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Von der holzverarbeitenden Industrie der Literatur

Aspekte zur Poetik meines eigenen Schreibens und Treibens (1)


V
on Peter Hodina
(25. 08. 2013)

...




(c) Reinhard Winkler

Peter Hodina
peterhodina [at] hotmail.com

geboren 1963 in Salzburg.
Studium der Theologie, Philo-
sophie, Politikwissenschaft
und Publizistik in Salzburg.
Lebt und arbeitet als freier
Autor in Gallneukirchen
(Österreich) und Berlin.


Preise

Harder Literaturpreis
(2000). Förderpreis der
Rauriser Literaturtage (2004).
 

Veröffentlichungen

Die Meuterei der Lemminge
,
Essay (Hecht-Druck, 2001).

Steine und Bausteine 1/2.
(Avinus Verlag, 2009/10)
 

Biographie

Peter Hodina

 

 

 

 

 

 

Ich komme ursprünglich
von der Philosophie her,
die mir nicht genügte: In
den kalten Hallen des
Allgemeinen, Allgemein-
gültigen fühlte ich mich
zum Wurm herabgedrückt,
trotz aller Beschwörungen
eines durch die Philoso-
phie zu bewerkstelligen-
den "aufrechten Gangs".

 

 

 

 

 

 

 

 

Ohne auch nur das Wort
"Gesamtkunstwerk" vernom-
men zu haben, stellte ich
den Untergang von Atlantis
als Bühnengeschehen dar
und improvisierte gleich-
sam im "Orchestergraben"
ausschweifend auf dem
Klavier dazu ...

 

 

 

 

 

 

 

 

Die späte Atlantis wollte
einzig sein, einzig auf der
Welt, einzig im All, funkelnd
in der Nacht, von Bergerz-
Mauern umgeben, auf einem
schwarzen, ihren ganzen
Horizont ausmachenden
Ozean.

 

 

 

 

 

 

 

 

Über den massivhölzernen
Betthäuptern der "Buben"
waren kleine Kruzifixe, die
oben einen kleinen Ring
hatten, an einem Nagel
befestigt und konnten per-
pendikulär von uns aus
Langeweile in Bewegung
gesetzt werden, sodass mit
der Zeit auf den Betthäup-
tern halbkreisförmige
Kratzspuren entstanden.
Am verbotensten war,
diese Kreuze um den Nagel
rotieren zu lassen – wurden
wir dabei erwischt, setzte
es Körperstrafen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ich las etwa drei Jahre
hindurch der Reihe nach
alles von Thomas Bernhard –
ganz besonders in dem
Buch 'Ursache' fand ich
zahlreiche Parallelen zu
dem häuslichen Klima, in
dem auch wir aufwuchsen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wochenlang oft nur
gelesen – nicht nur "literar-
ische" Literatur, sondern
auch wissenschaftliche aller
Art im Selbststudium – und
nicht eine einzige Zeile selber geschrieben. Oft
war und bin ich nur dieser
"Gar-nix", der Leser halt,
der manchmal pro Tag
vierzehn Stunden am
Stück durchgelesen hat.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mein Schreibprozess ist
derart oft von mir unter-
brochen worden – nicht nur
durch andere Menschen,
sondern vor allem auch
durch mich selbst: durch
nicht-literarische Neigun-
gen, Obsessionen, Zwangs-
verhalten, Gegenzwangs-
Zwangsverhalten, Faulbett,
Erotomanie, Prokrastina-
tion, durch die Schwierig-
keit anzufangen, aber
auch aufzuhören usw. –,
dass er nur mehr noch
als "desultorisch" zu
bezeichnen ist: als sprung-
haft, unbeständig.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vielleicht bin ich in
diesen Monaten, manch-
mal Jahren sogar des
Briefe schreibenden
Verliebtseins wirklich in
meine Texte eingewickelt
wie eine Rose gewesen.
Eine schwebende, über
alles hinweggleitende,
immerglühende Existenz.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

An der Wurzel ist ein
Empfinden von Mangel.
Einen Schaden abbekom-
men zu haben, an dem ich
aber arbeiten könne, aus
dem ich mich herausarbeiten
könne. Warum einen
Schaden abbekommen?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ich führte ein neurotisches,
halbentjungfertes, selbstbe-
schädigendes, melusinen-
haftes Leben bisexuell-
prägenitalen Verzaubert-
seins
, das unter den vitalen
Möglichkeiten eines er-
wachsenen Mannes blieb.
Wenn mir jemand helfen
wollte, musste ich ihn von
mir stoßen; mir ist in Kern-
fragen – denn die sind die
bis in den Kern, den es
vielleicht gar nicht gibt,
beschämenden – noch nie
zu helfen gewesen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ludwig Hohl hatte in
seiner Genfer Kellerwoh-
nung jahrzehntelang auf
Wäscheleinen seine Notiz-
seiten aufgehängt, sie
immer wieder umhängend,
davor sinnend, rauchend,
trinkend. "Alkohohl"  wurde
er bereits genannt. Er konnte
sich nicht entschließen,
sie in die richtige Reihen-
folge zu bringen, denn
es gibt keine.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ein weiterer Behelf wäre
die modernere Vorstellung,
künftig in Projekten zu
denken
, also auch – wie
Raimund Bahr – zu einem
Textfabrikanten zu werden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Noch immer empfehle und
verschenke ich seinen
Roman 'Ferdydurke', als
mein definitives Lieblings-
buch. Dieser Autor hatte es
zustande gebracht, mich,
diesen Tanzmuffel, stunden-
lang nachts alleine auf
einer Parkbühne tanzen
zu lassen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Oder in der Selbstbehext-
heit durch das Schreiben
werden im Schreibprozess
selber plötzlich diese
Figuren erkennbar bzw.
tun sich auf. Nur in diesen
Momenten bin ich mir
ganz sicher, doch ein
Autor zu sein.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Frage, ob der Schriftstel-
ler "vom Schreiben leben"
könne, ist eine durchaus
gemeine, die andere Leute
nichts angeht, es sei denn,
sie wollten einem Geld
 geben oder einen Auftrag.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Raimund Bahr z. B. nennt
sich einen "Textfabrikanten",
Günter Herburger setzte
fürs Schreiben eigene
"Bürozeiten" fest, Hermann
Lenz sprach von Schriftstel-
lerpärchen, die zusammen
"eine Schriftstellerei auf-
machen". Auch gibt es
manchmal "Werkstatt-
gespräche" mit Autor-
Innen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Reiseschriftsteller führt
sowieso meist nur eine
kleine, transportable Habe
mit sich und bezieht eine
Menge verschiedener
Unterkünfte, einschließlich
die unter freiem Himmel.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Den Beruf des Schrift-
stellers gab es in der Raiffei-
senkasse ganz einfach
nicht! Auf seiner Screen
überblickte der Bankange-stellte eine wohl dreistellige
Liste von unterschiedlichen
Berufen – darunter so ent-
legene Berufe, dass ich
bei dieser Gelegenheit
zum ersten Mal von ihnen
überhaupt gehört hatte –,
jedoch keinen Schriftstel-
ler, Autor, Dichter ja
sowieso nicht.

 

   Die Frage nach der Poetik zielt für den literarisch Schreibenden ganz automatisch auf die letztlich eigene Poetik. Trotzdem wäre eine panoramatische Orientierung im poetologischen Feld der Herausarbeitung und Standortbestimmung einer solchen eigenen Poetik nicht ganz abträglich. Anstatt nun aber "akademisch" eine Art Lexikonartikel über das, was Poetik bisher hieß, zusammenzustellen und die Zuhörerschaft zu langweilen, behelfe ich mich einer indirekten Herangehensweise, indem ich Stichworte zum eigenen literarischen Werdegang locker mit poetologischen Themen verknüpfe.

Im Laufe meines Schreiberlebens habe ich etliche Aufzeichnungen und Exzerpte zur Poetik gemacht, die von mir als Bausteine, als Elemente einer künftigen eigenen, dann durchformulierten Poetik, die Hand und Fuß hätte, vorerst in Ordnern abgelegt und abgelagert wurden. Die seinerzeit etwas melagoman-frühreife Vorstellung, vielleicht eines Tages selber gar eine "Frankfurter Poetikvorlesung" halten zu dürfen, hat mich diesbezüglich ehrgeiziger gemacht, als es sinnvoll gewesen wäre. Viele jener bei Suhrkamp erschienenen 'Frankfurter Poetikvorlesungen'(2) war ich im Laufe der Jahre durchgegangen, wobei mich der subjektive Charme dieser Versuche bestach, da er mich von der Strenge philosophischer, aufs Allgemeine zielender Arbeit entlastete. Ich komme ursprünglich von der Philosophie her, die mir nicht genügte: In den kalten Hallen des Allgemeinen, Allgemeingültigen fühlte ich mich zum Wurm herabgedrückt, trotz aller Beschwörungen eines durch die Philosophie zu bewerkstelligenden "aufrechten Gangs". Mein Leben einem allgemeinen Muster, weniger einer Matrix als einer Patrix, zu unterwerfen, den Subjektverzicht oder gar den "Unterwerfungstod" (Horst-Eberhard Richter) auf mich zu nehmen, konnte mir nicht schmecken. Das "sustine et abstine" des Epiktet – zu deutsch: "trage und entsage" –, mundete mir zu bitter; die Kärrnerarbeit am Bau der Wissenschaften wurde mir durch die schlechten Aussichten am akademischen Arbeitsmarkt auch nicht gerade versüßt.

   "Ein Käfig ging einen Vogel suchen", heißt es bekanntlich einmal bei Kafka. Doch auch umgekehrt sucht manchmal der Vogel, besonders der Grünschnabel, seinen zu ihm passenden Käfig, immer dann, wenn er freiwillig sich einer allgemeinen Ordnung, einem allgemeinen Prinzip, einer Weltanschauung, Ideologie, Religion, aber auch einer "Ästhetischen Theorie" oder eben einer Poetik, einer "Schule" oder ganz einfach – was dann oft nicht "ganz einfach" wird – einem in diesen Dingen erfahreneren Menschen als "Meister" sich in selbstverschuldeter Unmündigkeit unterzuordnen bereit findet. Also könnte hinsichtlich der Fragestellung unseres diesjährigen Strobler Zusammentreffens zunächst einmal die Unterscheidung getroffen werden zwischen einer heteronomen und einer autonomen Poetik. Wirkliche "Naturtalente" sind selten, und kämen sie vor, würden sie im Laufe der schulischen Sozialisation bald beirrt werden. Kein Schreiber fällt geradewegs vom Himmel. Nicht nur legt sich nicht von selbst die vollentwickelte Sprache auf die Zunge des Kleinkindes, sondern auch das Schreiben will erlernt sein, was oft mühsam sich gestaltet. Zwar gibt es die pubertätstypischen Anflüge zu genialischem Dichten, doch schon diese Jünglingsversuche (was entspricht beim weiblichen Geschlecht dem "Jüngling" mit all seiner pathetischen Befrachtetheit?) sind epigonenhaft anderen Dichtern abgelauscht: Als Gymnasialschüler las man Gryphius, Hölderlin, Trakl, Stefan George, Brecht, Hans Magnus Enzensberger – und dann wurde vielleicht in einem geheimen schwarzen Wachstuchheft in nachempfindender Weise der empfangene Ton und Rhythmus stimmgabelnachklingend aufgegriffen, für sich selber paramimetisch billig abgezweigt.

Es war bereits der Schulunterricht, namentlich Deutschunterricht, der einerseits zu eigenen Schreib- und Dichtversuchen mich angeregt, andererseits mich aber auch konsterniert hatte. Dass die Verskunst eine komplizierte Lehre sei, hat mich selber damals das Schreiben frei-rhythmischer Zeilen als ein "verbotenes Schreiben" empfinden lassen. Sei es gesagt: Vermutlich durch Schiller-Dramen sowie durch die Bibel-Lektüre bin ich zu ersten – mehr noch dramatischen als lyrischen –  Dichtversuchen gelangt, die Weltuntergänge zum Inhalt hatten. Wenn man einmal von den kindlichen Versuchen von früher absieht, Gelegenheitsgedichte und Texte komischer Natur zu schreiben, die noch herzhaft und unbekümmert um irgendwelche "Lehren" aus dem Vollen griffen, so wie es sich dem Kinderblick naiv darbot, ausschließlich auf den Effekt, auf das Gefallen, auf die Erheiterung und den Applaus des Publikums bedacht. Ohne auch nur das Wort "Gesamtkunstwerk" vernommen zu haben, stellte ich den Untergang von Atlantis als Bühnengeschehen dar und improvisierte gleichsam im "Orchestergraben" ausschweifend auf dem Klavier dazu, entwarf aber auch die Bühnenbilder und Choreographien. 'Atlantis oder Die Tilgung des Firmaments' waren diese Skizzen betitelt. Auf Atlantis, das unmittelbar vor dem Untergang stand, war ein kultischer Massenwahn ausgebrochen: Durch das Opfern von Menschen hoffte man, die Sterne ausradieren zu können, man wollte die "totale Nacht“ auf dem Himmel herstellen. Da es aber mehr Sterne auf dem Himmel gibt als Atlantier, versinkt die stolze, in sich abgeschlossene Insel, auf der ich die Erfindung des Teleskops anachronistisch vorwegnehmen ließ, zuerst im Blutvergießen, dann im Ozean, in einem Ozean voll Blut. Dass Atlantis einst eine Handelsmacht war, war den Atlantiern dieser Spätzeit in Vergessenheit geraten, die nur mehr den Blick auf den Sternenhimmel als einer ewigen, nicht zu Ende kommenden Aufgabe des Ausradierens sowie auf den Boden gerichtet hatten, auf dem sie sich bewegten und in ihren Häusern vor den "Racheengeln" des von der Priesterkaste beherrschten Staates verschanzten, aus denen sie von den Bütteln herausgetrieben wurden, die mattgoldene Augenbinden trugen, durch die aber Sehschlitze geschnitten waren. Es war ein auf den Kopf gestellter, pervertierter ägyptischer Totenkult: es war der Kult, nicht die Toten zu konservieren (was ja auch die Pyramidenspitze der altägyptischen Kollektivbemühung, förmlich deren hieratischen Staatszweck darstellte), sondern durch stellvertretendes Töten die Sterne – sonst oft Symbole für die dahingeschiedenen, in den Himmel nunmehr versetzten Seelen – vom Himmel wegzubekommen, "diesen glitzernden Schotter vom Firmament zu wischen". Warum? Weil diese Sterne einen unermesslichen Plural bedeuteten, eine Vielzahl anderer Welten. "Die Vollzähligkeit der Sterne" (Hans Blumenberg) sollte in den schwarzen Sack der Vernichtung, der Annihilation gelangen. Die späte Atlantis wollte einzig sein, einzig auf der Welt, einzig im All, funkelnd in der Nacht, von Bergerz-Mauern umgeben, auf einem schwarzen, ihren ganzen Horizont ausmachenden Ozean. Der Gottkönig dieses Staates hatte – in meinem Drehbuch – den Rat der Unterkönige ausgeschaltet und sich an die Spitze gesetzt. Er war der Mono-Theós. In der finalen Szene sehen wir ein letztes Häuflein Aufrechter und dem nekrophilen Massenwahn Un-Erlegener, die mit einem Ruderboot sich absetzen können, mit ungewisser Zukunft in der Weite des Meeres dahinschaukeln. Denn der spätatlantische Tilgungswahn war so weit gegangen, auch die Erdkarten und Archive des Welthandel treibenden Atlantis zu verbrennen und damit das geographische sowie navigatorische Wissen der großen atlantidischen Vergangenheit.

   Ich war damals, 1977, vierzehn Jahre jung und besuchte die vierte Klasse des Akademischen Gymnasiums in Salzburg. Erst ab 1978 wurde mir allmählich die Dimension der nationalsozialistischen Vergangenheit bekannt. Unser Haushalt, ein Lehrerhaushalt, der drei Generationen beherbergte ("Urahne, Großmutter, Mutter und Kind / In dumpfer Stube beisammen sind"), war konsequent fernseherlos, autolos und der Plattenspieler, den wir nebst einer einzigen Schallplatte mit Johann-Strauß-Walzern ('An der schönen blauen Donau') von einer Großtante geschenkt bekamen, funktionierte nicht. Jeder Versuch meiner beiden älteren Brüder, sich lange Haare wachsen zu lassen, wurde beschnitten – einmal von der Großmutter frühmorgens, als sie noch schliefen; mit der Schere schnitt sie ihnen ganz einfach die wieder einmal zu lang gewordenen "Zotten" ab. Über den massivhölzernen Betthäuptern der "Buben" waren kleine Kruzifixe, die oben einen kleinen Ring hatten, an einem Nagel befestigt und konnten perpendikulär von uns aus Langeweile in Bewegung gesetzt werden, sodass mit der Zeit auf den Betthäuptern halbkreisförmige Kratzspuren entstanden. Am verbotensten war, diese Kreuze um den Nagel rotieren zu lassen – wurden wir dabei erwischt, setzte es Körperstrafen. Knien auf Holzscheitern, Einsperren in den Kohlenkeller, Hiebe mit dem Pracker aufs entblößte Hinterteil, Ohrfeigen sowieso. Jene etwa 13 Zentimeter langen Kreuze waren, wie ich erst kürzlich herausgefunden habe, Brustkreuze, sogenannte Pektoralien von Frontgeistlichen aus dem Ersten Weltkrieg. Das Makabre daran war zusätzlich, dass zu Füßen des Angenagelten sich ein silberner Totenkopf auf schwarzem Grund befand. Ohne damals auch nur von den Totenkopfverbänden der SS gehört zu haben, erfüllte mich ganz besonders vor diesen kleinen Totenköpfen bereits im Vorschulalter nur Grauen. "Das werden einmal eure Sterbekreuze sein", sagte die Großmutter mütterlicherseits, uns zu beruhigen, die bei uns im Haus lebte und den Großteil des Haushalts besorgte, eine "Kriegerwitwe", deren beiden Söhne in den letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges gefallen waren, zu uns Jungen, die wir übrigens in den Betten dieser unserer gefallenen Onkel jede Nacht dem gütigen und gestrengen Auge des Herrgotts sowie der Schutzmantelmadonna anvertraut wurden, schliefen oder dösten, verbotene Polsterschlachten veranstalteten oder an unseren Geschlechtsteilen einen würdigen Ersatz für das Feldgeistlichenkreuze-Bewegen zu entdecken begannen. Einen freilich noch verboteneren Ersatz.

Es versteht sich von selbst, dass später Thomas Bernhard mein "Zungenlöser" werden würde – aber Bernhard begann ich erst 1984 zu lesen, mit 21 Jahren; es war das skandalisierte Buch 'Holzfällen', das mir zeigte, dass Opfer sich auch per Literatur rächen, subjektive Niederlagen in objektive Triumphe wenden konnten, dass Retourkutschen machbar sind. Ich las dann etwa drei Jahre hindurch der Reihe nach alles von Thomas Bernhard – ganz besonders in dem Buch 'Ursache' fand ich zahlreiche Parallelen zu dem häuslichen Klima, in dem auch wir aufwuchsen. Ein Teil meiner eigenen Geschichten aus meiner ersten ernstzunehmenden Schreibzeit handelt von der nacherlebenden Aufarbeitung meiner Kindheitssituation. Was mir schließlich klarer wurde: Es war nicht nur meine Kindheitssituation, sondern die vieler anderer meiner Generationsgenossen. Diese milieusoziologische Erkenntnis würde ich doch als ein Anzeichen von Reife an mir festhalten. Poetik hat es auch damit zu tun, das eigene Schreiben weniger zu messen als zu vergleichen mit schreibenden Vorgängern und Zeitgenossen, aber auch sich von den Wissenschaften, besonders der Geschichte informieren zu lassen. Das eigene Schreiben nicht auf Genie-Weise absolut zu setzen, sondern relativieren, in Beziehung setzen zu können zu einem weiteren literarischen Feld. Die Figur des "Poeta doctus" als Leitbild sogar manchmal, dem der Typus des "Polyhistors" in der Gelehrsamkeit entspricht.

   Sosehr ich mich immer gegen das "Brechen" von Menschen zur Wehr setzte und setze, muss ich doch erkennen, selber schließlich ein im Medium vielfältigster Reflexionen gebrochener Schreibercharakter geworden zu sein. Mehr ein Leser als ein Schreiber. Wochenlang oft nur gelesen – nicht nur "literarische" Literatur, sondern auch wissenschaftliche aller Art im Selbststudium – und nicht eine einzige Zeile selber geschrieben. Oft war und bin ich nur dieser "Gar-nix", der Leser halt, der manchmal pro Tag vierzehn Stunden am Stück durchgelesen hat, so den ganzen Freud beispielsweise sich einverleibend.  Lesen als Ausdauersport. Bei diesen Studien, die keine akademisch geregelten, sondern Privatstudien sind, verliere ich noch immer mein eigenes Schreiben wochenlang aus den Augen. Sie als "Arbeit" zu bezeichnen fiele mir nicht ein, als Mühe schon. Warum tut sich ein Mensch dieses an? Bevor ich diese Frage beantworten werde, möchte ich mein bisheriges Schreiberleben in fünf, teilweise noch immer ineinanderspielende Stadien teilen:

1. Zuerst das naive Stadium des vermeintlichen, zusätzlich an einem Neujahrstag geborenen Sonnenkindes, das das spezifische Grauen seines familialregionalen Hintergrundes und der Menschenwelt, in der es sich befindet, noch nicht wahrnimmt, mit der Kindersadistenkraft sich darüber hinwegsetzen könnend – ein Mensch des Theaters und der Feste, auch des Wettkampfs der frühesten Anlage nach;

2. Die pubertäre "Geniephase";

3. Die politische Phase (ein Mann wie Robert Jungk war damals eines meiner Vorbilder): Es ginge darum, in der Welt etwas zu bewegen, gegen Unrecht, Menschen- und Naturzerstörung aktiv anzukämpfen, die literarische Form ist dabei nur Mittel, nicht Zweck (meine UTOPIE I);

4. Das Stadium, in welchem ich – mich schon als Verletzten erkennend – versuchte, mir eine neue "Haut" zu schaffen: durch Lesen, Schreiben, Erleben und Wieder-Schreiben, Träumen und Träume-Aufschreiben und dadurch in Gang gebrachtes noch intensiveres Träumen mein Leben "neu zu erfinden", es gleichsam wie der "große Nik(o)las" im 'Struwwelpeter' in ein großes Tintenfass hineinzutunken (meine UTOPIE II), dem Freudschen Motto folgend: "Erinnern – Wiederholen – Durcharbeiten", der intensiven Dichte nach manchmal die Prosa Friederike Mayröckers mir zum "Vorbild" nehmend;

5. Das jetzige Stadium (des 50-Jährigen), in dem ich erkennen muss, dass ich mit all meinen Vorhaben ein Gelöcherter bin – mein Emmentalerstadium. Mein Schreibprozess ist derart oft von mir unterbrochen worden – nicht nur durch andere Menschen, sondern vor allem auch durch mich selbst: durch nicht-literarische Neigungen, Obsessionen, Zwangsverhalten, Gegenzwangs-Zwangsverhalten, Faulbett, Erotomanie, Prokrastination, durch die Schwierigkeit anzufangen, aber auch aufzuhören usw. –, dass er nur mehr noch als "desultorisch" zu bezeichnen ist: als sprunghaft, unbeständig. Oder anders gesagt: Ich kenne Lüste, die für mich stärker sind als die Lust am Schreiben, aber auch Zwänge, die für mich stärker sind als der Zwang zum Schreiben. Ich muss diese nun so oft schon erlebte Tatsache ohne Verlogenheit akzeptieren.

   Der Traum des Stadiums 4, mich neu zu erschaffen, mir gleichsam einen neuen Leib, eine durch "Erinnern – Wiederholen – Durcharbeiten" regenerierte Geschichte mir erschreiben zu können, mich mit einer Schutzhaut zu überziehen, mich lückenlos einzulackieren, mir existenziale Massivität oder auch einen ideoplastischen Astralleib-zu-Lebzeiten zu erlesen und zu erschreiben, keiner "Sinnlosigkeit" – und sei es auch nur der geringsten – eine Chance in meinem Leben mehr gebend, alles in einen poetischen Kosmos integrieren, rückholen zu können – dieses "apokatastatische" (3) Konzept ist an ein Ende gelangt, ist gescheitert. Und es wäre dem auch mit verstärktem Fleiß nicht nachzuhelfen. "Eine gefallene Schreibfeder muss man gleich aufheben, sonst wird sie zertreten." (Goethe, 'Maximen und Reflexionen') Sie ist bei mir längst von mir selber, durch meine Säumigkeit, Planverweigerung, Verlotterung zertreten und zertrampelt.

Naturgemäß bot die Tagebuch-, die Journalform sich ganz von selbst an, ein solches Kontinuum sich einzubilden.(4) Aber auch die Briefform, vor allem, wenn das Du, dem ich solche Briefe schrieb, ein Du der Liebe war. Vielleicht bin ich in diesen Monaten, manchmal Jahren sogar des Briefe schreibenden Verliebtseins wirklich in meine Texte eingewickelt wie eine Rose gewesen. Eine schwebende, über alles hinweggleitende, immerglühende Existenz. Auch der Tag spielte sich mit seinen Begebenheiten ihr zu, der eudämonische  Zufall war oft ihr hold.(5

   Ernst Bloch schrieb einmal von den Versuchen des Menschen, "menschenähnlich" zu werden. Ich hatte von irgendeinem Zeitpunkt weg einmal geglaubt, "noch kein richtiger Mensch" zu sein und am Menschsein – auch durch Aufnehmen von Bildungsgut – "arbeiten" zu sollen. An der Wurzel ist ein Empfinden von Mangel. Einen Schaden abbekommen zu haben, an dem ich aber arbeiten könne, aus dem ich mich herausarbeiten könne. Warum einen Schaden abbekommen? Ich war versucht, auch durch Vorbilder in Literatur und Wissenschaften verleitet, die Ursache für jenen Schaden nicht in mir, sondern in anderen zu suchen – oder im kapitalistischen Wirtschaftssystem, im noch weiterwirkenden Faschismus, verursacht zu sehen durch das Werk meiner Erzieher (ich hatte z.B. meine eigene Mutter als Volksschullehrerin und musste sie in der Schule vor den anderen Kindern siezen). Ich sah den Schaden nicht durch die Konstitution meines sterblichen und unvollkommenen Körpers, meiner vielleicht nur durchschnittlichen Intelligenz, nicht durch die Schwerkraft, nicht durch meine Gene, nicht durch die "Erbsünde" bedingt. "Entfremdung" war und ist ein Wort für mich, das noch immer gilt – in allen seinen Dimensionen. Es hat in meiner Kindheit auch eine sich über zwei Jahre hinziehende sexuelle Missbrauchsgeschichte durch einen Klavierlehrer gegeben, dies nur am Rande. Mein Leben begann ich ab einem gewissen Alter – dem der von anderen ertappten Geschlechtsreife – als ein "beschädigtes" wahrzunehmen. Ich führte ein neurotisches, halbentjungfertes, selbstbeschädigendes, melusinenhaftes Leben bisexuell-prägenitalen Verzaubertseins, das unter den vitalen Möglichkeiten eines erwachsenen Mannes blieb. Wenn mir jemand helfen wollte, musste ich ihn von mir stoßen; mir ist in Kernfragen – denn die sind die bis in den Kern, den es vielleicht gar nicht gibt, beschämenden – noch nie zu helfen gewesen. Alles galt es auf eigenem Wege mir geradezu zu erstalken. Wenn ich in Bibliotheken ging, dann beutemachend. Alle diese Beschäftigungen mit Literatur und Philosophie, Psychoanalyse sowie Mythologie waren auch verbohrte, verzwickt-und-verzwackte, skrupulöse Selbstheilungsversuche sowie Paranoia-Verwischungsversuche im Hexenkessel der Vorwürfe, die mir von meiner Umgebung wegen dieser "brotlosen Studien" zunehmend gemacht wurden.

Am schwersten fällt mir, mir mein eigener Einband zu sein. Es gelingt mir nur unter allergrößter Selbstüberwindung, meine sicher hunderten, um nicht zu sagen tausenden Notizen – jede für sich geschliffen – in Buchform einzusargen, obwohl ein solches Festbegräbnis, wie es eine Buchveröffentlichung jedesmal darstellt, etwas Erhebendes auch hätte. Statt etwas zu vernichten, ist es besser, es zu veröffentlichen. Die Hälfte meiner Tagebücher aus meinen Lebenszwanzigerjahren habe ich, da ich ihren Anblick nicht mehr ertragen konnte, in Stücke gerissen und entsorgt. Als Fragmentarist oder sagen wir Notizenmacher sind meine Vorbilder: Georg Christoph Lichtenberg, Nietzsche, Paul Valéry, Ludwig Hohl, Elias Canetti, Peter Handke auch. Zwar sind meine Notizen für sich geschliffen, wie Projektile oder Blitze aus meinem brütenden Denken hervorgeschossen und treffen auch, aber sie zu gruppieren ist ein Lebenswerk für sich schon. Ludwig Hohl hatte in seiner Genfer Kellerwohnung jahrzehntelang auf Wäscheleinen seine Notizseiten aufgehängt, sie immer wieder umhängend, davor sinnend, rauchend, trinkend. "Alkohohl"  wurde er bereits genannt. Er konnte sich nicht entschließen, sie in die richtige Reihenfolge zu bringen, denn es gibt keine. Er hatte dieses Problem lange meditiert, vielleicht auch von seiner Zuneigung zu Spinoza auf den Gedanken gebracht, die Notizen "more geometrico" anordnen zu können, schließlich aber musste er doch sich mit Heraklit behelfen, dass die schönste Ordnung in einem "Haufen durcheinandergeworfener Dinge" bestünde. Nicht grundlos hatte Lichtenberg seine Aufzeichnungen 'Sudelbücher' genannt. Nicht im Detail wird gesudelt, sondern in der "Architektur" des ganzen. Es wird kein Turm draus, nur eine ewig vor sich hinrottende Babylonische Baustelle. Übrigens kannte auch Nietzsche dieses Problem: mit immer schlechteren Augen aus der Vielzahl seiner Aufzeichnungen den Hauptbau eines Welt und Werte umstürzenden Werkes 'Der Wille zur Macht' aufzuziehen. In meiner Trilogie 'Steine und Bausteine' habe ich mich selber an diesen Problemen – teilweise ironisch und meinen glücklicherweise vorhandenen jederzeitigen Hang zur Groteske nutzend – abgearbeitet. Ich fasse dies in einem meiner Lieblingssätze zusammen: Das Schwierigste an der Schriftstellerei ist die Stellerei. Da mir immer noch seit der Phase 2 (ich nannte sie das pubertäre "Geniestadium") ein philosophisches Hauptwerk, ein Groß-Essay mit dem Titel 'Die Ethik der Unabgeschlossenheit' vorschwebt, zu dem ich bisweilen Materialien, Bausteine herantrage, wird meine Erleichterung nur darin zu finden sein, immer schwerelosere Gedanken als Luftballons, als Seifenblasen vor mir aufsteigen zu lassen.

   Der Fragmentarismus ist also für mich das Naheliegende, meiner Emmentalernatur gemäß. Ein weiterer Behelf – wenn ich so als Coach in eigener Sache mich mal instruieren darf – wäre die modernere Vorstellung, künftig in Projekten zu denken, also auch – wie Raimund Bahr – zu einem Textfabrikanten zu werden. Nicht mehr mich als ohnmächtiger Zauberer(6) in den zeichenübersäten Schutzmantel des Schreibens hüllend, sondern mich auf Projekte einlassend, diese beginnend und an ein Ende führend – und müsste ich die Deadlines immer erst im letzten Augenblick erhecheln. Also trotz aller Unabgeschlossenheits-Vorgaben doch auf den Abschluss drängend, den andererseits doch so lustvollen Schlusspunkt setzen könnend.

Einen erwachsenen Liebesroman könnte ich zum Beispiel nicht schreiben. Erschwingbar ist mir aber die Groteske. Hier war die Begegnung mit dem Werk von Witold Gombrowicz das schlechthin mich Freisetzende. Noch immer empfehle und verschenke ich seinen Roman 'Ferdydurke', als mein definitives Lieblingsbuch. Dieser Autor hatte es zustande gebracht, mich, diesen Tanzmuffel, stundenlang nachts alleine auf einer Parkbühne tanzen zu lassen. Gerade in 'Ferdydurke' nahm ich eine Reihe interessanter Symmetrien wahr, die literaturwissenschaftlich noch nirgendwo analysiert worden sind. Und ich nehme solche Symmetrien auch bei meinem eigenen Erzählen wahr, das leider so selten geschieht und doch weitaus origineller ist als das Aphorismen-Schreiben. Ein guter Aphorismus ist ja so beschaffen, dass er jederzeit auch von einem anderen guten Aphoristiker stammen könnte. Der Aphorismus steht der Philosophie noch nahe, die auch dem Allgemeinen mehr als dem Besonderen gewidmet ist; zwar ist er ein Splitter des Besonderen, der aber ins Allgemeine fällt.

   Das oft erst nachträgliche Entdecken der Symmetrien, der Kreise, die sich schließen, der Entsprechungen im Schreiben von Erzählprosa selbst, ist faszinierend. Diese Figuren tun sich von selber auf, sie sind wie der Lohn für die Bemühung, drangeblieben zu sein. Oder in der Selbstbehextheit durch das Schreiben werden im Schreibprozess selber plötzlich diese Figuren erkennbar bzw. tun sich auf. Nur in diesen Momenten bin ich mir ganz sicher, doch ein Autor zu sein. Denn hier gelingt es mir, ins Neue vorzustoßen und nicht das Altbekannte und Vorausgeplante nur zu reduplizieren.

Um diese vielleicht noch etwas änigmatisch klingenden "inneren Geometrien" erzählender Prosa zu konkretisieren, möchte ich aus einem kürzlich entstandenen Erzähltext eine Passage bringen: 

Einer deiner Brüder war mit Gewalt dazu gezwungen worden, zum Rechtshänder umzusatteln – bis heute klagt er über die Unnatürlichkeit dieses Zwangs. Seine ganze Schrift sei dadurch durcheinandergeraten, er habe jahrelang keine schöne Handschrift haben können, weil man ihn ohne Einsicht in die Tatsache, dass es Linkshänder gibt, zum Rechtshändertum mit unsanfter pädagogischer Gewalt umdressiert hatte. Und das nur, weil die Eltern kein von der Konvention abweichendes Kind, keinen Behinderten, wie sie für sich sagten, haben wollten, weil wodurch hätten sie das verdient? Ein ordentliches, normales, gesundes Kind gebrauche die Rechte, die linke Hand sei ja lediglich eine Hilfshand, nicht die Haupthand. Es handle sich lediglich um eine schlechte Angewohnheit, die früh abzustellen sei. Hänschen müsse jetzt lernen, was sonst Hans nicht mehr so leicht lernen würde: die Rechte zu gebrauchen. Es sei ja das Erlernen einer lebensnotwendigen Kompetenz, wie Schnäuzen und Hinternabputzen. Er putze sich ja auch schon jetzt mit der Rechten den Hintern, na eben, und er schnäuze sich ja auch brav mit der Rechten – sofern er nicht den Rotz einfach nur am rechten Jackenärmel abwische, was er ebenfalls sich abgewöhnen müsse, da der Ernst des Lebens begänne –, "siehst du ja, es geht, also warum schreibst du nicht auch brav mit der rechten Hand, mit der guten Hand?" So redeten ihm die Eltern zu. Sie wollten ordentliche Kinder – und nicht nur das: Sie wollten ausgezeichnete Kinder, sie wollten, dass ihre Kinder die Besten in der Schule seien, und man würde sie auf dieses Ziel wenn nötig mit Gewalt hindressieren, hinzüchtigen. Aus gesunden Kindern könne man, wenn man dahinterwäre, alles machen; sie sind noch frisch und weich wie Wachstafeln.

Die Mutter hatte ihren Vater, einen kriegsinvaliden Tabak-Trafikanten, schon mit vierzehn Jahren als Mädchen verloren, worauf sie oft, wie wenn es sich dabei um eine Leistung handelte, hinwies. Den Eltern könne man hinsichtlich von Härte, darin stimmten sie beide sofort überein, überhaupt gar nichts vormachen – denn in so jungen Jahren den ganzen Weltkrieg durchmachen zu müssen, wer könnte schon allen Ernstes ihrer Generation das Wasser reichen, was Durchhalten, Disziplin, Eifer betrifft? "Unsere Generation war eine andere." Ihnen könne überhaupt niemand etwas erzählen. Wer solches nicht durchgemacht habe, könne ihnen nichts erzählen – und dürfe es auch nicht. Wer nicht diesen Krieg durchgemacht hatte, war ja schon von vornherein unmündig, ohne Mund, wie die bedauernswerten Schulkameraden, denen es manchmal den Mund, den Unterkiefer weggefetzt hatte. Der Muttervater war allerdings wiederum durch seinen, den Ersten Krieg einarmig gemacht worden, in Italien war ihm nach einer Granatenverletzung der rechte Arm ohne Narkose abgesägt worden und mit allergrößter Mühe hatte er dann lernen ("umlernen") müssen, mit der linken Hand zu schreiben. Er dachte zuerst, es niemals erlernen zu können. Er malte auf liniertes Papier am Anfang senkrechte Striche, dann Kreise, und verband diese Zeichen zu Buchstaben. Ein kleines A oder kleines D oder kleines B konnte man auf diese Weise zum Beispiel schon formen. Auch das T – "T wie Tod" – war hinzukriegen. Es ging schon. Doch der zum Invaliden gemachte Gebirgsbauernsohn Sepp tat sich mit dem Schreiben schwer, er schrieb nicht gerne, er schrieb schon vorher nicht gerne, nachher dann nur noch, wenn er musste. Deshalb sind auch nur ganz wenige Schriftproben von ihm enthalten. Dieser Großvater wäre froh gewesen, wenn er seine rechte Hand noch gehabt hätte, wurde dem angeblich schreibbehinderten Enkel Wolfgang, der achtzehn Jahre nach dem Tod des Großvaters geboren worden war, vorgehalten. Er konnte sich einen Mann mit nur einem Arm gar nicht richtig vorstellen. Ihm wurde nicht klar, was dieser verlorene Arm, der übrigens gleich in Italien verblieben war, mit seinem eigenen rechten Arm zu tun haben sollte. Der ihm als Vorbild vorgehaltene Großvater, der im fortgeschrittenen Alter noch umlernen konnte (weil er umlernen hatte müssen), mit der anderen, noch verbliebenen Hand zu schreiben, malte ja mit der Linken nur sehr brüchige, klobige, unbeholfene und sehr große Zeichen mühsam auf das linierte Papier, während Wolfgang ja mit seiner Linken schon im Vorschulalter ziemlich flüssig ("wie ein Alter") schreiben und sogar eigene Gedanken und Erlebnisse festhalten konnte. Zuerst war Wolfgangs selbsterlerntes Schreiben von allen bewundert worden, denn mit fünf Jahren konnte er bereits schreiben, wie sein Vornamensgeber Mozart mit fünf bereits komponieren konnte, was die Eltern überall prahlerisch herumerzählten und den Jungen vorführen ließen. Dass es mit der Linken war, schien zuerst kein Problem, da für ein Kinderspiel gehalten, zu sein, ganz im Gegenteil: "Sogar mit der Linken!", prahlten die stolzen Erzieher, die hier ja gar nichts erzogen hatten, weil sich Wolfgang das Schreiben selber – wie er heute sagt: aus Langeweile – beigebracht hatte. Erst bei Schuleintritt war das Schreiben mit der Linken ausdrücklich zu einem Problem geworden, zumal der Junge mit der Rechten nicht hatte schreiben können, sich damit genauso schwertat wie ein Rechtshänder mit der linken Hand. Wolfgangs Eltern waren beide Lehrer von Beruf und unterrichteten in der Gemeindeschule in jenem Dorf, das am Fuße sehr schroffer Berge lag. Der Lehrer, der Wolfgang in der ersten Klasse nun unterrichtete, war also Kollege seiner Eltern. Diese mussten nicht eigens wie die Eltern anderer Kinder vorgeladen werden, sie konnten ganz einfach vor dem Konferenzzimmer auf dem Pausengang angesprochen werden. Es ginge nicht, dass Wolfgang mit der Linken schreibe, wurde ihnen von dem alten Nazilehrer eröffnet. Es sei zwar löblich, dass er schon schreiben könne, aber er schreibe leider mit der Linken und griffe dem Lehrstoff vor, ja prahle mit seiner vorwitzigen Fertigkeit, sowieso schon alles zu können. Dann brauche er aber, so der Lehrer, gar nicht mehr zur Schule zu gehen, wenn er ohnehin schon alles könne. Außerdem sei seine selbsterworbene Handschrift eigen, meinte der Lehrer, das könne so nicht weitergehen, das müsse man ihm rechtzeitig abstellen. Am besten, das Kind würde das Schreiben wie alle anderen auch neu, von der Pieke auf erlernen, beginnend mit dem Buchstaben I statt mit dem A. Das I eigne sich ja, wie man pädagogisch wisse, ganz besonders gut zum ersterlernten Buchstaben, weil es dargestellt werden könne als ein strammstehender Mann mit einem I-Punkt als Köpfchen. Man käme ja der Kinderseele durchaus entgegen, "so ist es ja nicht!" Aber etwas guter Willen sei schon auch vorauszusetzen.

Und jetzt lassen wir diese Geschichten verrotten.

   Bevor ich diese im Wesentlichen selbsterlebte Geschichte schrieb, war mir noch nie der Gedanke gekommen, das Trauma des Bruders, vom Links- zum Rechtshänder "umsatteln" zu müssen, mit dem Armverlust des Großvaters mütterlicherseits in Beziehung zu setzen – der frühe Tod des Großvaters war wiederum ein Trauma der Mutter, die mit vierzehn ihren Vater verloren hatte. So kann in diesem Fall Schreiben plötzlich heimliche familienbiographische Lineamente sichtbar machen, die Textur des von Sigmund Freud so genannten "Familienromans".

Zum Abschluss möchte noch eine leidige Frage kurz angesprochen werden: die Frage der schriftstellerischen Existenz. Witold Gombrowicz meinte, man würde zum Schriftsteller, indem man nur lange genug  "Schriftsteller spiele".

Wirst du gefragt: "Kannst du vom Schreiben leben?", weichst du in die Poetik aus; sollst du deine Poetik formulieren, sprichst du stattdessen ausführlich vom Prekären des "Berufs Schreiben". Die Frage, ob der Schriftsteller "vom Schreiben leben" könne, ist eine durchaus gemeine, die andere Leute nichts angeht, es sei denn, sie wollten einem Geld geben oder einen Auftrag. Mit dieser Frage halten sie sich schadlos, zwar einen womöglich langweiligen Beruf, keinen Wunschberuf gewählt zu haben, aber immerhin dafür über ein geregeltes Einkommen zu verfügen. Wirklich prominenten Schriftstellern wird diese Frage auch nicht gestellt.

   Vom Schriftsteller wird wenigstens erwartet, dass er, wenn er auch mit seinem Schreiben noch nichts Nennenswertes verdiene, so doch seinen Wunschberuf gewählt habe. Man erwartet – und nicht nur sein Publikum erwartet das –, dass er seinen Schriftstellerberuf existenzialisiere, ihn als sogenannte "Berufung" lebe. Dieser Jargon, der von "Berufung" spricht, erinnert an den Klerus, in dem bei Priestern auch von deren "Berufung" gesprochen wird, obwohl es viele recht langweilige Priestergestalten gibt, deren innere Flamme längst erloschen ist oder nie vorhanden war. Dass man in den Schriftstellerberuf jedoch einfach hineinrutschen, hineinschlittern könnte, sich in ihm auf einmal vorfinde, wird selten erörtert oder einbekannt.

Raimund Bahr z. B. nennt sich einen "Textfabrikanten", Günter Herburger setzte fürs Schreiben eigene "Bürozeiten" fest, Hermann Lenz sprach von Schriftstellerpärchen, die zusammen "eine Schriftstellerei aufmachen". Auch gibt es manchmal "Werkstattgespräche" mit AutorInnen. Alles Versuche, das Herstellen von Literatur mit Analogien aus anderen Produktionsverhältnissen und Arbeitswelten zu legieren und zu konkretisieren. Alexandre Dumas etwa schrieb seine Bestseller möglicherweise nicht alleine selbst. Gar 51 Bücher in den 1840er Jahren? Es wird öfters behauptet, dass er seine Romane im großen Umfang von anderen schreiben ließ und dann nur kurze Passagen hinzufügte oder Streichungen vornahm und abschließend das Manuskript großzügig mit dem Siegel seiner Autorschaft versah.(7)

   Bei Dumas hätten wir dann wirklich im gar nicht mehr ironischen Sinne einen klassisch kapitalistischen Textfabrikanten des 19. Jahrhunderts, der andere, anonym bleibende Mitarbeiter beschäftigt, möglicherweise sogar ausbeutet. Herburgers Konzept dagegen gleicht einer Ich-AG, die sich mit Hilfe der Bürofiktion stabilisiert, die "Schriftstellerei" von Lenz hingegen einer Offenen Handelsgesellschaft. Dann gibt es auch noch manchmal  den dezidiert sich proletarisch verstehenden Autor, der sich einen "Arbeiter" nennt und seine Produktion entsprechend rationalisiert und übergeordneten revolutionären Maßgaben unterwirft, sie in diesem Sinne effektiviert. Bei der "Werkstatt" ist noch Zünftig-Handwerkliches im Spiel oder sie ist der bildenden Kunst angelehnt: Die "Werkstatt" wäre somit das Atelier des Autors, das vielleicht gar nicht räumlich bestehen muss, sondern nur im Kopf "vorhanden" sein kann. Der Reiseschriftsteller führt sowieso meist nur eine kleine, transportable Habe mit sich und bezieht eine Menge verschiedener Unterkünfte, einschließlich die unter freiem Himmel. Diese Beispiele mögen genügen, um feststellen zu können: Die soziale Lage, "Stellung" des Autors ist eine prekäre, nicht klar festlegbare. Nur sekundär werden aus anderen Berufsbranchen habituelle Muster und Rollen je nach Neigung entlehnt. Vom Dandy oder dem Poète maudit  haben wir übrigens noch gar nicht gesprochen.

Eine selbsterlebte Anekdote noch: Auf dem Höhepunkt Wirtschaftskrise des Jahres 2008 zogen viele Kunden aus Angst vor einer Hyperinflation ihre Sparguthaben von den Banken ab, der sogenannte "Bank-Run" stand im Bereich des Möglichen. Sie versuchten an diesen Tagen, ihre Sparvermögen z.B. in Gold sicherer anzulegen; sehr bald rückten die Geldinstitute kein Gold mehr heraus. Ich hingegen hatte damals vor, in der Raiffeisenkasse von Gallneukirchen ein Sparbuch zu eröffnen und brachte in meiner Tasche einen Betrag von 15.000 Euro mit. Man denkt: Die Banken könnten doch froh sein, wenn zur Abwechslung einer mal in diesen unsicheren Zeiten nicht sein Konto auflöst, sondern sogar eines – und sei es gegen jede Vernunft – eröffnen möchte. Doch dieser vermeintlich simple Routinefall gestaltete sich zu einer halbstündigen Prozedur, weil auf einmal verlangt worden war, dass der Kunde seinen Beruf angeben müsse. Als ich "Schriftsteller" angab, begann für den jungen Schalterangestellten und mich ein mühsames, ja schweißtreibendes nicht so heiteres Beruferaten. Den Beruf des Schriftstellers gab es nämlich ganz einfach nicht! Auf seiner Screen überblickte der Bankangestellte eine wohl dreistellige Liste von unterschiedlichen Berufen – darunter so entlegene Berufe, dass ich bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal von ihnen überhaupt gehört hatte –, jedoch keinen Schriftsteller, Autor, Dichter ja sowieso nicht. Wieder einmal machte ich die mich vor den Kopf stoßende Erfahrung, keinen "gescheiten" Beruf zu haben. Der Bankangestellte half mir aus der Klemme, indem er mich nach 20-minütigem gemeinsamen Herumprobieren schließlich mit meiner nur sehr zögernden Einwilligung unter "holzverarbeitende Industrie" einordnete.  Wohl war mir dabei nicht. Thomas Bernhard, um ein starkes Beispiel zu nehmen, hätte also ohne eine solche Lüge in Oberösterreich auf dem Land im Jahre 2008 kein Raika-Sparbuch eröffnen können.

   Anders herum: Wäre Franz Kafka vor Gericht gestanden, hätte es geheißen: "Der Beschuldigte, Dr. jur. Franz Kafka, Versicherungsangestellter", nicht Schriftsteller – und hätte er bis dahin schon seine unsterblichen Werke verfasst gehabt. Höchstens "Versicherungsschriftsteller" wäre als Berufsbezeichnung gerade noch durchgegangen. Über seinen sogenannten "Brotberuf" schrieb Kafka an Milena Jesenská allerdings: "Mein Dienst ist lächerlich und kläglich leicht ... ich weiß nicht wofür ich das Geld bekomme".(8)



Anmerkungen

(1) Vortrag bei den Strobler Literaturtagen (vom 16. bis 21. Juli 2013), die diesmal der Poetik gewidmet waren. Die weiteren Vortragenden waren: Peter Simon Altmann, Raimund Bahr, Holger Fath, Sascha Garzetti, Regina Hilber, Rainer Hoffmann, Erika Kronabitter und Su Tiqqun.

(2) Die erste dieser Poetik-Vorlesungen hielt Ingeborg Bachmann im Wintersemester 1959/60 an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.

 (3) "Apokatastasis" – übersetzbar etwa mit "Wiederherstellung", "Wiederbringung", aber auch "Neuordnung" oder "Herstellung" bzw. "Verwirklichung" ist ursprünglich eine theologische Lehre von der Wiederherstellung aller Dinge am Ende der Zeiten. Als zyklisch-teleologisches Geschichtsbild geht diese Lehre ausgehend von einem durch Abfall der geschaffenen Wesen vom Schöpfer ("Apostasis") verlorenen Zustand hin zu einem Zustand der Versöhnung und Einheit aller Wesen mit Gott aus, so wie es am Anfang gewesen sein soll. Wie der Prozess bis dahin aussieht, wird unterschiedlich gesehen. Sofern dies für alle gefallenen Wesen gilt, wird auch von apokatastasis panton, restitutio omnium (quae locutus est) gesprochen. Die ursprüngliche Apokatastasis-Doktrin ist jedoch von späteren Lehren einer "Allaussöhnung" bzw. Allversöhnung zu unterscheiden, die meist von einem neuen, noch nicht dagewesenen Zustand der Harmonie zwischen Schöpfer und Geschöpf ausgeht.

 (4) Die ständige Mitschrift bietet sich an, die Führung eines Journals, um keine Stauungen aufkommen zu lassen und dem natürlichen Nacheinander all dieser Dinge des Schreibens – es sei denn, wir befänden uns im Moment des Urknalls oder von etwas dazu Analogem in unserer Biographie – Rechnung zu tragen. Die Aufschreibweise auch von Gleichzeitigem kann nur im Nacheinander erfolgen, selbst wenn wir versuchten, mit allerlei Tricks und disseminativen Schocks diese Richtung, Gerichtetheit des Nacheinander zu unterlaufen.

(5) Ob wir uns in Briefen, vor allem Liebesbriefen, schöner und edler darstellen, als wir sind, ob Briefe deswegen irgendwie "verlogen" seien – Strindberg meinte dazu: "Und der Geliebte ist nicht unwahr in seinen Liebesbriefen. Er macht sich nicht besser als er ist; er wird besser, und ist es in diesem Augenblick. Er ist wahr in diesen Augenblicken; den größten, die das Leben schenkt!" (August Strindberg: Aus dem Blaubuch. In: Die Republik. Hrsg. von Petra und Uwe Nettelbeck, Nummer 61-67/28. Februar 1983, S. 235)

(6) Der Psychoanalytiker Géza Roheim nannte einmal den Schizophrenen einen "gescheiterten Magier".

(7) Jedoch war Dumas der Ältere im Besitz einer magischen Katze, die jedesmal vorahnungsvoll an der Tür kratzte, ganz unruhig wurde, bevor er nach Hause kam. Einer telepathischen Katze, meint M. Oldfield Howey sogar (Die Katze in Magie, Mythologie und Religion, Wiesbaden: Fourier, 1991, S. 265). Nun kann ich für gar nichts mehr garantieren. Ließ er die Katze schreiben?

(8) Ludwig Fertig untersuchte in seinem Buch 'Abends auf dem Helikon' insgesamt 100 Dichterbiographien hinsichtlich ihrer "Brotberufe" von Lessing bis Kafka. Sehr häufig findet sich der Lehrerberuf, aber es gab auch dichtende Naturwissenschaftler und Ärzte – etwa Georg Büchner (der von diesem seinem Doppelleben sagte: "am Tage mit dem Skalpell und die Nacht mit den Büchern"), Alfred Döblin, Gottfried Benn –, Pfarrer (Eduard Mörike, Jeremias Gotthelf). Lessing arbeitete als Bibliothekar, E. T. A. Hoffmann war Regierungsrat. Vgl. Ludwig Fertig: "Abends auf dem Helikon". Dichter und ihre Berufe von Lessing bis Kafka, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1996.  – Vgl. auch Bernard Lahire: Doppelleben – Schriftsteller zwischen Beruf und Berufung, Berlin: Avinus-Verlag, 2011.

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