Glanz & Elend Magazin für Literatur und Zeitkritik |
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Der vorliegende Band mit dem schönen, allegorischen Titel "Die Zeitwaage" (eine Zeitwaage ist ein Instrument zur Feststellung der Ganggenauigkeit einer Uhr) umfasst dreizehn Erzählungen, die Titelgeschichte findet sich am Ende des Buches. Sie weisen formal kein einheitliches Schema auf. Häufig gibt es einen Ich-Erzähler, der bisweilen durchaus biografische Parallelen mit dem Autor suggeriert (aber manchmal wird dieses übereifrige Germanistensuchen auch auf perfide Art plötzlich, innerhalb der Erzählung, gebrochen) und in der Erzählung "Gavroche", werden Erzähler und Erzählung selber sogar Gegenstand der Erzählung. Und in einigen Geschichten gibt es abweichend einen auktorialen Erzähler. Bis auf die ersten beiden Geschichten "Frank" und "Im Geräusch", die durch die Protagonisten miteinander verbunden sind (sie sind auf Urlaub in den USA), "Turksib" und die "Zeitwaage" (Berlin) kann man als Ort Seilers Heimat Thüringen ausmachen. Und obwohl die Geschichten in der ehemaligen DDR mindestens verwurzelt sind, die Protagonisten ihre Sozialisation dort erfahren haben (zu allerdings unterschiedlichen Zeiten) und es Anspielungen auf Skurrilitäten und Absonderlichkeiten des Systems gibt (diese meist eher mit leichter Hand gezeichnet), ist die "Zeitwaage" kein "DDR-Buch", schon gar kein Bewältigungsbuch. Die Verstörungen und Verletzungen der Figuren sind auf eine fast betörende Art Zeugnis eines aus-der-Welt-gefallen-Seins und besitzen einen hohen Grad an Universalität (die allerdings in keinem Fall mit Beliebigkeit verwechselt werden darf).
Wendepunkte des Lebens In "Der Stotterer" erwächst das Motiv erst im Laufe der Erzählung. Zunächst wird eine Art Garagenmechanikeridylle aufgebaut, in der der Ich-Erzähler und ein "Stotterer" Genannter die Nachmittage und ganze Sonntage (Garagensonntage) nebeneinander verbrachten. Der Stotterer, der, wie ich es empfand, endgültig aus der Gemeinschaft gefallen war, ein ehemaliger Maurer (wie gemunkelt wurde), war ein Mann, der offensichtlich am liebsten allein war und bastelte in einem fort an seinem "Saporoshez" (der Ich-Erzähler, jünger als der Stotterer, am "Shiguli" seines Vaters). Schön, wie es Seiler gelingt, diese Stimmung in der Garage mit wenigen Strichen zu verdichten und dabei die Litanei des Stotterers während des Arbeitens wie einen epischen Gesang wiederbelebt. Dieses getrennte, und doch irgendwie zusammengehörige Werken der beiden Protagonisten. Und obwohl ab und zu der Stotterer aus de[n] Augenwinkeln die Arbeit des Anderen verfolgte und prüfte und Handgriffe…, Haltung, wie ich mit dem Werkzeug umging beobachtete: Es war ein andächtiges Tätigsein - und sofort entsteht der Wunsch beim Lesen: Sollte so nicht unser aller Arbeit sein?
Tanz der Wanderer Lässt er sich beim ersten Mal noch mitziehen von diesem Gehen, so wird von nun an wird dieser Tanz auf dem Nachhauseweg zum festen Ritual. Des Erzählers Wahrnehmung fokussiert sich auf des Stotterers Gang, dem Halten der Zigarette, die Wolkenbildung des Zigarettenrauchs (willig inhaliert er ihn ein und wendet sich dazu je nach Windrichtung). Der frisch ausgestossene Dunst seines Atems schlägt ihm manchmal direkt ins Gesicht. Er ist vollkommen sicher unentdeckt geblieben zu sein, obwohl er ihm manchmal sehr nah kommt (ich hätte meine Wange auf seine Wildlederschulter legen können) und wenn er stehen blieb blieb auch ich stehen. Und einmal hatte sich der Stotterer urplötzlich umgewandt und fast kindlich die Reaktion, in dem der Andere sich geistesgegenwärtig umdrehte und schnell ein paar Schritte in die entgegengesetzte Richtung machte. Jede Bewegung des Vorgehenden wird aufgesogen gefesselt folgt man der Erzählung dieses scheinbar so unspektakulären Ereignisses. Inzwischen war ich mir sicher, daß meine Anhänglichkeit einer verhängnisvollen Sucht entsprang, die bei dieser Gelegenheit erstmals zutage getreten war. Diese Sucht, so der Ich-Erzähler, beweise, dass er nun erwachsen werde. Sie war das Zeichen einer neuen Reife. Auf meinem Weg von der Garage nach Hause entfernte ich mich auf unumkehrbare Weise von dem, was mein bisheriges Leben ausgemacht hatte. […] Im Rücken des Stotterers hatte ich den guten, bitteren Vorgeschmack einer künftigen Zeit auf der Zunge. Und in dem Gewölk aus blauglänzenden Luftmolekülen, in deren Obhut ich mich begeben hatte, oszillierten winzige Momente von Verheißung. Er wurde durch das Schauen zum Erwachsenen, zum "Mann".
Aber
dieser Prozess der Selbstkonstituierung durch den Anderen, der so fremd und doch
so vertraut ist, dauert nur kurz. Das Ende der Erzählung stellt den Stotterer
wieder in den Fokus (soll hier aber nicht verraten werden). Der Leser kann
danach nicht ablassen von diesem seltsamen Paar und die Bilder verfolgen, nein:
begleiten ihn noch lange Zeit und nie wieder wird man an einen Wanderer einfach
vorübergehen, ohne an diese Geschichte zu denken.
Die ephemere Unschuld der Kastanie Oft war die Schale an einer Stelle aufgeplatzt und in dem feuchten Spalt ein frisches, braunglänzendes Auge sichtbar geworden, das ihm aus seiner Unberührtheit entgegensah. Wie ein bleiches Augenlid lag noch etwas Innenhaut über der Frucht. Am Spalt setzte er die Daumen an und drückte die beiden mit Stacheln besetzten Hälften der Schale auseinander. Langsam, behutsam. Er hatte gut darauf zu achten, daß das blanke Auge nicht plötzlich hervorspritzte und in den Dreck fiel. Denn es ging um genau diesen Moment, in dem er der erste war, der die seidigfeuchte, fast etwas fettige Frucht empfing, sie zwischen seinen Fingern gleiten ließ, zum Handteller hin, sie schließlich fest umschloß und presste: Es ging um diese tiefe Befriedigung im Inneren der Faust, ein Gefühl, das ihn mit dem Zentrum seiner Lust verband. Und ab und zu, wenn es ganz bestimmt niemand sehen konnte, steckte er sich eine der braunen Augenperlen in den Mund und schmeckte ihre kaum wahrnehmbare Süße – das Ganze dauerte nur Sekunden, dann war die Kastanie verbraucht, dann war ihre Unschuld verdampft. Dieses Erleben wird nun eines Tages gestört, als neben den Kastanien auch eine Amsel vom Knüppel getroffen auf dem Boden landet. Ihr Körper lag auf der Seite, wie umgekippt. Serkin ist verstört; es dauert, bis er sich entschließt die Amsel aufzunehmen (der Vogel schrie) und ihn unter dem Anorak nach Hause zu bringen. Und jetzt die Überlegungen des offensichtlich jugendlichen Protagonisten, dass seine Eltern ihm Tiere verboten hatten, der Gedanke an die Möglichkeiten, dem Tier zu helfen, die Furcht vor dessen Tod – in Wirklichkeit: die Abhängigkeit von unverhofften Ereignissen, die das Leben durcheinanderbringen und urplötzlich Verantwortung einfordern. Endlich kommt er zu Hause an und legt den kranken Vogel in den Elektroschrank. Und stolz flüsterte er ihm etwas zu wie: "Warte nur kurz, ganz kurz…". Auch hier soll das – kuriose – Ende nicht verraten werden (welches den etwas holperig anmutenden Titel der Erzählung, "Die Schuldamsel", erst verständlich macht und dann noch allegorisch gelesen werden kann).
Vergebliche Suchen
Immer wieder wird dieser ruhige Erzählstrom durch kurze Szenen aus einer
Uhrmacherei oder Werkstatt unterbrochen, die sich zunächst nicht in den
Hauptstrang einordnen lassen. Eines Tages, an einem Freitag im August,
betritt ein Arbeiter, der mit Gleisarbeiten an der Straßenbahn beschäftigt ist,
die (eigentlich geschlossene) "Assel" (ein bisschen verunglückt hier die
Beschreibung des Eintritts: als ginge er über Wasser) und bestellt wie
selbstverständlich ein Frühstück und einen Weinbrand. Dies wiederholt sich und
der Ich-Erzähler ist fasziniert von der Aura dieses Mannes und der heilige[n]
Sphäre der Arbeiterschaft, die er für ihn tatsächlich physisch verkörpert.
Aber am 31. August ist es zu Ende; er machte das letzte Frühstück
für ihn (die Zahl der Weinbrände hatte sich erhöht). In
surreal-expressionistischen Bildern wird nun der Stromschlag, dem der Arbeiter
zum Opfer fällt, erzählt; der Erzähler zitiert hier aus seinen fast
reportagehaften Notizen. Und dann war da diese Uhr des Mannes – er nimmt sie als
Bezahlung für die vielen Frühstücke und lässt sie nun herrichten. Und plötzlich
schließt sich der Kreis zu der Werkstatt und der Leser steht mit seinen
Assoziationen zunächst einmal alleine da, als er im abschließenden Bild den
Ich-Erzähler auf eine Ruine mit Einschusslöchern zugehen sieht. Lutz Seilers Erzählungen unterscheiden sich sowohl von den in den letzten Jahren modern gewordenen Geschichten insbesondere angelsächsischer Autoren, die einfach eine kurze Zeit im Leben einer Person ausrissartig (und sozusagen symbolisch für deren Lebensumstände) erzählen und dann offen enden lassen als auch von der "klassischen" Kurzgeschichte, die er vor allem sprachlich (aber teilweise auch durch die Konstruktion) variiert. Virtuos beherrscht er den genauen Blick, der in eine faszinierende Verdichtung des Augenblicks überführt wird wie auch die Lakonik, die niemals mit falscher Coolness daherkommt und versteht es zwischen diesen Polen oft auf kleinstem Raum stilistisch souverän zu alternieren.
"Die
Zeitwaage" ist Ausweis eines großartigen Erzählers; ein grandioses Buch. Der
Leser blickt immer wieder entzückt, verstört, verzaubert auf und fragt sich am
Ende, wie er es bisher ohne diese Erzählungen ausgehalten hat. Und das ist nur
ein kleines bisschen übertrieben. Lothar Struck |
Lutz Seiler |
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