Vielleicht ist das ja die Strafe, denke ich, dass ich erstmalig einen Buchdiebstal begangen habe auf der Messe. Bisher fragte ich immer höflich, oder man tauschte, oder ich kaufte.
Es gibt ja eh nichts besseres, als Bücher zu kaufen, das ist ein irgendwie zutiefst befriedigender Vorgang, ich erwerbe Geist und Kunst (im vorteilhaftesten Falle), am besten in einem schönen Buchladen wie der Connewitzer Verlagsbuchhandlung, die ja am Freitag auf der Messe mit dem Förderpreis der Kurt-Wolff-Stiftung ausgezeichnet wurde. Von Kurt Wolff stammen übrigens diese schönen Sätze: »Man verlegt entweder Bücher, von denen man meint, die Leute sollen sie lesen, oder Bücher, von denen man meint, die Leute wollen sie lesen. Verleger der zweiten Kategorie, das heißt Verleger, die dem Publikumsgeschmack dienerisch nachlaufen, zählen für uns nicht – nicht wahr?«
Das Buch, das ich auf der Buchmesse geklaut habe, stammt von einem Verlag der ersten Kategorie, nämlich dem Alexander Verlag Berlin.
»Essen auch Sie – fleißig Eis!« Und ich möchte hier an dieser Stelle gleich bekunden: Sollten Sie sich wundern, lieber Alexander Verlag, dass im Regalfach mit dem Frank-Castorf-Gesprächsbuch nun ein Frank-Castorf-Gesprächsbuch fehlt, ich habe es mir geborgt. Ich kam vom Standumtrunk des Verlages Voland & Quist, es war schon gegen 7, die Messehallen leer, und auch die meisten Stände leer. Und am Montag, als Buchmesse-Vorglühen (bloß nicht das Wort Warm-up benutzen, Schriftstellerregel Nr. 9: »Wenn Warm-up, dann Arm-up«), habe ich mir am Münchener Residenztheater Castorfs wunderbares Baal-Gerumpel angeschaut, »Essen auch Sie – fleißig Eis!«, und eigentlich müsste ich noch an den leeren Suhrkamp-Stand, alle Baals klauen, die Seiten rausfetzen und mit Tapetenleim und anderen Zitaten (Zutaten) eine gewaltige Baal-Collage erschaffen, mit Mr. Heino alias LOHENGRIN (ich berichtete in der letzten Ausgabe!) leif on stäge ... Upsala, da bin ich wohl kurz weggenickt im Taxi, kleine Nightmär, »Essen auch Sie – täglich Eis ... Heino, wir fahrn nach Uppsala!«.
Ich werde das Castorf-Gesprächsbuch heute noch nachträglich bezahlen, habe es auch gestern Nacht sofort in der heißen Badewanne gelesen und alle Buchmesse-Partys Buchmesse- Partys sein lassen (man steht rum, trinkt, tratscht und klatscht über den sog. Literaturbetrieb, steht rum, trinkt, guckt rum ... steht rum, trinkt, schreit wie irre rum – weil musi extrem laut, schaut rum, ei gugge mal, der und die ... tschüssikowski, ich bleib heeme). »Identität ist Fiktion.«
Ja. Weil sie was Festes, Starres, Beständiges, Verlässliches suggeriert. Sie suggeriert eine Kraft gegen diese ständige Gefahr, ins Unberechenbare hineingezogen zu werden. Identität ist der Versuch, augenblickliches So-Sein irgendwie zu verewigen. Aber die Verewigung des Augenblicks ist nach Lukács die Todsünde. »Verweile doch, du bist so schön« ist seine Formel für Dekadenz. Es ist die Herausnahme des Augenblicks aus dem Zeitablauf, der doch im wesentlichen Zerstörung bedeutet. Wer mit sich identisch ist, der kann sich einsarge lassen, der existiert nicht mehr, der ist nicht mehr in Bewegung.
Bleiben wir in Bewegung, entwerfen wir etwas Neues, verwerfen wir etwas Neues, zerschneiden wir alles und basteln mit Tapetenleim. Der Untergang und die ewige Wiederkehr der Äkschn-GmbH. Versunkene Kontinente, Moorkultur, die Farben, der Dreißigjährige Krieg, Bodenbearbeitung mittels Sprengstoffen.
Das sind die Titel von kleinen Büchlein aus der Miniatur-Bibliothek, die ich mir gestern auf der Antiquariatsmesse gekauft habe. Die ist gleich neben den Kunstbüchern in Halle 3. Dort gibt’s tolle Sachen. Dort trifft man auch nicht Heino und Steinbrück (den habe ich nämlich auch gesehen, der Promicounter wird auf den Müll gehauen), ich bleib mit Castorf und the Minibooks in der Badewanne, dort kann ich auch den herrlichen vollkommen verrückten Ulrich-Zieger-Roman ›Durchzug eines Regenbandes‹ zu Ende lesen, den muss ich heute Abend moderieren, rein in die Badewanne, raus ausm Taxi, rein ins Taxi, bäck in the Badewanne ... »Essen auch Sie – fleißig Eis!«

Ein vielstimmiger Gesang der Nacht: Prostituierte, Engel und Geschäftsmänner kämpfen um Geld und Macht und ihre Träume. Eine junge Frau steht am Fenster, schaut in den Abendhimmel, im Januar laufen die Geschäfte nicht, die Gedanken tanzen ihn ihrem Kopf. »Der Pferdemann«, der alte Jockey, sucht seine Tochter. »Der Bielefelder« rollt mit neuen Geschäftskonzepten den Markt auf, investiert in Clubs und Eroscenter. »AK 47« liegt angeschossen auf dem Asphalt. Schonungslos und zärtlich schreibt Clemens Meyer in seinem großen Roman von den Menschen, den Nachtgestalten, von ihrem Aufstieg und Fall, vom Schmutz der Straße und dem Fluss des Geldes. Mit großer Kraft und Emotion erzählt er die Geschichte einer Stadt, die zum Epochen-Roman unserer Zeit wird.