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Neuerscheinungen anlässlich des 100. Geburtstags von Paul Celan
Im Besatzungszeitthriller Internationale Zone (1953) von Milo Dor und Reinhard Federmann findet sich die Beschreibung einer Figur, die als Hommage an den Lyriker Paul Celan und seinen kurzen, aber prägenden Aufenthalt in Wien gelesen werden kann:
"Petre Margul, Flüchtling, Journalist und Dichter, strolchte verloren über die abendliche Ringstraße. […] Ein Hauch von der kindlichen Freude des Schulschlusses flog über die Gehsteige. Es war das wiedergewonnene Leben nach einem heißen Tag; ein Leben, das Petre Margul nichts anging. Er war hungrig und verzweifelt. Die letzte Dollarreserve, die er unter Lebensgefahr auf der Flucht aus Rumänien herübergeschmuggelt hatte, war vor drei Tagen zu Ende gegangen. Seitdem hatte er in der Pension, in der er wohnte, nur mehr gefrühstückt. Aber morgen musste er zahlen."
Celan, der im Winter 1947 nach Wien kam, hatte Bukarest, wo er als Lektor und Übersetzer gearbeitet hatte, aufgrund der kommunistischen Machtübernahme verlassen und knüpfte im Wien des "Dritten Mannes" mit seinen Bekanntschaften zu u. a. Dor und Federmann, aber auch Otto Basil, Klaus und Nani Demus sowie Ingeborg Bachmann erste Kontakte zum österreichischen Kultur- und Literaturbetrieb. Im Juli 1948 ging Celan dann nach Paris, wo er, abgesehen von Lesereisen nach Deutschland und Israel, bis 1970 leben sollte.
In den Zeitschriftenbeständen der Dokumentationsstelle finden sich Celans frühe Veröffentlichungen im Umkreis österreichischer Literaturzeitschriften der Nachkriegszeit, darunter in Otto Basils "PLAN", "Alpha" von Kurt Klinger und Hanns Weissenborn sowie den "Surrealistischen Publikationen" von Max Hölzer. Darüber hinaus verfügt die Bibliothek der Doku über 700 Bände Primär- und Sekundärliteratur von, über bzw. mit Bezug zu Paul Celan, darunter nicht nur die großen Ausgaben der Werke wie die "Tübinger Ausgabe" und die "Bonner Ausgabe", sondern auch zahlreiche Ausstellungskataloge. In der Zeitungsausschnittsammlung finden sich 37 Mappen zur Rezeption seiner Werke und Würdigungen der Person bis hin zur Wirkungsgeschichte; das digitale Zeitungsausschnittsarchiv versammelt noch einmal über 600 Artikel. Nicht nur die Sammlungen der Doku, sondern auch die zahlreichen Neuerscheinungen laden dazu ein, das Werk Paul Celans wieder zu lesen.
Als Leserin bzw. Leser kann man dabei jenem Diktum folgen, das Celan seinem Biografen Israel Chalfen angesichts der Hermetik seiner Lyrik mit auf den Weg gegeben hat: "Lesen Sie! Immerzu nur lesen, das Verständnis kommt von selbst." Unter den zahlreichen Neuerscheinungen anlässlich seines 100. Geburtstags am 23. November bzw. seines 50. Todestags am 28. April erfolgte der Auftakt dieses Jubiläums bereits Ende letzten Jahres mit einer Auswahl aus Celans umfangreichen Korrespondenzen, die unter dem Titel
"etwas ganz und gar Persönliches". Briefe 1934-1970. Hrsg. v. Barbara Wiedemann. Berlin: Suhrkamp, 2019. 1286 S.; geb.; EUR 80,20 (A)
erschienen sind. In diesem von der Celan-Spezialistin Barbara Wiedemann herausgegeben, ausgewählten und kommentierten Briefband kann Celans "anderes" eminentes Werk in Form von Korrespondenzen nachgelesen werden. In den teilweise erstmals publizierten 691 Briefen, die der Band versammelt, werden zahlreiche die Biografie des Büchner-Preisträgers Celan, aber auch das Werk betreffende persönliche Details und Kontexte dokumentiert und fachkundig kommentiert.
Wolfgang Emmerich
Nahe Fremde. Paul Celan und die Deutschen. Göttingen: Wallstein, 2020. 400 S.; geb; EUR 26,80 (A)
Wolfgang Emmerich liefert in seinem Buch Bausteine zu einer Celan-Biografie, ebenso analysiert er das Werk hinsichtlich intertextueller und gesellschaftspolitischer Hintergründe. Insbesondere die problematische, aber vielschichtige Beziehung Celans zur deutschen Sprache, dem "deutschen (Un-)Geist" und dem westdeutschen Literaturbetrieb wird fokussiert, wobei die damit verbundene Geschichte der Kränkungen, die Celan, u. a. bei seiner Lesung vor der "Gruppe 47" und in der sogenannten "Goll-Affäre" erfahren musste, zur Sprache kommen.
Helmut Böttiger
Celans Zerrissenheit. Ein jüdischer Dichter und der deutsche Geist. Berlin: Galiani, 2020. 208 S.; geb.; EUR 20,60 (A)
Auf das schwierige Verhältnis Celans zur Mutter- und "Mördersprache" Deutsch, seinem Verhältnis zur deutschen Geistesgeschichte und den Beziehungen zum westdeutschen Literaturbetrieb geht auch Helmut Böttiger in seiner Studie ein. Böttiger hinterfragt kritisch einzementierte Klischees, welche die Stilisierung der Person und das Werk des Dichters betreffen, ebenso wie jene Kanonisierungsmechanismen, die hinsichtlich der Todesfuge wirksam wurden.
Hans-Peter Kunisch
Todtnauberg. Die Geschichte von Paul Celan, Martin Heidegger und ihrer unmöglichen Begegnung. München: dtv, 2020. 352 S.; geb.; EUR 24,70 (A)
berichtet von den drei einzigartigen und rätselhaften Begegnungen, deren erste im Juli 1967 nach einer Lesung an der Universität Freiburg erfolgte, zwischen Paul Celan und dem Philosophen Martin Heidegger in dessen Hütte in Todtnauberg im Schwarzwald. Kunisch zeichnet das Spannungsfeld zwischem dem deutschen, antisemitischen "Meisterdenker" und dem Mahner gegen das Verdrängen und Vergessen nach, bezieht sich dabei nicht nur auf bereits publiziertes Material, sondern befragte auch Zeitzeugen und bislang unbekannte Quellen.
Thomas Sparr
Todesfuge. Biographie eines Gedichts. Paul Celan 1920-1970. Mit zahlreichen Abbildungen und Faksimiles. München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2020. 336 S.; geb.; EUR 22,70 (A)
Der Entstehung, Rezeption und den Spuren im deutschsprachigen und internationalen Raum von Celans berühmtesten Gedicht Todesfuge, das unmittelbar unter dem Eindruck der Ermordung seiner Eltern entstand, folgt Thomas Sparr. Anhand von Städtenamen und Jahreszahlen, die implizit Celans Poetik berühren, berichtet er von deren Übersetzung, Fort- und Überschreibung in bildender Kunst und Literatur seit den 1950er Jahren.
Klaus Reichert
Paul Celan. Erinnerungen und Briefe. Berlin: Suhrkamp, 2020. 297 S.; geb.; EUR 28,80 (A)
"Ich habe versucht, den Menschen Paul Celan, so wie ich ihn in Erinnerung habe, zu beschreiben", so Klaus Reichert im Vorwort des Bandes. Reichert, der als Celans Lektor nach dessen Wechsel zum Suhrkamp Verlag im Jahr 1966 fungierte, hatte den Dichter bereits im Jahr 1958 in Paris besucht, und der vorliegende Band versammelt nicht nur Briefe, sondern auch Erinnerungen an private und berufliche Zusammenkünfte.
Michael Eskin
"Schwerer werden. Leichter sein." Gespräche um Paul Celan. Mit Durs Grünbein, Gerhard Falkner, Aris Fioretos und Ulrike Draesner. Göttingen: Wallstein, 2020. 176 S.; geb.; EUR 22,70 (A)
Zur Aktualität Paul Celans und seiner Bedeutung in der Dichtung der Gegenwart versammelt das Buch des Autors, Übersetzers und Verlegers Michael Eskin Gespräche mit den vier zeitgenössischen Autoren Durs Grünbein, Ulrike Draesner, Gerhard Falkner und Aris Fioretos.
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