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Fotografisches Sehen
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Wie sehen eigentlich Fotografen die Welt? Anders als andere
Menschen, meint Julian J. Rossig in seinem Buch "Fotojournalismus".

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V
on Hans Durrer
(28. 12. 2007)

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(c) Blazenka Kostolna

Hans Durrer

contact [at] hansdurrer.com

geboren 1953 in Grabs (Schweiz), studierte Rechts-
wissenschaften (in Basel),
Journalistik (in Cardiff) und
angewandte Linguistik (in
Darwin); ist der Autor von
"Ways of Perception: On
Visual and Intercultural
Communication" (White
Lotus Press, Bangkok
2006).


Homepage

www.hansdurrer.com

 

 

 

Julian J. Rossig.
Fotojournalismus.
Uvk, 2007, 236 S.
ISBN: 3867640270

 

 

 

"So wie der Großvater
im Zoo seinen Enkel bei
der Hand nimmt und ihm
die wilden Tiere zeigt, so
nehmen wir unseren Leser
an der Hand und führen
ihn durch unser Bild."

 

 


 

Rudolf Stumberger.
Klassen-Bilder.
Uvk, 2007, 288 S.
ISBN: 3896696394

 

 

 

" …he records people
when they are most
themselves, most in
command, as they
impose their will on
the environment."

 

 


 

Unclassified.
A Walker Evans
Anthology.

Scalo, 2000, 280 S.
ISBN: 3908247217

 

 

 

Walker Evans hat das
Spektakuläre, das Unge-
hörige vermieden; ihm
ging es darum 'die Realität'
abzubilden und dabei den
Abgebildeten Würde
zu geben.



Verwandter Artikel
von Hans Durrer:

Fotografie im 21.
Jahrhundert

Eine Kamera ist von Grund auf anders konstruiert als das menschliche Auge und muss daher zu anderen Ergebnissen kommen. Beispielsweise hat mein Auge keinen eingebauten Zoom. Ihres vielleicht? Weitwinkel und Teleaufnahmen sind also zwangsläufig schon einmal zur "Subjektivität" verdammt – weil sie die "Realität", was auch immer das sein mag, anders zeigen als unser Auge sie wahrnimmt.

Auch "eine Kurzzeitbelichtung von 1/8.000 Sekunde, dass man die Schweißtropfen des Sportlers nur so spritzen sieht" schafft das menschliche Auge nicht; andererseits bildet die Kamera die Welt nur zweidimensional ab, auch wenn die Person hinter der Kamera doch alles gerade noch so schön dreidimensional gesehen hat.

   Mit einer Kamera, so muss man schließen, kann die Welt nicht objektiv abgebildet werden, doch muss man mit Rossig daraus folgern, dass, "sehr überspitzt gesagt", Fotojournalismus "nichts anderes als die Kunst der gezielten Manipulation des Lesers – in mehr oder weniger starkem Maße" ist?

Allein dadurch, dass wir den Blick des Lesers in eine bestimmte Richtung lenken; allein dadurch, dass wir den Bürgermeister leicht unscharf abbilden; allein dadurch, dass wir den Oppositionskandidaten in einer unvorteilhaften Pose zeigen – durch all diese Maßnahmen beeinflussen wir den Leser, egal ob absichtlich oder unbewusst.

Einverstanden, doch kommt "den Blick des Lesers in eine bestimmte Richtung lenken" bereits einer Manipulation gleich? Das hängt ganz davon ab, was man unter Manipulation versteht. Ich verstehe darunter eine bewusste Irreführung (und die praktiziert der Fotograf meist nicht), Rossig hingegen meint damit offenbar jede (absichtliche oder unabsichtliche) Beeinflussung des Bildbetrachters. Das erinnert an den berühmten Satz von Watzlawick, Beavin und Jackson, der da lautet: "One cannot not communicate". Das ist zwar differenziert beobachtet, doch wenn alles Kommunikation ist, wo bleibt da die praktische Relevanz? "Ziel sollte es nun sein, sich diesen Beeinflussungsprozess möglichst bewusst zu machen", schreibt Rossig, denn nur so könne man etwas dagegen tun. "Kein Journalist sollte tendenziöse Fotos herstellen, weder absichtlich noch fahrlässig oder unbewusst!" Das Ausrufezeichen deutet (hoffentlich) darauf hin, dass das nicht so ganz ernst gemeint ist, denn wo soll das Problem sein, wenn das Tendenziöse (sei es, dass es aus der Aufnahme selber hervorgeht, sei es, dass man durch die Bildlegende darauf aufmerksam gemacht wird) des Fotos erkennbar ist?

Rossig spricht sich für "eine 'sanfte' Form der Beeinflussung" aus und macht an einem Beispiel deutlich, was er darunter versteht: "So wie der Großvater im Zoo seinen Enkel bei der Hand nimmt und ihm die wilden Tiere zeigt, so nehmen wir unseren Leser an der Hand und führen ihn durch unser Bild."

  Rudolf Stumberger führt in "Klassen-Bilder: Sozialdokumentarische Fotografie 1900-1945"  zahlreiche Beispiele auf, wie Fotografen uns an der Hand nehmen. So war dem Berliner Fotografen Friedrich Seidenstücker (1882-1966), der durch die Bilder von Berliner Pfützenspringerinnen – jungen Frauen, die über Wasserlachen auf dem Trottoir sprangen – bekannt wurde, eigen, dass er aus "der Hüfte heraus" fotografierte: "Nie legte ich Wert darauf, dass man mich als Fotograf erkannte. Mir war es immer wichtig, heimlich und unbekannt Aufnahmen zu schießen." Ganz anders der Ungar Brassaï (1899-1984), der 1924 nach Paris kam und dort vor allem das Nachtleben fotografierte: "Manche versuchen heute auch, ihr Objekt in einem unbewachten Augenblick einzufangen, in der irrtümlichen Annahme, dass sie auf diese Weise etwas besonderes an ihm enthüllen werden. Das läuft schließlich auf Tricks hinaus. Ich mache es nie so. Ich kann es nicht." Wohl nicht zuletzt der damals fehlenden technischen Möglichkeiten wegen, schließlich erforderte das Fotografieren in der Nacht spezielles Licht.

Bei "Klassen-Bilder" handelt es sich um eine Habilitationsschrift und zeichnet sich, wie das Habilitationsschriften so an sich haben, durch eine beeindruckende Materialsammlung aus, auch in Bezug auf die Fotograf-Objekt-Beziehungen. Von Walker Evans (1903-1975) erfährt man unter anderem, dass er aus einem begüterten Elternhaus (der Vater war Werbedirektor), stammte, einige Zeit in Paris verbrachte, wo er an der Sorbonne Vorlesungen über Literatur hörte und ursprünglich Schriftsteller werden wollte. Sein Credo war "no politics" und er nahm, so Sturmberger, "den distanzierten Standpunkt des Flaneurs, der aristokratischen Reserviertheit, ein … Diese Reserviertheit machte sich bereits in seinen Bildern aus Havanna bemerkbar, denen 'eine gewisse Neutralität, eine Art innerer Teilnahmslosigkeit' zugeschrieben wird." Obwohl Evans’ Aufnahmen auf mich nie so gewirkt haben (ich sah sie bislang immer so, wie William Stott – in 'Documentary Expression in Thirties America' – mich angeleitet hat: " …he records people when they are most themselves, most in command, as they impose their will on the environment."), eröffnen sich mir jetzt, dieser neuen Informationen wegen, ganz neue Sehensweisen – so ich denn dazu bereit bin. Zudem: Je mehr ich über Evans und sein Denken erfahre ("sein Interesse für die urbane und soziale Sphäre war mehr aus ästhetischer Neugierde als aus politischen Motiven heraus entstanden"; "Er fotografierte verlassene Herrschaftsvillen im Süden ebenso wie die Hühnerställe der armen Landpächter und zeigte intensives Interesse an der Welt der Zeichen: Ein Großteil seiner Fotografien bildet Reklametafeln, Preisschilder, Kinoplakate und Leuchtschriften ab"), desto stärker vermeine ich ihn und seine Sichtweise in seinen Fotos wahrzunehmen.

   In den 1930er Jahren, der Zeit der "Great Depression" in den USA, porträtierten Evans und der Journalist James Agee, voll der besten Absichten, drei Pächterfamilien im Süden des Landes – gezeigt werden sollte, wie die arme Landbevölkerung lebte. Wie Evans’ die Lebensumstände dieser Familien sah und wie diese Familien sich selber sahen, war, es versteht sich, recht verschieden, doch dass der Unterschied derart war, wie Stumberger ihn schildert, lässt einen (zugegeben, ich rede von mir) an der Idee der sozial engagierten Fotografie ganz grundsätzlich zweifeln: "Evans fotografierte die Pächterfamilien in ihrer Alltagssituation, mit heruntergekommener Kleidung oder gar halbnackt, mit schmutzigen bloßen Füßen, ungekämmt und unrasiert, und dokumentierte so auch die ökonomische Situation. Von der Familie Burroughs existiert allerdings auch ein Foto, das Evans in seinen Veröffentlichungen nicht benutzte: Es zeigt eine Familie gewaschen und gekämmt, in ordentlicher Kleidung und mit Schuhen und ist augenscheinlich auf den Wunsch der Familie hin zustande gekommen."

   Evans hat das Spektakuläre, das Ungehörige vermieden; ihm ging es darum 'die Realität' abzubilden und dabei den Abgebildeten Würde zu geben. "Bud Woods’ skin cancer, The Rickettses' stinking beds, the horde of flies on the tenants’ food and on their children’s faces – these he does not show, though Bourke-White and Russell Lee showed them" schreibt Stott. Doch was Evans unter Würde verstand und was die Abgebildeten (und ihre Nachkommen, die sich schämten, dass ihre Angehörigen so arm dargestellt wurden) darunter verstanden, hätte unterschiedlicher kaum sein können.

Einige Tage nachdem Evans und Agee wieder nach Hause gefahren waren, schrieb eine der Töchter der Familie Tingle, Flora Bee, an Evans: "I Sure was heart broken to see you leaving down hear I was all ready heart broken but you Broken My Heart worser." (Belinda Rathbone: Walker Evans. A Biography).

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