Am Anfang ist das Wort. Es fällt auseinander, in Vater-Wort und Mutter-Wort; in außen-innen; in öffentlich-privat; in das Wort, das die Wirklichkeit schafft, und das Wort, das sich der Wirklichkeit anpasst. Aber am Anfang ist auch der Körper. Er kann noch zwischen wahr und falsch unterscheiden. Er reagiert auf das Wort, untrüglich, bevor eine eigene Sprache für seine Reaktionen gefunden ist. Die Ungerechtigkeit und die Falschheit treiben ihm die Tränen in die Augen. Die Schönheit und die Macht des Wortes erregen ihn, die Öde langweilt ihn, die Gemeinheit und die Feigheit drehen ihm den Magen um. Er geht in die Knie, vor dem Glanz der gelungenen Rede, die sich öffentlich wahr spricht, und steht mühsam wieder auf, im Nachgedanken, auf der Hintertreppe, wo gestammelt und gestottert wird und die wahren Worte im Staub liegen.
Meine Großmutter war im Sommer 1915, als sie ein Bube und ein Soldat sein wollte, knapp drei Jahre alt. Ihr Vater verteidigte damals deutsche Interessen im Kaukasus an der Front und schrieb Briefe, Vater-Worte. Ihre Mutter war mit den vier Kindern vom Balkan nach Wien geflohen und hielt in einem Tagebuch Mutter-Worte und die Worte der Kinder fest. Das Mädchen weint, weil sie kein Bube ist, aber auch der vierjährige Bruder weint, über dem Buch vom Reinhold und dem König Nussknacker. »Warum weinst Du?«, frage ich. »Weil es dem Reinhold doch in seiner Hütte mit seiner Mama so schlecht gegangen ist«, erwidert er, noch heftiger weinend.
Es ging ihnen allen schlecht. Der Vater – ein deutscher Offizier, der im Kaukasus den Armenier-Genozid miterlebt – prahlt, prasst, kämpft, verlässt über kurz oder lang die Familie und erleidet nervöse Zusammenbrüche. Heute würde man sagen, dass er traumatisiert war. Die Mutter sorgt dafür, dass die Kinder nach der Pleite und ohne Vater wieder den Anschluss ans deutsche Großbürgertum finden, und geht als Heilige und Märtyrerin ins Familiengedächtnis ein.
Und immer ging es anderen noch schlechter.
In der kosovo-albanischen Gegend, in der die Familie als Auslandsdeutsche bis zum Ausbruch der Balkankriege gelebt hatte, durften Frauen noch um die Jahrhundertwende Soldaten werden: Wenn eine Albanerin den Mann, an den sie verschachert worden war, nicht annehmen wollte, gab es für sie einen einzigen, durch ein Ritual streng geregelten Ausweg. Sie konnte ihre Brust umwickeln, ein Gewehr nehmen und als Kämpferin in die Stammeskriege und Aufstände ziehen, die das albanische Männerleben ausfüllten. Die Kämpferinnen waren für ihre Stammesgenossen unberührbar. Sobald sie jedoch im Kampf unterlagen, hatten sie keinerlei Schutz. Früher oder später war ihnen die Vergewaltigung und Ermordung sicher.
Der weinende Bube ist leicht zu verstehen. Er hat den Reinhold in seiner Hütte, mit dem er sich identifizieren kann. Das weinende Mädchen hingegen – was meint sie eigentlich? Will sie wirklich Soldat und Bube sein, will sie eine Geschlechtsumwandlung? Oder will sie die Rechte der Buben und die Macht der Soldaten, will sie Gleichberechtigung und Gleichstellung? Oder will sie eigentlich eine ganz andere Welt, eine Welt, in der es ihr und ihrer Familie besser geht und in der nicht mehr getötet und unterdrückt wird? Eine Welt, in der alle Geschlechter friedlich leben und in der ihre Familie glücklich sein kann? Sie hat nur die Worte, die ihr zur Verfügung stehen; Worte, die sich der Wirklichkeit anpassen.
Von der Mutter wird das weinende Mädchen im Stich gelassen. Die Mutter ist nicht der liebe Gott, der die einen zu Mädelchen und die anderen zu Buben macht. Die Mutter wäre gerne Schriftstellerin und Journalistin geworden. Aber die Mutter ist schwach. Sie schreibt der Wirklichkeit hinterher und erhebt keinen Anspruch, mit einer eigenen Sprache etwas Eigenes zu schaffen. Um diesen Anspruch zu entwickeln, müsste sie bereit sein, die gesamte Ordnung in Frage zu stellen. Und das sieht sie nicht als ihre Aufgabe; es ist noch nicht einmal ihre Aufgabe, das Kind zu trösten; ihre Aufgabe ist es, die Kinder vor dem gesellschaftlichen Abstieg zu bewahren und ihnen einen Platz in dieser Ordnung zu verschaffen.
Wie schlecht und wie gut muss es jemandem gehen, damit die Bereitschaft entsteht, die gesamte Ordnung in Frage zu stellen? Ich bin Feministin, aber habe keine feministische Tradition: keine Linie, an die ich anknüpfen könnte, keine Vorgänger, um mir den Rücken zu stärken, keine Vorbilder, um ihnen nachzueifern. Meine Wirklichkeit ist durch Worte gemacht, die mein Körper teilweise als wahr und teilweise als falsch erkennt und deren Ambivalenz auszuhalten mich einen Großteil der Kraft kostet, die ich brauche, um selbst wirklichkeitsbildend zu werden.
Für eine neue Ordnung müsste man ganz an den Anfang zurückgehen, an den Anfang des Wortes. Einerseits können die Feinde der Geschlechterfreiheit beruhigt sein: Solange es Sprache gibt, wird die Wirklichkeit immer stärker sein. Aber andererseits haben die Feinde der Geschlechterfreiheit doch auch Grund, sich Sorgen zu machen: Denn der Körper kann zwischen wahr und falsch unterscheiden, und solange es Sprache gibt, wird es auch Versuche geben, nicht mehr der Wirklichkeit nach dem Mund zu reden, sondern eigene Worte zu finden, eigene Wirklichkeiten zu schaffen.
Wie ein Samenkorn, das Generationen und Generationen überdauert, bis eine Konstellation entsteht, in der es aufgeht, ist dieses Potential von Körper und Sprache auch und gerade im schwächsten Mutter-Wort, in der privatesten Klage, auf der Hintertreppe eines hundert Jahre alten Tagebuches einer verlassenen, alternden Frau, für die es »zu spät« ist, enthalten: »Ich wünsche und wünsche so heiß, denn je. Ich heische vom Schicksal, was es mir bisher versagte! (...) Niemals mochte ich die in Thiergärten u. Volièren gefangenen Vögel betrachten. Sie ließen in mir die Schmerzen meiner beengten, gefesselten Jugend aufleben u. ich dachte bei ihrem Anblick nur an eines – Befreiung! Dieses Gefühl der Unfreiheit ist noch immer da – bald schwächer, bald stärker!«
Im Sommer 1915 ist das Gefühl für die Unfreiheit da, und im Sommer 2015 ist es immer noch da, und auch im Sommer 2115 wird es noch da sein, bald schwächer, bald stärker. Und Feminismus heißt für mich eigentlich nur die Bereitschaft, die radikalen Schritte zu gehen, die notwendig sind, um dieses Gefühl endlich nicht mehr unterdrücken zu müssen.