Eine Kamera
ist von Grund auf anders konstruiert als das menschliche Auge und muss daher
zu anderen Ergebnissen kommen. Beispielsweise hat mein Auge keinen
eingebauten Zoom. Ihres vielleicht? Weitwinkel und Teleaufnahmen sind also
zwangsläufig schon einmal zur "Subjektivität"
verdammt – weil sie die "Realität", was auch immer
das sein mag, anders zeigen als unser Auge sie wahrnimmt.
Auch "eine
Kurzzeitbelichtung von 1/8.000 Sekunde, dass man die Schweißtropfen des
Sportlers nur so spritzen sieht" schafft das menschliche Auge nicht;
andererseits bildet die Kamera die Welt nur zweidimensional ab, auch wenn
die Person hinter der Kamera doch alles gerade noch so schön dreidimensional
gesehen hat.
Mit einer Kamera, so muss
man schließen, kann die Welt nicht objektiv abgebildet werden, doch muss
man mit Rossig daraus folgern, dass, "sehr überspitzt
gesagt", Fotojournalismus "nichts anderes als die
Kunst der gezielten Manipulation des Lesers – in mehr oder weniger
starkem Maße" ist?
Allein
dadurch, dass wir den Blick des Lesers in eine bestimmte Richtung lenken;
allein dadurch, dass wir den Bürgermeister leicht unscharf abbilden; allein
dadurch, dass wir den Oppositionskandidaten in einer unvorteilhaften Pose
zeigen – durch all diese Maßnahmen beeinflussen wir den Leser, egal ob
absichtlich oder unbewusst.
Einverstanden, doch kommt
"den Blick des Lesers in eine bestimmte Richtung
lenken" bereits einer Manipulation gleich? Das hängt ganz davon ab, was man
unter Manipulation versteht. Ich verstehe darunter eine bewusste Irreführung
(und die praktiziert der Fotograf meist nicht), Rossig hingegen meint damit
offenbar jede (absichtliche oder unabsichtliche) Beeinflussung des
Bildbetrachters. Das erinnert an den berühmten Satz von Watzlawick, Beavin und
Jackson, der da lautet: "One cannot not
communicate". Das ist zwar differenziert beobachtet, doch wenn alles
Kommunikation ist, wo bleibt da die praktische Relevanz? "Ziel
sollte es nun sein, sich diesen Beeinflussungsprozess möglichst bewusst zu
machen", schreibt Rossig, denn nur so könne man etwas dagegen tun.
"Kein Journalist sollte tendenziöse Fotos herstellen,
weder absichtlich noch fahrlässig oder unbewusst!" Das Ausrufezeichen deutet
(hoffentlich) darauf hin, dass das nicht so ganz ernst gemeint ist, denn wo
soll das Problem sein, wenn das Tendenziöse (sei es, dass es aus der
Aufnahme selber hervorgeht, sei es, dass man durch die Bildlegende darauf
aufmerksam gemacht wird) des Fotos erkennbar ist?
Rossig spricht sich für
"eine 'sanfte'
Form der Beeinflussung" aus und macht an einem Beispiel deutlich, was er
darunter versteht: "So wie der Großvater im Zoo
seinen Enkel bei der Hand nimmt und ihm die wilden Tiere zeigt, so nehmen
wir unseren Leser an der Hand und führen ihn durch unser Bild."
Rudolf Stumberger führt in
"Klassen-Bilder: Sozialdokumentarische Fotografie
1900-1945" zahlreiche Beispiele auf, wie Fotografen uns
an der Hand nehmen. So war dem Berliner Fotografen Friedrich Seidenstücker
(1882-1966), der durch die Bilder von Berliner Pfützenspringerinnen – jungen
Frauen, die über Wasserlachen auf dem Trottoir sprangen – bekannt wurde,
eigen, dass er aus "der Hüfte heraus" fotografierte:
"Nie legte ich Wert darauf, dass man mich als Fotograf erkannte. Mir war es
immer wichtig, heimlich und unbekannt Aufnahmen zu schießen." Ganz anders
der Ungar Brassaï (1899-1984), der 1924 nach Paris kam und dort vor allem
das Nachtleben fotografierte: "Manche versuchen heute
auch, ihr Objekt in einem unbewachten Augenblick einzufangen, in der
irrtümlichen Annahme, dass sie auf diese Weise etwas besonderes an ihm
enthüllen werden. Das läuft schließlich auf Tricks hinaus. Ich mache es nie
so. Ich kann es nicht." Wohl nicht zuletzt der damals fehlenden technischen
Möglichkeiten wegen, schließlich erforderte das Fotografieren in der Nacht
spezielles Licht.
Bei "Klassen-Bilder"
handelt es sich um eine Habilitationsschrift und zeichnet sich, wie das
Habilitationsschriften so an sich haben, durch eine beeindruckende
Materialsammlung aus, auch in Bezug auf die Fotograf-Objekt-Beziehungen. Von
Walker Evans (1903-1975) erfährt man unter anderem, dass er aus einem
begüterten Elternhaus (der Vater war Werbedirektor), stammte, einige Zeit in
Paris verbrachte, wo er an der Sorbonne Vorlesungen über Literatur hörte und
ursprünglich Schriftsteller werden wollte. Sein Credo war "no
politics" und er nahm, so Sturmberger, "den
distanzierten Standpunkt des Flaneurs, der aristokratischen Reserviertheit,
ein … Diese Reserviertheit machte sich bereits in seinen Bildern aus Havanna
bemerkbar, denen 'eine gewisse Neutralität, eine Art
innerer Teilnahmslosigkeit' zugeschrieben wird."
Obwohl Evans’ Aufnahmen auf mich nie so gewirkt haben (ich sah sie bislang
immer so, wie William Stott – in 'Documentary
Expression in Thirties America' – mich angeleitet
hat: " …he records people when they are most
themselves, most in command, as they impose their will on the
environment."), eröffnen sich mir jetzt, dieser neuen Informationen wegen,
ganz neue Sehensweisen – so ich denn dazu bereit bin. Zudem: Je mehr ich
über Evans und sein Denken erfahre ("sein Interesse
für die urbane und soziale Sphäre war mehr aus ästhetischer Neugierde als
aus politischen Motiven heraus entstanden"; "Er
fotografierte verlassene Herrschaftsvillen im Süden ebenso wie die
Hühnerställe der armen Landpächter und zeigte intensives Interesse an der
Welt der Zeichen: Ein Großteil seiner Fotografien bildet Reklametafeln,
Preisschilder, Kinoplakate und Leuchtschriften ab"), desto stärker vermeine
ich ihn und seine Sichtweise in seinen Fotos wahrzunehmen.
In den 1930er Jahren, der
Zeit der "Great Depression" in den USA, porträtierten
Evans und der Journalist James Agee, voll der besten Absichten, drei
Pächterfamilien im Süden des Landes – gezeigt werden sollte, wie die arme
Landbevölkerung lebte. Wie Evans’ die Lebensumstände dieser Familien sah und
wie diese Familien sich selber sahen, war, es versteht sich, recht
verschieden, doch dass der Unterschied derart war, wie Stumberger ihn
schildert, lässt einen (zugegeben, ich rede von mir) an der Idee der sozial
engagierten Fotografie ganz grundsätzlich zweifeln: "Evans
fotografierte die Pächterfamilien in ihrer Alltagssituation, mit
heruntergekommener Kleidung oder gar halbnackt, mit schmutzigen bloßen
Füßen, ungekämmt und unrasiert, und dokumentierte so auch die ökonomische
Situation. Von der Familie Burroughs existiert allerdings auch ein Foto, das
Evans in seinen Veröffentlichungen nicht benutzte: Es zeigt eine Familie
gewaschen und gekämmt, in ordentlicher Kleidung und mit Schuhen und ist
augenscheinlich auf den Wunsch der Familie hin zustande gekommen."
Evans hat das
Spektakuläre, das Ungehörige vermieden; ihm ging es darum 'die Realität'
abzubilden und dabei den Abgebildeten Würde zu geben. "Bud Woods’ skin
cancer, The Rickettses' stinking beds, the horde of
flies on the tenants’ food and on their children’s faces – these he does not
show, though Bourke-White and Russell Lee showed them" schreibt Stott. Doch
was Evans unter Würde verstand und was die Abgebildeten (und ihre
Nachkommen, die sich schämten, dass ihre Angehörigen so arm dargestellt
wurden) darunter verstanden, hätte unterschiedlicher kaum sein können.
Einige Tage nachdem Evans
und Agee wieder nach Hause gefahren waren, schrieb eine der Töchter der Familie
Tingle, Flora Bee, an Evans: "I Sure was heart broken to see you leaving
down hear I was all ready heart broken but you Broken My Heart worser."
(Belinda Rathbone: Walker Evans. A Biography). |