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Fotografie im 21. Jahrhundert
...

"What is the artist trying to do? Does he do it? Was it worth doing?" Fragen, die
der US-Schriftsteller Henry James einst an die Kunst im Allgemeinen stellte, lassen sich
mindestens ebenso gut auf einen 2007 im DuMont Verlag erschienenen Bildband richten:
"Photo Art". In dem schön gemachten, materialreichen Buch erhält der Betrachter eine
eindringliche Vorstellung davon, dass die Kamera oft ganz
anders sieht als das menschliche Auge. 

Von Hans Durrer
(21. 04. 2008)

...




(c) Blazenka Kostolna

Hans Durrer
contact [at] hansdurrer.com

geboren 1953 in Grabs (Schweiz), studierte Rechts-
wissenschaften (in Basel),
Journalistik (in Cardiff) und
angewandte Linguistik (in
Darwin); ist der Autor von
"Ways of Perception: On
Visual and Intercultural
Communication" (White
Lotus Press, Bangkok
2006).


Homepage

www.hansdurrer.com

 

 

Uta Grosenick;
Thomas Seelig (Hg).
Photo Art. Fotografie
im 21. Jahrhundert.
DuMont, 2007, 519 S.
ISBN:
3832177817
 

 

 

"Ich habe mir eine paar
Kerle gemietet und ein
Hotelzimmer gebucht. Die
holen sich einen runter,
während ich sie fotografiere.
Ist das nicht eine tolle Idee?
"

 

 



(c) www.artnet.com

"Tiananmen Square"
(Sze Tsung Leong)

 

 

Fragen wir also mit Henry
James: Was versucht der Fotograf zu tun? Er versucht,
den Opfern ein Gesicht zu
geben. Gelingt das? Ja, es
gelingt, und zwar sehr gut.
 

 

 



Lukas Einsele
www.one-step-beyond.de

 



Zugegeben, ich wüsste
nicht, wie Kunst zu
definieren wäre. Doch
manchmal erkennt man
sie instinktiv, erfährt man
sie ganz direkt.

 






"China, Shanghai"
(Olivo Barbieri)


 

Verwandter Artikel
von Hans Durrer:

Fotografisches Sehen
 

   "Als Herausgeber fungieren Experten, die es verdient haben, dass man diesen Worten Glauben schenkt: Thomas Seelig, Sammlungskurator am Fotomuseum Winterthur, und Uta Grosenick, Programmleiterin Kunst beim DuMont-Buchverlag", schreibt "Die Weltwoche".

Nun ja, bevor wir mit glauben anfangen, gucken wir doch einfach mal hin. Und am besten etwas genauer als das die Herausgeber im Falle des Essays von Paolo Bianchi getan haben, sonst wäre ihnen nämlich vor dem Gut-zum-Druck aufgefallen, dass unter dem Titel "Fotografie der Imagination" (S. 18-19), der Textabschnitt, der mit "Gemeinhin gilt die Fotografie" beginnt, gleich doppelt gesetzt wurde: wo der Text aufhört, beginnt er nämlich gleich wieder von vorne.

Da ich Paolo Bianchi einmal kurz getroffen und ihn sympathisch gefunden habe, habe ich mir seinen Essay zur "Ästhetik der Fotografie" mit einiger Neugier vorgenommen, musste dann jedoch rasch erkennen, dass ich kaum einen Satz verstand. Ein Beispiel:

"Gemeinhin gilt die Fotografie als ein Medium, dem die visuelle Wirklichkeit als Folie zur Gestaltung dient. Fallen im Prozess der fotografischen Aneignung Wirklichkeit und optische Bildwirklichkeit in eins, reduziert sich das Betätigungsfeld des Fotografen auf das, was ihm aus der sichtbaren Umwelt zur Verfügung steht. Nur was er visuell zu erfassen vermag, kann er auch auf Film bannen."

Satz Nummer drei habe ich verstanden. Oder:

"Die Fotografie sieht in der Imagination jenes Vorstellungsvermögen, das die sichtbare Welt analytisch in ein Magazin von Bildern zerlegt, aus dem sie synthetisch eine neue Welt und Empfindungen des Ungewohnten erzeugt. Analyse und Synthese ermöglichen der poetischen Imagination die freie Gestaltung bzw. Entfaltung der Bilder. 'Man darf sagen, der Glückliche fantasiert nie, nur der Unbefriedigte.' (Sigmund Freud). Die Fotografie der Einbildungskraft überläuft diese apodiktischen Grenzziehungen mit ihrer Lust an der Gestaltung spielend."

Hier habe ich das Freud-Zitat verstanden, doch was es in diesem Zusammenhang sollte, erschloss sich mir leider nicht.

   Der Klappentext lässt wissen, dass "112 Künstler und Künstlerinnen mit repräsentativen Arbeiten und informativen Kurztexten" vorgestellt werden. Warum jemand, der den Motor eines Volvos oder Sonderangebote bei Wal-Mart fotografiert (Roy Arden), als Künstler oder jemand, der leere, glattgestrichene Chipspackungen oder übereinandergestellte Computer in schwarz/weiß ablichtet (Valérie Belin), als Künstlerin gilt, ist mir schleierhaft. Die absolute Härte in dem Band sind jedoch die Aufnahmen der 1975 in Deutschland geborenen und in London und Zürich lebenden Diana Scheunemann. Eine ganzseitige Aufnahme zeigt eine junge, schlanke, nackte Frau mit roter Perücke und weißrot bemaltem Clownsgesicht inklusive roter Knollennase, die einen Holzpfahl umfasst hält, deren rot angestrichene Spitze sie ableckt. Die nächsten beiden Seiten zeigen Fotos von vier (zwei pro Seite) nackten Männern, die eine Maske aufhaben und masturbieren. "Ich werde nie vergessen", wird der Journalist Christof Moser zitiert, "wie sie zu mir rüberkam und sagte: 'Ich habe mir eine paar Kerle gemietet und ein Hotelzimmer gebucht. Die holen sich einen runter, während ich sie fotografiere. Ist das nicht eine tolle Idee?'" Mäßig toll, würde ich sagen. Und vor allem: auch eine tolle Idee ist noch keine Kunst.

Doch es gibt auch tolle Fotos in diesem Band, ganz tolle. Besonders angesprochen hat mich Sze Tsung Leongs "Tiananmen Square", wo er eindrücklich vorführt, wie man mit der Kamera anders als mit dem bloßen Auge sehen kann. Und "Ice Storm" von Sonja Braas, die zeigt, was klirrende Kälte in einem Wald anrichtet bzw. wie sie diesen verändert. Und die beiden Shanghai-Aufnahmen von Olivo Barbieri, die vor allem durch die Kombination von Luft-Perspektive und Farbe überzeugen. Genau so wie Aglaia Konrads "Dakar".

   Henry James hat vorgeschlagen, Kunstwerke (was auch immer das sein mag) wie folgt zu befragen: "What is the artist trying to do? Does he do it? Was it worth doing?" Das scheint mir ein einleuchtendes Vorgehen. Nur eben: es setzt voraus, dass einen, was einem als Kunst präsentiert wird, auch neugierig macht, ja einen anregt, diese Fragen überhaupt stellen zu wollen. Viele der Fotos in diesem Band machten mich nicht neugierig. Einige, zum Beispiel die von Lukas Einsele, hingegen schon. Johan Sjöström hat dazu einen gut verständlichen, die Bilder erhellenden Text geschrieben und Einseles Website hält fest: "One Step Beyond berichtet über Landminen und ihre Opfer und setzt sie in ein sichtbares und nachvollziehbares Verhältnis." Auf Seite 128 von "Photo Art" sieht man die Gesichter von vier Landminenopfern, auf der gegenüberliegenden Seite sieht man vier Abbildungen von Minen (drei Antipersonenminen, eine Antifahrzeugmine). Fragen wir also mit Henry James: Was versucht der Fotograf zu tun? Er versucht, den Opfern ein Gesicht zu geben. Gelingt das? Ja, es gelingt, und zwar sehr gut. Einerseits, weil die Gesichter nicht anonym geblieben sind, sondern Namen tragen (Rebecca Mujinga, Angola, 2001; Rosa Mufuca, Angola, 2001; Alija Ibrahimpasic, Bosnien und Herzegowina, 2003; Abdul Aziz, Afghanistan, 2002); dann aber auch, weil die Gesichter schwarz/weiß und die Minen farbig abgelichtet wurden (ich interpretiere das so, dass auch farblich unterstrichen werden soll, dass Minen und Menschen nicht zusammengehören), und nicht zuletzt, weil die von den Minen verstümmelten Körper gar nicht gezeigt, sondern unserer Vorstellung überlassen werden. War das Resultat den Versuch wert? fragt Henry James abschließend. Darauf kann man letztendlich nur subjektiv antworten und so sei es denn: Ja, ich fand die Arbeit sehr gelungen. Eine gute Idee, eine überzeugende Umsetzung, doch was diese Arbeit (sie ist ja in einem Band mit dem Titel "Photo Art" zu finden) zur Kunst machen soll, verstehe ich nicht.

Zugegeben, ich wüsste nicht, wie Kunst zu definieren wäre. Doch manchmal erkennt man sie instinktiv, erfährt man sie ganz direkt. Wenn Carlos Kleiber dirigiert zum Beispiel. Oder wenn Roger Federer Tennis spielt. Oder wenn man die Texte von Janet Malcolm liest. Man spürt dann, dass das etwas Besonderes ist, ohne dass einem jemand zuerst die Bedeutung erklären muss (wobei dies natürlich manchmal hilft). Am ehesten glaubte ich dieses Besondere zu spüren bei den Fotos von – abgesehen von den bereits erwähnten Sze Tsung Leong, Sonja Braas, Olivo Barbieri und Aglaia Konrad – Tacita Dean, Luc Delahaye und (vielleicht) den Supercomputern von Simon Norfolk. Andere werden andere Prioritäten setzen. An Material fehlt es in "Photo Art" jedenfalls nicht.

   Hinzuweisen ist noch auf dies: Ein informatives und gut geschriebenes Glossar von Florian Ebner, Arne Reimer und Manuel Reinartz, worin man nützliche Erläuterungen zur Dokumentarfotografie, zur digitalen Bildbearbeitung, zu Kameratypen und anderem mehr finden kann, komplettiert den schön gemachten Band.

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