem jüdischen Weltkongress in Jerusalem, „die
politische Realität im Staate Israel durch wilde apokalyptische Fantasien
belastet“. Die Erlösung fände aber nicht auf der Bühne der Geschichte statt.
„Wird die messianische Idee im Judentum nicht verinnerlicht, kann sie die
Landschaft der Erlösung zu einer flammenden Apokalypse verkehren.“
Jenseits dieser latenten Gefahr eines Clashs islamischer und jüdischer
Heilsversprechen, der die Welt in Schutt und Asche versetzen könnte, kaschiert
diese einzigartige Geschichte der „abendländischen Eschatologie“ aber auch,
dass, wie John Gray auch feststellt, „Athen und Jerusalem, der rationale Kosmos
der griechischen Philosophie und die biblische Vision der göttlichen Schöpfung,
nicht in Einklang zu bringen sind.“
Politischer Realismus hilft
Um diese
Differenz zu erfahren und sich mithilfe ihrer gegen apokalyptische Politiken zu
wappnen, muss man nicht unbedingt Friedrich Kittlers auf mehrere Bände angelegte
monumentale Geschichte des antiken Griechenlands zur Hand nehmen, um mit den
dort gepflegten Seinslehren armiert, den Weg über Byzanz zu einem anderen Europa
anzutreten, das im Laufe der Jahrhunderte Zug um Zug in Vergessenheit geraten
ist.
Es reicht möglicherweise auch, sich mit Hilfe John Grays eine gehörige Portion
„politischen Realismus“ einzuverleiben. Der genügt möglicherweise nicht den
allerhöchsten moralischen oder universellen Ansprüchen. Anders als die
Politische Theologie der Menschenrechte nimmt er die realen Gegebenheiten zur
Kenntnis, die Tatsache, dass es Konflikte und Interessensgegensätze unter
Staaten, Völkern und Kulturen gibt, dass Menschen nicht von Natur aus
friedfertig, gütig oder verständig handeln, und dass sie unterschiedliche
Motive, Ideen und Wertvorstellungen haben, wie sie ihr Leben als Einzelner oder
in der Gemeinschaft gestalten wollen.
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