Als ich mit fünfzehn von zu Hause ausziehen konnte, um in der weit entfernten Stadt aufs Gymnasium zu gehen, begriff ich, wie hierarchisch, beschränkt und engstirnig das geistige Klima in meinem Heimatdorf gewesen war. Ich fing an, mich für die Gesellschaft und vor allem für ihre Veränderung zu interessieren. Ich fragte, ob man auf die Verhältnisse Einfluss nehmen, sie gar verändern kann. Ich interessierte mich für Geschichte und Soziologie und las, wie Menschen durch Kampf, Revolution und Gesetze die Gesellschaft verändert hatten. In meinem Denken inspirierten mich u. a. die deutsch-polnische Revolutionärin Rosa Luxemburg, die Bolschewikin Alexandra Kollontai, die RAF-Aktivistin Ulrike Meinhof und die Philosophin Julia Kristeva. So fing ich an, Einfluss zu nehmen, indem ich mich in diversen Bewegungen engagierte, in der Punkbewegung, in der Umweltbewegung, in der Hausbesetzerszene und in der Friedensbewegung. Ich hatte das Gefühl, im Handeln mit anderen die sozialen Entwicklungen beeinflussen zu können, und sah, dass es möglich ist, eine neue Gesellschaft aufzubauen. Bei meinen Aktivitäten in diesen alternativen Bewegungen merkte ich bald, dass dort üblicherweise die Männer redeten und entschieden, was getan wird. Sie waren die Anführer, den Frauen blieb die Rolle der zustimmenden Kaffeeköchinnen. Nach meinem Umzug von Lappland nach Helsinki und dem Beginn meines Studiums der Anthropologie an der Universität wurde mein Interesse für den Feminismus geweckt. Ich fand den Weg in die Frauenrechtsunion (Naisasialiitto Unioni), unter deren Dach junge Frauen eine radikalfeministische Künstlerinnengruppe namens Ekstaasi (Ekstase) gegründet hatten. Dort stieg ich ein. Wir machten Performances und Radiosendungen und beteiligten uns an feministischen Aktionen und am Befreiungskampf der Homosexuellen. Einige Frauen aus der Gruppe gründeten später das Institut für Frauenforschung an der Universität Helsinki. Als Mitglied von Ekstaasi begriff ich, dass die Kunst im besten Fall ein Stachel im Fleisch der Nation ist.
Die größten Früchte des Kampfes der Frauen um Gleichberechtigung, der in Finnland bereits im 19. Jahrhundert begonnen hatte, durften wir in den Jahren 2000-2006 ernten, als wir mit Tarja Halonen eine alleinerziehende Frau aus einer Arbeiterfamilie als Präsidentin hatten. Sie war eine erfrischende und radikale Präsidentin. Als junge Abgeordnete und Juristin war sie Vorsitzende der LBGT-Organisation SETA, die sich für sexuelle Gleichberechtigung einsetzt. Wir hatten also erstmals eine Frau als Präsidentin, und für kurze Zeit regierte in dieser Ära sogar zusätzlich eine Ministerpräsidentin. Die Zahl der weiblichen Abgeordneten hatte ihren Höhepunkt erreicht und die meisten Ministerposten waren an Frauen vergeben.
Gegen Ende des ersten Dekade dieses Jahrtausends machten sich zusehends andere Kräfte im geistigen Klima Europas breit, nämlich Fortführungen des Faschismus der Dreißiger Jahre, Rassismus, Nationalismus, Xenophobie, Rechtsradikalismus, Neoliberalismus, rechter Wertekonservatismus und Militarismus. Bald erwachten diese der Demokratie und der Gleichberechtigung fremden Ideologien und politischen Tendenzen auch in allen Ländern Nordeuropas. Und innerhalb weniger Jahre änderte sich der Geist auch in Finnland völlig. Weibliche Abgeordnete und Minister wurden von Männern abgelöst, zum Präsidenten wurde ein konservativer Mann gewählt, und in Unternehmen, die von Frauen geführt worden waren, saßen nun wieder Männer auf dem Chefsessel. Feminismus wurde zum Schimpfwort. Bei den Parlamentswahlen 2015 schnitten die erzkonservativen, fremdenfeindlichen Perussuomalaiset (Die Finnen) als zweitstärkste Partei ab. Wir mussten lernen, dass die Demokratie, wie in den Dreißigerjahren in Deutschland, auch im 21. Jahrhundert in Finnland undemokratischen Kräften zur Macht verhelfen kann. Die jetzige finnische Mitte-rechts-Regierung begünstigt Familien, in denen die Frauen zu Hause bleiben und sich um die Kinder kümmern. Die Rechte auf Tagesbetreuung werden eingeschränkt.
Wenn derzeit eine Frau Karriere machen will, sollte sie nicht öffentlich verkünden, Feministin zu sein. So weit sind wir gekommen, und es hat dafür nur wenige Jahre gebraucht! Die feministische Bewegung ist vor Schreck erstarrt. Der Kampf der Frauen um Gleichberechtigung muss von vorne beginnen, und das obwohl wir uns gerade erst eingebildet hatten, in den Ländern Nordeuropas liefe alles prächtig. Wir Frauen müssen den Mund aufmachen, mutiger, radikaler und aktiver sein, denn wenn wir uns nicht wehren, leben wir bald in einem neo-fennomanen, frauenfeindlichen Finnland, in dem die Frau wieder einmal ihren Platz zwischen Faust und Herd hat!
Aus dem Finnischen von Stefan Moster