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Originaltexte Artikel online seit 24.05.14 |
Zug um Zug |
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»Immer derselbe Mist!«,
fluchte die stämmige Frau neben Glogowski. Lässig behielt Glogowski seine leichte Aktentasche in der Hand. Die meisten übrigen Reisenden hatten ihr Gepäck schon lange auf den Bahnsteig gestellt und standen dämlich daneben, aßen etwas, streichelten ihre Tablets und iPhones und blickten sauertöpfisch – was für ein Wort, dachte er - drein. Glogowski trug wieder einmal seine besten Sachen, einen schwarzen Anzug, seine schwarzen Lederschuhe und seinen Wintermantel. Die Haare hatte er diesmal linksgescheitelt. Die Frau neben ihm sprach jetzt in ihr Handy: »Ja, schon wieder Verspätung, das dritte Mal diesen Monat, aber wir treffen uns trotzdem bei Maja, ich stoß dann zu euch …« Glogowski wollte nicht länger zuhören und ging den Bahnsteig ein wenig auf und ab. Die Sonne kam heraus, er blieb stehen, hielt sein Gesicht hinein, schloss die Augen und lauschte den Geräuschen des Bahnhofs. Ein Kind kreischte und heulte darauf. Glogowski öffnete die Augen. Die Mutter ermahnte es, doch das Kind schrie noch lauter. Darauf drückte ihm die Mutter etwas in die Hand, einen Keks oder ein iPhone; Glogowski konnte es aus der Entfernung nicht richtig erkennen.
Ein Mann neben ihm
schnaubte geräuschvoll in sein Taschentuch. Seine Einzimmerwohnung war schlecht gelüftet, er hatte vorhin vergessen, das Fenster zu öffnen. Ihm war, als rieche es in der Wohnung nach altem Mann - dabei war Glogowski erst siebenundfünfzig. Er öffnete das Fenster und schaute nach unten. Kinder stritten um etwas. Nach einer Weile schloss er das Fenster wieder, zog sich aus, verstaute seinen Anzug, die Schuhe und die leere Aktentasche sorgsam im Schrank, schlüpfte darauf in seinen Trainingsanzug und legte sich aufs Bett. Er blickte auf das Bild seiner Frau auf dem Nachttisch - ihm wurde schwermütig, wie jedes Mal, wenn er das Bild betrachtete. Er schloss die Augen. Draußen schrien die Kinder in einer Sprache, die er nicht verstand.
Heute war er etwas später
dran als sonst. Er war wieder unter Menschen. Hatte er zuhause noch das Fenster
geöffnet, bevor er gegangen war? Hoffentlich. Er sah auf die Anzeigetafel in der
Bahnhofshalle. Der IC 2032 nach Leipzig auf Gleis vier hatte etwa dreißig
Minuten Verspätung. Er begab sich mit der Aktentasche in der Hand auf Gleis
vier. |
Jörn Birkholz,
geboren
1972, lebt in Bremen. Studium der Geschichts- und
Kulturwissenschaften an der Uni Bremen. Veröffentlichungen in
verschiedenen Zeitschriften (u.a. erostepost, Sterz, Lichtungen). |
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