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Nicht erst die tödlichen Schüsse von Sarajewo beendeten das so genannte lange
19. Jahrhundert, sondern bereits die bahnbrechenden Entdeckungen Freuds,
Einsteins und der beiden Curies. Damit ist jedoch nur ein geringer Bruchteil
jener unglaublichen Fülle von schockierenden Neuerungen in Wissenschaft,
Technik, Kunst und Literatur benannt, die innerhalb von nur anderthalb Dekaden
das stolze bürgerliche Zeitalter mit seinen männlichen Gewissheiten zum Wanken
brachte. In beinahe chronologischer Form beschreibt der Historiker Philipp Blom,
wie sich Europa seit dem Jahr 1900 in immer schnelleren Schritten und für die
meisten Zeitgenossen beklemmend wahrnehmbar in eine andere Welt verwandelte.
Jedem Jahr widmet er ein Kapitel und zerlegt damit den allgemeinen Umbruch in
seine unterschiedlichen Facetten. So widmet er das Jahr 1903 den
wissenschaftlichen Entdeckungen, die den tradierten physikalischen Kosmos zum
Einsturz brachten, das Jahr 1905 focuisiert das sich rasch zersetzende
Zarenreich, während das mit „Wagners Wahn“ überschriebene Jahr 1913 das nur
wenig später einsetzende Massenschlachten des Weltkrieges schon „en miniatur“
vorwegnimmt.
Alle diese in
atemberaubender Geschwindigkeit auf die europäische Menschheit hereinbrechenden
Veränderungen betrafen insbesondere das Selbstbild des weißen Mannes.
Unermüdliche, immer präziser arbeitende Maschinen und selbstbewusste Frauen, die
es wagten, aus ihrer gefälligen Rolle als Hausfrau und Mutter auszubrechen,
stellten seine Kraft und seine Dominanz ernsthaft in Frage. Neurasthenie war die
männliche Volkskrankheit der Vorkriegsjahre, ein Gefühl ständiger Nervenschwäche
und hoffnungsloser Überforderung, das heute gern als „Burn-out“ bezeichnet wird.
Nervosität war darum auch das Stigma der Zeit und keineswegs nur auf das
Deutsche Reich beschränkt, wie es einige gängige Buchtitel glauben machen
wollen. Bloms beeindruckende Arbeit lässt den Leser noch einmal nachvollziehen, warum der Kriegsausbruch 1914 von vielen Menschen damals als Befreiung aus einer zunehmend mit Skepsis betrachteten Zukunft empfunden wurde. Zurück zum Ursprung, zum wahren Menschentum, dessen archaischer Opfersinn den schnöden Materialismus überwinden half. Bewährung und Kampf waren die Zauberworte, die eine Renaissance des Männlichen verhießen. Der Krieg war die Domäne des wahren Mannes, dem die zivile Welt seine Würde genommen hatte. Frauen, Juden und Sozialisten hatten darin nichts verloren und nach einem siegreichen Ende sollten die Karten neu gemischt werden. Dass aber auch das gern gepflegte romantische Bild eines von Helden geführten Krieges schon nach den ersten Schlachten auf den Müllhaufen der Ideen geworfen werde musste und in einem totalen Krieg die Frauen, wenn auch noch nicht in die Schützengräben, so doch aber in die Vermittlungszentralen und Werkbänke einrücken würden, ahnten in den euphorischen Augusttagen allerdings noch die wenigsten. Dies jedoch sind bereits Schlussfolgerungen, die Blom, obwohl sie zum Greifen nahe liegen, getrost dem Leser überlassen kann. Auch darin zeigt sich die Klasse seines Buches, das ohne zu übertreiben zu den wohl anregendsten historischen Publikationen dieses Jahres gerechnet werden darf. |
Philipp Blom |
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