vor einiger Zeit sah ich den Episodenfilm ›Deutschland im Herbst‹ zum ersten Mal. Zahlreiche Regisseure wie Rainer Werner Fassbinder, Alexander Kluge, Volker Schlöndorff, Edgar Reitz, aber auch ein Autor wie Heinrich Böll arbeiteten sich in ihren Beiträgen an dem »deutschen Herbst« 1977 ab, als der Manager Hanns Martin Schleyer ermordet, die Lufthansa-Maschine Landshut gekapert wurde und die Köpfe der RAF in Stammheim Selbstmord begingen. Der Film ist für mich der Inbegriff politischer Kunst: die direkte Reaktion auf ein Ereignis, das damals die gesamte BRD beschäftigte und den Staat an den Rand seiner legitimen Möglichkeiten brachte. Künstler, die eine Gegenöffentlichkeit schaffen wollen. Gleichzeitig ist die Liste der am Film Beteiligten bestechend – umso ernüchternder fällt für mich mit dem Abstand von über 37 Jahren der Ertrag aus. Bis auf die Episode Fassbinders, die auch nur deshalb immer noch beeindruckt, weil Fassbinder inzwischen zur Ikone geworden ist und sich buchstäblich völlig selbst entblößt, bis auf diese paar Minuten also sind die anderen Beiträge heute (in meinen Augen) »not watchable«. Es ist also ein doppeltes Scheitern: das Scheitern der politischen Kunst und der kollektiven Arbeit großartiger Künstler. Das ging mir nicht aus den Kopf, und ich fragte mich, warum. Einerseits hatte ich lange eine große Aversion gegen jede Art von politischem Statement in der Kunst; andererseits fand ich das Beglückende am Schreiben im Vergleich zu anderen Künsten ja gerade, dass man endlich einmal auf niemanden Rücksicht nehmen muss und ein bisschen »Master of the Universe« spielen kann.
Ich bin da mittlerweile skeptisch geworden. Warum eigentlich diese Angst vor der gesellschaftspolitischen Macht von Kunst? Weil Aktualität schnell peinlich und anbiedernd wird? Weil das Schöne an Kunst gerade seine Gegenweltlichkeit ist? Weil ›The Circle‹ ein so schlechtes Buch ist? Weil wir Günter Grass mittlerweile als so peinlich empfinden? Aber ab wann ist Kunst überhaupt politisch? Muss es tatsächlich der wirklichkeitsnahe Bezug sein, bei dem man sich dann denkt, eine Reportage wäre effektiver gewesen? Ist nicht ein dystopischer Roman wie ›1984‹ gerade wegen seiner Fabel ein viel wichtigeres politisches Statement als all die wirklichkeitsgesättigten Relevanz-Bücher, die seit einiger Zeit erscheinen? Und gibt es ein erschütternderes Theaterstück als Peter Weiss’ ›Die Ermittlung‹ von 1965, in der nur aus den Protokollen der Auschwitz-Prozesse zitiert wird? Ein Stück, um das ich immer einen großen Bogen machte, weil es ja, total »old school«, »nur« aus Zitaten bestand, bis ich den Film einer Aufführung mit Helene Weigel sah, der mich völlig fertig zurückließ.
Ich würde gerne mit euch diesen Fragen nachgehen. Ich halte den Elfenbeinturm der Kunst für unverzichtbar und überlebensnotwendig. Um jeden Preis muss Phantásien verteidigt werden! Aber ich will auf der anderen Seite auch nicht als Schriftsteller vor einer Wirklichkeit kapitulieren, in der wir letztlich alle ein herrlich saturiertes Leben führen und unsere in China unter dubiosen Umständen zusammengeschraubten Smartphones aus den Taschen unserer von unterbezahlten Minderjährigen genähten Hosen ziehen, um uns mit unseren besten Freunden in dem leckeren neuen Café um die Ecke, das ein paar hundert Meter Luftlinie entfernt von überfüllten Flüchtlingslagern liegt, auf einen Bio-Latte zu verabreden. Und beim Warten blättern wir noch schnell in einer Zeitschrift mit Stills des jüngsten IS-Enthauptungsvideos.
Da muss mehr gehen. Wir wollen doch nicht nur spielen, oder?
Als Ausgangsplot habe ich eine Geschichte ausgewählt, bei der mein Verstand an seine Grenzen kommt. Es ist der Fall der Wiener Teenager Samra und Sabina, beide mit Migrationshintergrund und »normale Mädchen« (will heißen: westlich, dem medial vermittelten Frauenbild völlig entsprechend), die unversehens nach Syrien in den Krieg zogen und seitdem auf Facebook mit Fotos, auf denen sie tief verschleiert sind, Werbung für IS machen. Ihr werdet im Netz darüber, bei Bedarf, zahllose Fotos und Reportagen finden. Material ist also ausreichend vorhanden. Man kann diese Geschichte als Märchen erzählen. Man kann kurze Momentaufnahmen aus verschiedenen Lebensstationen der beiden Mädchen festhalten. Man kann ihre Fotos verschriftlichen. Eigentlich ist also, wie immer in der Literatur, absolut alles möglich. Mich würde aber dabei besonders interessieren: Ist das dann noch politisch? Was soll das überhaupt sein, politisch? Ist es politisch, nur weil es sich um ein brisantes Thema handelt? Oder vielleicht, weil ich als Autor eine spürbare Haltung einnehme? Und warum nehme ich die überhaupt ein? Warum will ich keine Haltung einnehmen?
Zum praktischen Teil. Weil wir hier ein kleines erzählerisches Experiment veranstalten wollen, ist es wichtig, dass es eine vage strukturelle Vorgabe gibt. So können wir konkret vergleichen, wie der/die jeweils andere ein Problem oder nennen wir es die Challenge angegangen ist. Deswegen schlage ich folgende simple, oft bewährte Aristoteles-Gliederung vor:
1. Exposition / zu Hause, unmittelbar vor dem Aufbruch
2. Die ersten Tage in Syrien
3. Ende (fiktiv)
Außerdem wäre es schön (ist aber kein Muss), in den drei Kapiteln nicht nur eine einzige Perspektive einzunehmen. Hier sind Vorschläge für drei Sichtweisen:
Perspektive 1: Samra oder Sabina
Perspektive 2: ein Freund / eine Freundin
Perspektive 3: Medien
Das wird nicht einfach werden, ich weiß. Aber ich glaube auch fest daran, dass wir mit so einem Experiment oder digitalen Labor sowohl in narrativer als auch politischer Hinsicht etwas erreichen können, das mehr sein wird als »nur« ein weiteres Anthologieprojekt.
Noch einmal: Was kann heute der gesellschaftspolitische Beitrag eines Schriftstellers sein? Demonstrieren? Das können auch andere und führt für meinen Geschmack allzu oft zu einer selbstgerechten Bestätigung des eigenen Gutmenschentums. Wir – ihr. Früher mag der gesellschaftliche Status des Schriftstellers ein anderer gewesen sein. Einem Günter Grass verhalf er zu öffentlicher Aufmerksamkeit. Heute erfüllt allenfalls eine Juli Zeh die in meinen Augen fragwürdige und ihr von den Medien zugestandene Rolle der jungen + weiblichen + intelligenten Pseudo-Rebellin. Diese Leerstelle könnte in ihrer Funktion aber mittlerweile auch von vielen anderen Personen gefüllt werden. Was jedoch sonst keiner kann, ist, sich bis zur Identität einzufühlen. Ist das nicht die Gabe und eben auch Auf-gabe des Schriftstellers, die Empathie?
Natürlich sind wird alle gegen IS. Es ist unmöglich, das nicht zu sein. Insofern wäre es unfassbar langweilig und moralisierend vorhersehbar, einen Text mit dieser Stoßrichtung zu schreiben. Aber wie man es dreht und wendet: All diese finsteren bärtigen und vollverschleierten Gestalten sind immer noch Menschen. Das heißt es gibt da gewisse Schnittmengen mit mir und dir. Ob uns das passt oder nicht. Wo ist aber der Punkt, wo die Abweichung von dem, was wir als »gut« bezeichnen, stattfindet? Ab wann wird es »böse«? Hinzu kommt eine mediale Ebene der Propaganda, die viel größer ist als »nur« IS. IS führt doch nur vor Augen, wie perfekt Facebook und andere soziale Medien Ideologien bedienen können. Und wie fragwürdig dadurch auch unsere Sicht ist, dass wir »die Guten« seien. Man kann das also alles auch gegen unser System wenden, ohne dabei IS gut zu finden. Es wird nicht gelingen, diese Bewegung oder Pegida-was-auch-immer-Gruppen aufzulösen, wenn man sich nicht in die Beteiligten und die, die man da so »unmöglich« findet, versetzen will. Denn sie sind möglich. Sie existieren. Und der Stoff, mit dem wir Schriftsteller hantieren, ist das (Alles-)Mögliche.
Herzliche Grüße
Thomas