"Als
Herausgeber fungieren Experten, die es
verdient haben, dass man diesen Worten Glauben schenkt: Thomas Seelig,
Sammlungskurator am Fotomuseum Winterthur, und Uta Grosenick,
Programmleiterin Kunst beim DuMont-Buchverlag",
schreibt "Die
Weltwoche".
Nun ja, bevor wir mit
glauben anfangen, gucken wir doch einfach mal hin. Und am besten etwas
genauer als das die Herausgeber im Falle des Essays von Paolo Bianchi getan
haben, sonst wäre ihnen nämlich vor dem Gut-zum-Druck aufgefallen, dass
unter dem Titel "Fotografie der Imagination" (S.
18-19), der Textabschnitt, der mit "Gemeinhin gilt
die Fotografie" beginnt, gleich doppelt gesetzt wurde: wo der Text aufhört,
beginnt er nämlich gleich wieder von vorne.
Da ich Paolo Bianchi
einmal kurz getroffen und ihn sympathisch gefunden habe, habe ich mir seinen
Essay zur "Ästhetik der Fotografie" mit einiger
Neugier vorgenommen, musste dann jedoch rasch erkennen, dass ich kaum einen
Satz verstand. Ein Beispiel:
"Gemeinhin
gilt die Fotografie als ein Medium, dem die visuelle Wirklichkeit als
Folie zur Gestaltung dient. Fallen im Prozess der fotografischen
Aneignung Wirklichkeit und optische Bildwirklichkeit in eins, reduziert
sich das Betätigungsfeld des Fotografen auf das, was ihm aus der
sichtbaren Umwelt zur Verfügung steht. Nur was er visuell zu erfassen
vermag, kann er auch auf Film bannen."
Satz Nummer drei habe ich
verstanden. Oder:
"Die
Fotografie sieht in der Imagination jenes Vorstellungsvermögen, das die
sichtbare Welt analytisch in ein Magazin von Bildern zerlegt, aus dem
sie synthetisch eine neue Welt und Empfindungen des Ungewohnten erzeugt.
Analyse und Synthese ermöglichen der poetischen Imagination die freie
Gestaltung bzw. Entfaltung der Bilder. 'Man
darf sagen, der Glückliche fantasiert nie, nur der Unbefriedigte.'
(Sigmund Freud). Die Fotografie der Einbildungskraft überläuft
diese apodiktischen Grenzziehungen mit ihrer Lust an der Gestaltung
spielend."
Hier habe ich das
Freud-Zitat verstanden, doch was es in diesem Zusammenhang sollte, erschloss
sich mir leider nicht.
Der Klappentext lässt
wissen, dass "112 Künstler und Künstlerinnen mit
repräsentativen Arbeiten und informativen Kurztexten" vorgestellt werden.
Warum jemand, der den Motor eines Volvos oder Sonderangebote bei Wal-Mart
fotografiert (Roy Arden), als Künstler oder jemand, der leere, glattgestrichene Chipspackungen oder übereinandergestellte Computer in
schwarz/weiß ablichtet (Valérie Belin), als
Künstlerin gilt, ist mir schleierhaft. Die absolute Härte in dem Band sind
jedoch die Aufnahmen der 1975 in Deutschland geborenen und in London und
Zürich lebenden Diana Scheunemann. Eine ganzseitige Aufnahme zeigt eine
junge, schlanke, nackte Frau mit roter Perücke und weißrot
bemaltem Clownsgesicht inklusive roter Knollennase, die einen Holzpfahl
umfasst hält, deren rot angestrichene Spitze sie ableckt. Die nächsten
beiden Seiten zeigen Fotos von vier (zwei pro Seite) nackten Männern, die
eine Maske aufhaben und masturbieren. "Ich werde
nie vergessen", wird der Journalist Christof Moser zitiert,
"wie sie zu mir rüberkam und sagte:
'Ich habe mir eine paar Kerle gemietet und ein
Hotelzimmer gebucht. Die holen sich einen runter, während ich sie
fotografiere. Ist das nicht eine tolle Idee?'" Mäßig
toll, würde ich sagen. Und vor allem: auch eine tolle Idee ist noch keine
Kunst.
Doch es gibt auch tolle
Fotos in diesem Band, ganz tolle. Besonders angesprochen hat mich Sze Tsung
Leongs "Tiananmen Square", wo er eindrücklich vorführt, wie man mit der
Kamera anders als mit dem bloßen Auge sehen kann.
Und "Ice Storm" von Sonja Braas, die zeigt, was klirrende Kälte in einem
Wald anrichtet bzw. wie sie diesen verändert. Und die beiden
Shanghai-Aufnahmen von Olivo Barbieri, die vor allem durch die Kombination
von Luft-Perspektive und Farbe überzeugen. Genau so wie Aglaia Konrads
"Dakar".
Henry James hat
vorgeschlagen, Kunstwerke (was auch immer das sein mag) wie folgt zu
befragen: "What is the artist trying to do?
Does he do it? Was it worth doing?" Das scheint mir ein einleuchtendes
Vorgehen. Nur eben: es setzt voraus, dass einen, was einem als Kunst
präsentiert wird, auch neugierig macht, ja einen anregt, diese Fragen
überhaupt stellen zu wollen. Viele der Fotos in diesem Band machten mich
nicht neugierig. Einige, zum Beispiel die von Lukas Einsele, hingegen schon.
Johan Sjöström hat dazu einen gut verständlichen, die Bilder erhellenden
Text geschrieben und Einseles Website hält fest: "One
Step Beyond berichtet über Landminen und ihre Opfer und setzt sie in ein
sichtbares und nachvollziehbares Verhältnis." Auf Seite 128 von
"Photo Art" sieht man die Gesichter von vier
Landminenopfern, auf der gegenüberliegenden Seite sieht man vier
Abbildungen von Minen (drei Antipersonenminen, eine Antifahrzeugmine).
Fragen wir also mit Henry James: Was versucht der Fotograf zu tun? Er
versucht, den Opfern ein Gesicht zu geben. Gelingt das? Ja, es gelingt, und
zwar sehr gut. Einerseits, weil die Gesichter nicht anonym geblieben sind,
sondern Namen tragen (Rebecca Mujinga, Angola, 2001; Rosa Mufuca, Angola,
2001; Alija Ibrahimpasic, Bosnien und Herzegowina, 2003; Abdul Aziz,
Afghanistan, 2002); dann aber auch, weil die Gesichter schwarz/weiß
und die Minen farbig abgelichtet wurden (ich interpretiere das so, dass auch
farblich unterstrichen werden soll, dass Minen und Menschen nicht zusammengehören), und nicht zuletzt, weil die von den Minen verstümmelten Körper gar
nicht gezeigt, sondern unserer Vorstellung überlassen werden. War das
Resultat den Versuch wert? fragt Henry James abschließend.
Darauf kann man letztendlich nur subjektiv antworten und so sei es denn: Ja,
ich fand die Arbeit sehr gelungen. Eine gute Idee, eine überzeugende
Umsetzung, doch was diese Arbeit (sie ist ja in einem Band mit dem Titel
"Photo Art" zu finden) zur Kunst machen soll,
verstehe ich nicht.
Zugegeben, ich wüsste
nicht, wie Kunst zu definieren wäre. Doch manchmal erkennt man sie
instinktiv, erfährt man sie ganz direkt. Wenn Carlos Kleiber dirigiert zum
Beispiel. Oder wenn Roger Federer Tennis spielt. Oder wenn man die Texte von
Janet Malcolm liest. Man spürt dann, dass das etwas Besonderes ist, ohne
dass einem jemand zuerst die Bedeutung erklären muss (wobei dies natürlich
manchmal hilft). Am ehesten glaubte ich dieses Besondere zu spüren bei den
Fotos von – abgesehen von den bereits erwähnten Sze Tsung Leong, Sonja
Braas, Olivo Barbieri und Aglaia Konrad – Tacita Dean, Luc Delahaye und
(vielleicht) den Supercomputern von Simon Norfolk. Andere werden andere
Prioritäten setzen. An Material fehlt es in "Photo
Art" jedenfalls nicht.
Hinzuweisen ist noch auf
dies: Ein informatives und gut geschriebenes Glossar von Florian Ebner, Arne
Reimer und Manuel Reinartz, worin man nützliche Erläuterungen zur
Dokumentarfotografie, zur digitalen Bildbearbeitung, zu Kameratypen und
anderem mehr finden kann, komplettiert den schön gemachten Band. |