
(c) Reinhard Winkler
Peter
Hodina
peterhodina [at] hotmail.com
geboren 1963 in Salzburg.
Studium der Theologie, Philo-
sophie, Politikwissenschaft
und Publizistik in Salzburg.
Lebt und arbeitet als freier
Autor in Gallneukirchen
(Österreich) und Berlin.
Preise
Harder Literaturpreis
(2000). Förderpreis der
Rauriser Literaturtage (2004).
Veröffentlichungen
Die Meuterei der Lemminge,
Essay (Hecht-Druck, 2001).
Steine und Bausteine 1/2.
(Avinus Verlag, 2009/10)
Biographie
Peter Hodina
Ich komme ursprünglich
von der Philosophie her,
die mir nicht genügte: In
den kalten Hallen des
Allgemeinen, Allgemein-
gültigen fühlte ich mich
zum Wurm herabgedrückt,
trotz aller Beschwörungen
eines durch die Philoso-
phie zu bewerkstelligen-
den "aufrechten Gangs".
Ohne auch nur das Wort
"Gesamtkunstwerk" vernom-
men zu haben, stellte ich
den Untergang von Atlantis
als Bühnengeschehen dar
und improvisierte gleich-
sam im "Orchestergraben"
ausschweifend auf dem
Klavier dazu ...
Die späte Atlantis wollte
einzig sein, einzig auf der
Welt, einzig im All, funkelnd
in der Nacht, von Bergerz-
Mauern umgeben, auf einem
schwarzen, ihren ganzen
Horizont ausmachenden
Ozean.
Über den massivhölzernen
Betthäuptern der "Buben"
waren kleine Kruzifixe, die
oben einen kleinen Ring
hatten, an einem Nagel
befestigt und konnten per-
pendikulär von uns aus
Langeweile in Bewegung
gesetzt werden, sodass mit
der Zeit auf den Betthäup-
tern halbkreisförmige
Kratzspuren entstanden.
Am verbotensten war,
diese Kreuze um den Nagel
rotieren
zu lassen – wurden
wir dabei erwischt, setzte
es Körperstrafen.
Ich las etwa drei Jahre
hindurch der Reihe nach
alles von Thomas Bernhard –
ganz besonders in dem
Buch 'Ursache' fand ich
zahlreiche Parallelen zu
dem häuslichen Klima, in
dem auch wir aufwuchsen.
Wochenlang oft nur
gelesen – nicht nur "literar-
ische" Literatur, sondern
auch wissenschaftliche aller
Art im Selbststudium – und
nicht eine einzige Zeile selber geschrieben. Oft
war und bin ich nur dieser
"Gar-nix", der Leser halt,
der manchmal pro Tag
vierzehn Stunden am
Stück durchgelesen hat.
Mein Schreibprozess ist
derart oft von mir unter-
brochen worden – nicht nur
durch andere Menschen,
sondern vor allem auch
durch mich selbst: durch
nicht-literarische Neigun-
gen, Obsessionen, Zwangs-
verhalten, Gegenzwangs-
Zwangsverhalten, Faulbett,
Erotomanie, Prokrastina-
tion, durch die Schwierig-
keit anzufangen, aber
auch aufzuhören usw. –,
dass er nur mehr noch
als "desultorisch" zu
bezeichnen ist: als sprung-
haft, unbeständig.
Vielleicht bin ich in
diesen Monaten, manch-
mal Jahren sogar des
Briefe schreibenden
Verliebtseins wirklich in
meine Texte eingewickelt
wie eine Rose gewesen.
Eine schwebende, über
alles hinweggleitende,
immerglühende Existenz.
An der Wurzel ist ein
Empfinden von
Mangel.
Einen Schaden abbekom-
men zu haben, an dem ich
aber
arbeiten könne, aus
dem ich mich herausarbeiten
könne. Warum einen
Schaden abbekommen?
Ich führte ein neurotisches,
halbentjungfertes, selbstbe-
schädigendes, melusinen-
haftes Leben bisexuell-
prägenitalen Verzaubert-
seins, das
unter den vitalen
Möglichkeiten eines er-
wachsenen Mannes blieb.
Wenn mir
jemand helfen
wollte, musste ich ihn von
mir stoßen; mir ist in Kern-
fragen – denn die sind die
bis in den Kern, den es
vielleicht gar nicht gibt,
beschämenden – noch nie
zu helfen gewesen.
Ludwig Hohl hatte in
seiner Genfer Kellerwoh-
nung jahrzehntelang auf
Wäscheleinen seine Notiz-
seiten aufgehängt, sie
immer wieder umhängend,
davor sinnend, rauchend,
trinkend. "Alkohohl" wurde
er bereits genannt. Er konnte
sich nicht entschließen,
sie in die richtige Reihen-
folge zu bringen, denn
es gibt keine.
Ein weiterer Behelf wäre
die modernere Vorstellung,
künftig in Projekten
zu
denken, also auch – wie
Raimund Bahr – zu einem
Textfabrikanten
zu werden.
Noch immer empfehle und
verschenke ich seinen
Roman 'Ferdydurke', als
mein definitives Lieblings-
buch. Dieser Autor hatte es
zustande gebracht, mich,
diesen Tanzmuffel, stunden-
lang nachts alleine auf
einer Parkbühne tanzen
zu lassen.
Oder in der Selbstbehext-
heit durch das Schreiben
werden im Schreibprozess
selber plötzlich diese
Figuren erkennbar bzw.
tun sich auf. Nur in diesen
Momenten bin ich mir
ganz sicher,
doch ein
Autor zu sein.
Die Frage, ob der Schriftstel-
ler "vom Schreiben leben"
könne, ist eine durchaus
gemeine, die andere Leute
nichts angeht, es sei denn,
sie wollten einem Geld
geben oder einen Auftrag.
Raimund Bahr z. B. nennt
sich einen
"Textfabrikanten",
Günter Herburger setzte
fürs Schreiben eigene
"Bürozeiten" fest, Hermann
Lenz sprach von Schriftstel-
lerpärchen, die zusammen
"eine Schriftstellerei auf-
machen". Auch gibt es
manchmal "Werkstatt-
gespräche" mit Autor-
Innen.
Der Reiseschriftsteller führt
sowieso meist nur eine
kleine, transportable Habe
mit sich und bezieht eine
Menge verschiedener
Unterkünfte, einschließlich
die unter freiem Himmel.
Den Beruf des Schrift-
stellers gab es in der Raiffei-
senkasse ganz einfach
nicht! Auf seiner Screen
überblickte der Bankange-stellte eine wohl dreistellige
Liste von unterschiedlichen
Berufen – darunter so ent-
legene Berufe, dass ich
bei dieser Gelegenheit
zum ersten Mal von ihnen
überhaupt gehört hatte –,
jedoch keinen Schriftstel-
ler, Autor, Dichter ja
sowieso nicht.
|
Die
Frage nach der Poetik zielt für den literarisch Schreibenden ganz
automatisch auf die letztlich eigene Poetik. Trotzdem wäre eine
panoramatische Orientierung im poetologischen Feld der Herausarbeitung und
Standortbestimmung einer solchen eigenen Poetik nicht ganz abträglich.
Anstatt nun aber "akademisch" eine Art Lexikonartikel über das, was Poetik
bisher hieß, zusammenzustellen und die Zuhörerschaft zu langweilen, behelfe
ich mich einer indirekten Herangehensweise, indem ich Stichworte zum eigenen
literarischen Werdegang locker mit poetologischen Themen verknüpfe.
Im Laufe meines Schreiberlebens habe ich
etliche Aufzeichnungen und Exzerpte zur Poetik gemacht, die von mir als
Bausteine, als Elemente einer künftigen eigenen, dann
durchformulierten Poetik, die Hand und Fuß hätte, vorerst in Ordnern
abgelegt und abgelagert wurden. Die seinerzeit etwas melagoman-frühreife
Vorstellung, vielleicht eines Tages selber gar eine "Frankfurter
Poetikvorlesung" halten zu dürfen, hat mich diesbezüglich ehrgeiziger
gemacht, als es sinnvoll gewesen wäre. Viele jener bei Suhrkamp erschienenen
'Frankfurter Poetikvorlesungen'(2) war ich im Laufe der Jahre
durchgegangen, wobei mich der subjektive Charme dieser Versuche
bestach, da er mich von der Strenge philosophischer, aufs Allgemeine
zielender Arbeit entlastete. Ich komme ursprünglich von der Philosophie her,
die mir nicht genügte: In den kalten Hallen des Allgemeinen,
Allgemeingültigen fühlte ich mich zum Wurm herabgedrückt, trotz aller
Beschwörungen eines durch die Philosophie zu bewerkstelligenden "aufrechten
Gangs". Mein Leben einem allgemeinen Muster, weniger einer Matrix als einer
Patrix, zu unterwerfen, den Subjektverzicht oder gar den
"Unterwerfungstod" (Horst-Eberhard Richter) auf mich zu nehmen, konnte mir
nicht schmecken. Das "sustine et abstine" des Epiktet – zu deutsch: "trage
und entsage" –, mundete mir zu bitter; die Kärrnerarbeit am Bau der
Wissenschaften wurde mir durch die schlechten Aussichten am akademischen
Arbeitsmarkt auch nicht gerade versüßt.
"Ein
Käfig ging einen Vogel suchen", heißt es bekanntlich einmal bei Kafka. Doch
auch umgekehrt sucht manchmal der Vogel, besonders der Grünschnabel,
seinen zu ihm passenden Käfig, immer dann, wenn er freiwillig sich einer
allgemeinen Ordnung, einem allgemeinen Prinzip, einer Weltanschauung,
Ideologie, Religion, aber auch einer "Ästhetischen Theorie" oder eben einer
Poetik, einer "Schule" oder ganz einfach – was dann oft nicht "ganz
einfach" wird – einem in diesen Dingen erfahreneren Menschen als
"Meister" sich in selbstverschuldeter Unmündigkeit unterzuordnen bereit
findet. Also könnte hinsichtlich der Fragestellung unseres diesjährigen
Strobler Zusammentreffens zunächst einmal die Unterscheidung getroffen
werden zwischen einer heteronomen und einer autonomen Poetik.
Wirkliche "Naturtalente" sind selten, und kämen sie vor, würden sie im Laufe
der schulischen Sozialisation bald beirrt werden. Kein Schreiber fällt
geradewegs vom Himmel. Nicht nur legt sich nicht von selbst die
vollentwickelte Sprache auf die Zunge des Kleinkindes, sondern auch das
Schreiben will erlernt sein, was oft mühsam sich gestaltet. Zwar gibt es die
pubertätstypischen Anflüge zu genialischem Dichten, doch schon diese
Jünglingsversuche (was entspricht beim weiblichen Geschlecht dem "Jüngling"
mit all seiner pathetischen Befrachtetheit?) sind epigonenhaft anderen
Dichtern abgelauscht: Als Gymnasialschüler las man Gryphius, Hölderlin,
Trakl, Stefan George, Brecht, Hans Magnus Enzensberger – und dann wurde
vielleicht in einem geheimen schwarzen Wachstuchheft in nachempfindender
Weise der empfangene Ton und Rhythmus stimmgabelnachklingend aufgegriffen,
für sich selber paramimetisch billig abgezweigt.
Es war bereits der Schulunterricht,
namentlich Deutschunterricht, der einerseits zu eigenen Schreib- und
Dichtversuchen mich angeregt, andererseits mich aber auch konsterniert
hatte. Dass die Verskunst eine komplizierte Lehre sei, hat mich selber
damals das Schreiben frei-rhythmischer Zeilen als ein "verbotenes
Schreiben" empfinden lassen. Sei es gesagt: Vermutlich durch Schiller-Dramen
sowie durch die Bibel-Lektüre bin ich zu ersten – mehr noch dramatischen als
lyrischen – Dichtversuchen gelangt, die Weltuntergänge zum Inhalt
hatten. Wenn man einmal von den kindlichen Versuchen von früher absieht,
Gelegenheitsgedichte und Texte komischer Natur zu schreiben, die noch
herzhaft und unbekümmert um irgendwelche "Lehren" aus dem Vollen griffen, so
wie es sich dem Kinderblick naiv darbot, ausschließlich auf den Effekt, auf
das Gefallen, auf die Erheiterung und den Applaus des Publikums bedacht.
Ohne auch nur das Wort "Gesamtkunstwerk" vernommen zu haben, stellte ich den
Untergang von Atlantis als Bühnengeschehen dar und improvisierte gleichsam
im "Orchestergraben" ausschweifend auf dem Klavier dazu, entwarf aber auch
die Bühnenbilder und Choreographien. 'Atlantis oder Die Tilgung des
Firmaments' waren diese Skizzen betitelt. Auf Atlantis, das unmittelbar vor
dem Untergang stand, war ein kultischer Massenwahn ausgebrochen: Durch das
Opfern von Menschen hoffte man, die Sterne ausradieren zu können, man wollte
die "totale Nacht“ auf dem Himmel herstellen. Da es aber mehr Sterne auf dem
Himmel gibt als Atlantier, versinkt die stolze, in sich abgeschlossene
Insel, auf der ich die Erfindung des Teleskops anachronistisch vorwegnehmen
ließ, zuerst im Blutvergießen, dann im Ozean, in einem Ozean voll Blut. Dass
Atlantis einst eine Handelsmacht war, war den Atlantiern dieser Spätzeit in
Vergessenheit geraten, die nur mehr den Blick auf den Sternenhimmel als
einer ewigen, nicht zu Ende kommenden Aufgabe des Ausradierens sowie auf den
Boden gerichtet hatten, auf dem sie sich bewegten und in ihren Häusern vor
den "Racheengeln" des von der Priesterkaste beherrschten Staates
verschanzten, aus denen sie von den Bütteln herausgetrieben wurden, die
mattgoldene Augenbinden trugen, durch die aber Sehschlitze geschnitten
waren. Es war ein auf den Kopf gestellter, pervertierter ägyptischer
Totenkult: es war der Kult, nicht die Toten zu konservieren (was ja auch die
Pyramidenspitze der altägyptischen Kollektivbemühung, förmlich deren
hieratischen Staatszweck darstellte), sondern durch stellvertretendes
Töten die Sterne – sonst oft Symbole für die dahingeschiedenen, in
den Himmel nunmehr versetzten Seelen – vom Himmel wegzubekommen, "diesen
glitzernden Schotter vom Firmament zu wischen". Warum? Weil diese Sterne
einen unermesslichen Plural bedeuteten, eine Vielzahl anderer Welten. "Die
Vollzähligkeit der Sterne" (Hans Blumenberg) sollte in den schwarzen Sack
der Vernichtung, der Annihilation gelangen. Die späte Atlantis wollte einzig
sein, einzig auf der Welt, einzig im All, funkelnd in der Nacht, von
Bergerz-Mauern umgeben, auf einem schwarzen, ihren ganzen Horizont
ausmachenden Ozean. Der Gottkönig dieses Staates hatte – in meinem Drehbuch
– den Rat der Unterkönige ausgeschaltet und sich an die Spitze gesetzt. Er
war der Mono-Theós. In der finalen Szene sehen wir ein letztes Häuflein
Aufrechter und dem nekrophilen Massenwahn Un-Erlegener, die mit einem
Ruderboot sich absetzen können, mit ungewisser Zukunft in der Weite des
Meeres dahinschaukeln. Denn der spätatlantische Tilgungswahn war so weit
gegangen, auch die Erdkarten und Archive des Welthandel treibenden Atlantis
zu verbrennen und damit das geographische sowie navigatorische Wissen der
großen atlantidischen Vergangenheit.
Ich
war damals, 1977, vierzehn Jahre jung und besuchte die vierte Klasse des
Akademischen Gymnasiums in Salzburg. Erst ab 1978 wurde mir allmählich die
Dimension der nationalsozialistischen Vergangenheit bekannt. Unser Haushalt,
ein Lehrerhaushalt, der drei Generationen beherbergte ("Urahne, Großmutter,
Mutter und Kind / In dumpfer Stube beisammen sind"), war konsequent
fernseherlos, autolos und der Plattenspieler, den wir nebst einer einzigen
Schallplatte mit Johann-Strauß-Walzern ('An der schönen blauen Donau') von
einer Großtante geschenkt bekamen, funktionierte nicht. Jeder Versuch meiner
beiden älteren Brüder, sich lange Haare wachsen zu lassen, wurde beschnitten
– einmal von der Großmutter frühmorgens, als sie noch schliefen; mit der
Schere schnitt sie ihnen ganz einfach die wieder einmal zu lang gewordenen
"Zotten" ab. Über den massivhölzernen Betthäuptern der "Buben" waren kleine
Kruzifixe, die oben einen kleinen Ring hatten, an einem Nagel befestigt und
konnten perpendikulär von uns aus Langeweile in Bewegung gesetzt werden,
sodass mit der Zeit auf den Betthäuptern halbkreisförmige Kratzspuren
entstanden. Am verbotensten war, diese Kreuze um den Nagel rotieren
zu lassen – wurden wir dabei erwischt, setzte es Körperstrafen. Knien auf
Holzscheitern, Einsperren in den Kohlenkeller, Hiebe mit dem Pracker aufs
entblößte Hinterteil, Ohrfeigen sowieso. Jene etwa 13 Zentimeter langen
Kreuze waren, wie ich erst kürzlich herausgefunden habe, Brustkreuze,
sogenannte Pektoralien von Frontgeistlichen aus dem Ersten Weltkrieg.
Das Makabre daran war zusätzlich, dass zu Füßen des Angenagelten sich ein
silberner Totenkopf auf schwarzem Grund befand. Ohne damals auch nur von den
Totenkopfverbänden der SS gehört zu haben, erfüllte mich ganz besonders vor
diesen kleinen Totenköpfen bereits im Vorschulalter nur Grauen. "Das werden
einmal eure Sterbekreuze sein", sagte die Großmutter mütterlicherseits, uns
zu beruhigen, die bei uns im Haus lebte und den Großteil des Haushalts
besorgte, eine "Kriegerwitwe", deren beiden Söhne in den letzten Wochen des
Zweiten Weltkrieges gefallen waren, zu uns Jungen, die wir übrigens in den
Betten dieser unserer gefallenen Onkel jede Nacht dem gütigen und gestrengen
Auge des Herrgotts sowie der Schutzmantelmadonna anvertraut wurden,
schliefen oder dösten, verbotene Polsterschlachten veranstalteten oder an
unseren Geschlechtsteilen einen würdigen Ersatz für das
Feldgeistlichenkreuze-Bewegen zu entdecken begannen. Einen freilich noch
verboteneren Ersatz.
Es versteht sich von selbst, dass später
Thomas Bernhard mein "Zungenlöser" werden würde – aber Bernhard begann ich
erst 1984 zu lesen, mit 21 Jahren; es war das skandalisierte Buch
'Holzfällen', das mir zeigte, dass Opfer sich auch per Literatur rächen,
subjektive Niederlagen in objektive Triumphe wenden konnten, dass
Retourkutschen machbar sind. Ich las dann etwa drei Jahre hindurch der Reihe
nach alles von Thomas Bernhard – ganz besonders in dem Buch 'Ursache'
fand ich zahlreiche Parallelen zu dem häuslichen Klima, in dem auch wir
aufwuchsen. Ein Teil meiner eigenen Geschichten aus meiner ersten
ernstzunehmenden Schreibzeit handelt von der nacherlebenden Aufarbeitung
meiner Kindheitssituation. Was mir schließlich klarer wurde: Es war nicht
nur meine Kindheitssituation, sondern die vieler anderer meiner
Generationsgenossen. Diese milieusoziologische Erkenntnis würde ich doch als
ein Anzeichen von Reife an mir festhalten. Poetik hat es auch damit
zu tun, das eigene Schreiben weniger zu messen als zu vergleichen
mit schreibenden Vorgängern und Zeitgenossen, aber auch sich von den
Wissenschaften, besonders der Geschichte informieren zu lassen. Das eigene
Schreiben nicht auf Genie-Weise absolut zu setzen, sondern relativieren, in
Beziehung setzen zu können zu einem weiteren literarischen Feld. Die Figur
des "Poeta doctus" als Leitbild sogar manchmal, dem der Typus des
"Polyhistors" in der Gelehrsamkeit entspricht.
Sosehr
ich mich immer gegen das "Brechen" von Menschen zur Wehr setzte und setze,
muss ich doch erkennen, selber schließlich ein im Medium vielfältigster
Reflexionen gebrochener Schreibercharakter geworden zu sein. Mehr ein
Leser als ein Schreiber. Wochenlang oft nur gelesen – nicht nur
"literarische" Literatur, sondern auch wissenschaftliche aller Art im
Selbststudium – und nicht eine einzige Zeile selber geschrieben. Oft war und
bin ich nur dieser "Gar-nix", der Leser halt, der manchmal pro Tag vierzehn
Stunden am Stück durchgelesen hat, so den ganzen Freud beispielsweise sich
einverleibend. Lesen als Ausdauersport. Bei diesen Studien, die keine
akademisch geregelten, sondern Privatstudien sind, verliere ich noch
immer mein eigenes Schreiben wochenlang aus den Augen. Sie als "Arbeit" zu
bezeichnen fiele mir nicht ein, als Mühe schon. Warum tut sich ein
Mensch dieses an? Bevor ich diese Frage beantworten werde, möchte ich mein
bisheriges Schreiberleben in fünf, teilweise noch immer ineinanderspielende
Stadien teilen:
1. Zuerst das naive Stadium des
vermeintlichen, zusätzlich an einem Neujahrstag geborenen
Sonnenkindes, das das spezifische Grauen seines familialregionalen
Hintergrundes und der Menschenwelt, in der es sich befindet, noch nicht
wahrnimmt, mit der Kindersadistenkraft sich darüber hinwegsetzen
könnend – ein Mensch des Theaters und der Feste, auch des Wettkampfs der
frühesten Anlage nach;
2. Die pubertäre "Geniephase";
3. Die politische Phase (ein Mann
wie Robert Jungk war damals eines meiner Vorbilder): Es ginge darum, in
der Welt etwas zu bewegen, gegen Unrecht, Menschen- und Naturzerstörung
aktiv anzukämpfen, die literarische Form ist dabei nur Mittel, nicht
Zweck (meine UTOPIE I);
4. Das Stadium, in welchem ich –
mich schon als Verletzten erkennend – versuchte, mir eine neue
"Haut" zu schaffen: durch Lesen, Schreiben, Erleben und
Wieder-Schreiben, Träumen und Träume-Aufschreiben und dadurch in Gang
gebrachtes noch intensiveres Träumen mein Leben "neu zu erfinden", es
gleichsam wie der "große Nik(o)las" im 'Struwwelpeter' in ein großes
Tintenfass hineinzutunken (meine UTOPIE II), dem Freudschen Motto
folgend: "Erinnern – Wiederholen – Durcharbeiten", der intensiven Dichte
nach manchmal die Prosa Friederike Mayröckers mir zum "Vorbild" nehmend;
5. Das jetzige Stadium (des
50-Jährigen), in dem ich erkennen muss, dass ich mit all meinen Vorhaben
ein Gelöcherter bin – mein Emmentalerstadium. Mein
Schreibprozess ist derart oft von mir unterbrochen worden – nicht nur
durch andere Menschen, sondern vor allem auch durch mich selbst: durch
nicht-literarische Neigungen, Obsessionen, Zwangsverhalten,
Gegenzwangs-Zwangsverhalten, Faulbett, Erotomanie, Prokrastination,
durch die Schwierigkeit anzufangen, aber auch aufzuhören usw. –, dass er
nur mehr noch als "desultorisch" zu bezeichnen ist: als sprunghaft,
unbeständig. Oder anders gesagt: Ich kenne Lüste, die für mich stärker
sind als die Lust am Schreiben, aber auch Zwänge, die für mich stärker
sind als der Zwang zum Schreiben. Ich muss diese nun so oft schon
erlebte Tatsache ohne Verlogenheit akzeptieren.
Der
Traum des Stadiums 4, mich neu zu erschaffen, mir gleichsam einen neuen
Leib, eine durch "Erinnern – Wiederholen – Durcharbeiten" regenerierte
Geschichte mir erschreiben zu können, mich mit einer Schutzhaut zu
überziehen, mich lückenlos einzulackieren, mir existenziale Massivität oder
auch einen ideoplastischen Astralleib-zu-Lebzeiten zu erlesen und zu
erschreiben, keiner "Sinnlosigkeit" – und sei es auch nur der geringsten –
eine Chance in meinem Leben mehr gebend, alles in einen poetischen Kosmos
integrieren, rückholen zu können – dieses "apokatastatische" (3)
Konzept ist an ein Ende gelangt, ist gescheitert. Und es wäre dem
auch mit verstärktem Fleiß nicht nachzuhelfen. "Eine gefallene
Schreibfeder muss man gleich aufheben, sonst wird sie zertreten." (Goethe,
'Maximen und Reflexionen') Sie ist bei mir längst von mir selber, durch
meine Säumigkeit, Planverweigerung, Verlotterung zertreten und zertrampelt.
Naturgemäß bot die Tagebuch-, die Journalform
sich ganz von selbst an, ein solches Kontinuum sich einzubilden.(4)
Aber auch die Briefform, vor allem, wenn das Du, dem ich solche Briefe
schrieb, ein Du der Liebe war. Vielleicht bin ich in diesen Monaten,
manchmal Jahren sogar des Briefe schreibenden Verliebtseins wirklich in
meine Texte eingewickelt wie eine Rose gewesen. Eine schwebende, über alles
hinweggleitende, immerglühende Existenz. Auch der Tag spielte sich mit
seinen Begebenheiten ihr zu, der eudämonische Zufall war oft ihr hold.(5)
Ernst
Bloch schrieb einmal von den Versuchen des Menschen, "menschenähnlich" zu
werden. Ich hatte von irgendeinem Zeitpunkt weg einmal geglaubt, "noch kein
richtiger Mensch" zu sein und am Menschsein – auch durch Aufnehmen von
Bildungsgut – "arbeiten" zu sollen. An der Wurzel ist ein Empfinden von
Mangel. Einen Schaden abbekommen zu haben, an dem ich aber
arbeiten könne, aus dem ich mich herausarbeiten könne. Warum einen
Schaden abbekommen? Ich war versucht, auch durch Vorbilder in
Literatur und Wissenschaften verleitet, die Ursache für jenen Schaden nicht
in mir, sondern in anderen zu suchen – oder im kapitalistischen
Wirtschaftssystem, im noch weiterwirkenden Faschismus, verursacht zu sehen
durch das Werk meiner Erzieher (ich hatte z.B. meine eigene Mutter als
Volksschullehrerin und musste sie in der Schule vor den anderen Kindern
siezen). Ich sah den Schaden nicht durch die Konstitution meines
sterblichen und unvollkommenen Körpers, meiner vielleicht nur
durchschnittlichen Intelligenz, nicht durch die Schwerkraft, nicht durch
meine Gene, nicht durch die "Erbsünde" bedingt. "Entfremdung" war und ist
ein Wort für mich, das noch immer gilt – in allen seinen Dimensionen. Es hat
in meiner Kindheit auch eine sich über zwei Jahre hinziehende sexuelle
Missbrauchsgeschichte durch einen Klavierlehrer gegeben, dies nur am Rande.
Mein Leben begann ich ab einem gewissen Alter – dem der von anderen
ertappten Geschlechtsreife – als ein "beschädigtes" wahrzunehmen. Ich
führte ein neurotisches, halbentjungfertes, selbstbeschädigendes,
melusinenhaftes Leben bisexuell-prägenitalen Verzaubertseins, das
unter den vitalen Möglichkeiten eines erwachsenen Mannes blieb. Wenn mir
jemand helfen wollte, musste ich ihn von mir stoßen; mir ist in
Kernfragen – denn die sind die bis in den Kern, den es vielleicht gar nicht
gibt, beschämenden – noch nie zu helfen gewesen. Alles galt es auf
eigenem Wege mir geradezu zu erstalken. Wenn ich in Bibliotheken
ging, dann beutemachend. Alle diese Beschäftigungen mit Literatur und
Philosophie, Psychoanalyse sowie Mythologie waren auch verbohrte,
verzwickt-und-verzwackte, skrupulöse Selbstheilungsversuche sowie
Paranoia-Verwischungsversuche im Hexenkessel der Vorwürfe, die mir von
meiner Umgebung wegen dieser "brotlosen Studien" zunehmend gemacht wurden.
Am schwersten fällt mir, mir mein eigener
Einband zu sein. Es gelingt mir nur unter allergrößter
Selbstüberwindung, meine sicher hunderten, um nicht zu sagen tausenden
Notizen – jede für sich geschliffen – in Buchform einzusargen, obwohl ein
solches Festbegräbnis, wie es eine Buchveröffentlichung jedesmal darstellt,
etwas Erhebendes auch hätte. Statt etwas zu vernichten, ist es besser, es zu
veröffentlichen. Die Hälfte meiner Tagebücher aus meinen
Lebenszwanzigerjahren habe ich, da ich ihren Anblick nicht mehr ertragen
konnte, in Stücke gerissen und entsorgt. Als Fragmentarist oder sagen
wir Notizenmacher sind meine Vorbilder: Georg Christoph Lichtenberg,
Nietzsche, Paul Valéry, Ludwig Hohl, Elias Canetti, Peter Handke auch. Zwar
sind meine Notizen für sich geschliffen, wie Projektile oder Blitze aus
meinem brütenden Denken hervorgeschossen und treffen auch, aber sie zu
gruppieren ist ein Lebenswerk für sich schon. Ludwig Hohl hatte in
seiner Genfer Kellerwohnung jahrzehntelang auf Wäscheleinen seine
Notizseiten aufgehängt, sie immer wieder umhängend, davor sinnend, rauchend,
trinkend. "Alkohohl" wurde er bereits genannt. Er konnte sich nicht
entschließen, sie in die richtige Reihenfolge zu bringen, denn es gibt
keine. Er hatte dieses Problem lange meditiert, vielleicht auch von seiner
Zuneigung zu Spinoza auf den Gedanken gebracht, die Notizen "more
geometrico" anordnen zu können, schließlich aber musste er doch sich mit
Heraklit behelfen, dass die schönste Ordnung in einem "Haufen
durcheinandergeworfener Dinge" bestünde. Nicht grundlos hatte Lichtenberg
seine Aufzeichnungen 'Sudelbücher' genannt. Nicht im Detail wird gesudelt,
sondern in der "Architektur" des ganzen. Es wird kein Turm draus, nur eine
ewig vor sich hinrottende Babylonische Baustelle. Übrigens kannte auch
Nietzsche dieses Problem: mit immer schlechteren Augen aus der Vielzahl
seiner Aufzeichnungen den Hauptbau eines Welt und Werte umstürzenden Werkes
'Der Wille zur Macht' aufzuziehen. In meiner Trilogie 'Steine und Bausteine'
habe ich mich selber an diesen Problemen – teilweise ironisch und meinen
glücklicherweise vorhandenen jederzeitigen Hang zur Groteske nutzend –
abgearbeitet. Ich fasse dies in einem meiner Lieblingssätze zusammen: Das
Schwierigste an der Schriftstellerei ist die Stellerei. Da mir immer
noch seit der Phase 2 (ich nannte sie das pubertäre "Geniestadium") ein
philosophisches Hauptwerk, ein Groß-Essay mit dem Titel 'Die Ethik der
Unabgeschlossenheit' vorschwebt, zu dem ich bisweilen Materialien, Bausteine
herantrage, wird meine Erleichterung nur darin zu finden sein, immer
schwerelosere Gedanken als Luftballons, als Seifenblasen vor mir aufsteigen
zu lassen.
Der
Fragmentarismus ist also für mich das Naheliegende, meiner Emmentalernatur
gemäß. Ein weiterer Behelf – wenn ich so als Coach in eigener Sache mich mal
instruieren darf – wäre die modernere Vorstellung, künftig in Projekten
zu denken, also auch – wie Raimund Bahr – zu einem Textfabrikanten
zu werden. Nicht mehr mich als ohnmächtiger Zauberer(6) in den
zeichenübersäten Schutzmantel des Schreibens hüllend, sondern mich auf
Projekte einlassend, diese beginnend und an ein Ende führend – und müsste
ich die Deadlines immer erst im letzten Augenblick erhecheln. Also
trotz aller Unabgeschlossenheits-Vorgaben doch auf den Abschluss drängend,
den andererseits doch so lustvollen Schlusspunkt setzen könnend.
Einen erwachsenen Liebesroman könnte ich zum
Beispiel nicht schreiben. Erschwingbar ist mir aber die Groteske. Hier war
die Begegnung mit dem Werk von Witold Gombrowicz das schlechthin mich
Freisetzende. Noch immer empfehle und verschenke ich seinen Roman
'Ferdydurke', als mein definitives Lieblingsbuch. Dieser Autor hatte es
zustande gebracht, mich, diesen Tanzmuffel, stundenlang nachts alleine auf
einer Parkbühne tanzen zu lassen. Gerade in 'Ferdydurke' nahm ich eine Reihe
interessanter Symmetrien wahr, die literaturwissenschaftlich noch
nirgendwo analysiert worden sind. Und ich nehme solche Symmetrien auch bei
meinem eigenen Erzählen wahr, das leider so selten geschieht und doch
weitaus origineller ist als das Aphorismen-Schreiben. Ein guter Aphorismus
ist ja so beschaffen, dass er jederzeit auch von einem anderen guten
Aphoristiker stammen könnte. Der Aphorismus steht der Philosophie noch nahe,
die auch dem Allgemeinen mehr als dem Besonderen gewidmet ist; zwar ist er
ein Splitter des Besonderen, der aber ins Allgemeine fällt.
Das
oft erst nachträgliche Entdecken der Symmetrien, der Kreise, die sich
schließen, der Entsprechungen im Schreiben von Erzählprosa selbst, ist
faszinierend. Diese Figuren tun sich von selber auf, sie sind wie der Lohn
für die Bemühung, drangeblieben zu sein. Oder in der Selbstbehextheit durch
das Schreiben werden im Schreibprozess selber plötzlich diese Figuren
erkennbar bzw. tun sich auf. Nur in diesen Momenten bin ich mir ganz sicher,
doch ein Autor zu sein. Denn hier gelingt es mir, ins Neue
vorzustoßen und nicht das Altbekannte und Vorausgeplante nur zu
reduplizieren.
Um diese vielleicht noch etwas änigmatisch
klingenden "inneren Geometrien" erzählender Prosa zu konkretisieren, möchte
ich aus einem kürzlich entstandenen Erzähltext eine Passage bringen:
Einer deiner Brüder war mit Gewalt dazu
gezwungen worden, zum Rechtshänder umzusatteln – bis heute klagt er über
die Unnatürlichkeit dieses Zwangs. Seine ganze Schrift sei dadurch
durcheinandergeraten, er habe jahrelang keine schöne Handschrift haben
können, weil man ihn ohne Einsicht in die Tatsache, dass es Linkshänder
gibt, zum Rechtshändertum mit unsanfter pädagogischer Gewalt umdressiert
hatte. Und das nur, weil die Eltern kein von der Konvention abweichendes
Kind, keinen Behinderten, wie sie für sich sagten, haben wollten,
weil wodurch hätten sie das verdient? Ein ordentliches, normales,
gesundes Kind gebrauche die Rechte, die linke Hand sei ja lediglich eine
Hilfshand, nicht die Haupthand. Es handle sich lediglich
um eine schlechte Angewohnheit, die früh abzustellen sei. Hänschen müsse
jetzt lernen, was sonst Hans nicht mehr so leicht lernen würde: die
Rechte zu gebrauchen. Es sei ja das Erlernen einer lebensnotwendigen
Kompetenz, wie Schnäuzen und Hinternabputzen. Er putze sich ja auch
schon jetzt mit der Rechten den Hintern, na eben, und er schnäuze sich
ja auch brav mit der Rechten – sofern er nicht den Rotz einfach nur am
rechten Jackenärmel abwische, was er ebenfalls sich abgewöhnen müsse, da
der Ernst des Lebens begänne –, "siehst du ja, es geht, also
warum schreibst du nicht auch brav mit der rechten Hand, mit der
guten Hand?" So redeten ihm die Eltern zu. Sie wollten ordentliche
Kinder – und nicht nur das: Sie wollten ausgezeichnete Kinder, sie
wollten, dass ihre Kinder die Besten in der Schule seien, und man würde
sie auf dieses Ziel wenn nötig mit Gewalt hindressieren, hinzüchtigen.
Aus gesunden Kindern könne man, wenn man dahinterwäre, alles machen; sie
sind noch frisch und weich wie Wachstafeln.
Die Mutter hatte ihren Vater, einen
kriegsinvaliden Tabak-Trafikanten, schon mit vierzehn Jahren als Mädchen
verloren, worauf sie oft, wie wenn es sich dabei um eine Leistung
handelte, hinwies. Den Eltern könne man hinsichtlich von Härte, darin
stimmten sie beide sofort überein, überhaupt gar nichts vormachen – denn
in so jungen Jahren den ganzen Weltkrieg durchmachen zu müssen, wer
könnte schon allen Ernstes ihrer Generation das Wasser reichen, was
Durchhalten, Disziplin, Eifer betrifft? "Unsere Generation war eine
andere." Ihnen könne überhaupt niemand etwas erzählen. Wer solches nicht
durchgemacht habe, könne ihnen nichts erzählen – und dürfe es auch
nicht. Wer nicht diesen Krieg durchgemacht hatte, war ja schon von
vornherein unmündig, ohne Mund, wie die bedauernswerten Schulkameraden,
denen es manchmal den Mund, den Unterkiefer weggefetzt hatte. Der
Muttervater war allerdings wiederum durch seinen, den Ersten
Krieg einarmig gemacht worden, in Italien war ihm nach einer
Granatenverletzung der rechte Arm ohne Narkose abgesägt worden
und mit allergrößter Mühe hatte er dann lernen ("umlernen") müssen, mit
der linken Hand zu schreiben. Er dachte zuerst, es niemals erlernen zu
können. Er malte auf liniertes Papier am Anfang senkrechte Striche, dann
Kreise, und verband diese Zeichen zu Buchstaben. Ein kleines A oder
kleines D oder kleines B konnte man auf diese Weise zum Beispiel schon
formen. Auch das T – "T wie Tod" – war hinzukriegen. Es ging schon. Doch
der zum Invaliden gemachte Gebirgsbauernsohn Sepp tat sich mit dem
Schreiben schwer, er schrieb nicht gerne, er schrieb schon vorher nicht
gerne, nachher dann nur noch, wenn er musste. Deshalb sind auch nur ganz
wenige Schriftproben von ihm enthalten. Dieser Großvater wäre froh
gewesen, wenn er seine rechte Hand noch gehabt hätte, wurde dem
angeblich schreibbehinderten Enkel Wolfgang, der achtzehn Jahre nach dem
Tod des Großvaters geboren worden war, vorgehalten. Er konnte sich einen
Mann mit nur einem Arm gar nicht richtig vorstellen. Ihm wurde nicht
klar, was dieser verlorene Arm, der übrigens gleich in Italien
verblieben war, mit seinem eigenen rechten Arm zu tun haben sollte. Der
ihm als Vorbild vorgehaltene Großvater, der im fortgeschrittenen
Alter noch umlernen konnte (weil er umlernen hatte müssen), mit
der anderen, noch verbliebenen Hand zu schreiben, malte ja mit der
Linken nur sehr brüchige, klobige, unbeholfene und sehr große Zeichen
mühsam auf das linierte Papier, während Wolfgang ja mit seiner Linken
schon im Vorschulalter ziemlich flüssig ("wie ein Alter") schreiben und
sogar eigene Gedanken und Erlebnisse festhalten konnte. Zuerst war
Wolfgangs selbsterlerntes Schreiben von allen bewundert worden, denn mit
fünf Jahren konnte er bereits schreiben, wie sein Vornamensgeber Mozart
mit fünf bereits komponieren konnte, was die Eltern überall
prahlerisch herumerzählten und den Jungen vorführen ließen. Dass es mit
der Linken war, schien zuerst kein Problem, da für ein Kinderspiel
gehalten, zu sein, ganz im Gegenteil: "Sogar mit der Linken!",
prahlten die stolzen Erzieher, die hier ja gar nichts erzogen hatten,
weil sich Wolfgang das Schreiben selber – wie er heute sagt: aus
Langeweile – beigebracht hatte. Erst bei Schuleintritt war das Schreiben
mit der Linken ausdrücklich zu einem Problem geworden, zumal der Junge
mit der Rechten nicht hatte schreiben können, sich damit genauso
schwertat wie ein Rechtshänder mit der linken Hand. Wolfgangs Eltern
waren beide Lehrer von Beruf und unterrichteten in der Gemeindeschule in
jenem Dorf, das am Fuße sehr schroffer Berge lag. Der Lehrer, der
Wolfgang in der ersten Klasse nun unterrichtete, war also Kollege seiner
Eltern. Diese mussten nicht eigens wie die Eltern anderer Kinder
vorgeladen werden, sie konnten ganz einfach vor dem Konferenzzimmer auf
dem Pausengang angesprochen werden. Es ginge nicht, dass Wolfgang mit
der Linken schreibe, wurde ihnen von dem alten Nazilehrer eröffnet. Es
sei zwar löblich, dass er schon schreiben könne, aber er schreibe
leider mit der Linken und griffe dem Lehrstoff vor, ja prahle mit seiner
vorwitzigen Fertigkeit, sowieso schon alles zu können. Dann brauche er
aber, so der Lehrer, gar nicht mehr zur Schule zu gehen, wenn er ohnehin
schon alles könne. Außerdem sei seine selbsterworbene Handschrift
eigen, meinte der Lehrer, das könne so nicht weitergehen, das müsse
man ihm rechtzeitig abstellen. Am besten, das Kind würde das
Schreiben wie alle anderen auch neu, von der Pieke auf erlernen,
beginnend mit dem Buchstaben I statt mit dem A. Das I eigne sich ja, wie
man pädagogisch wisse, ganz besonders gut zum ersterlernten Buchstaben,
weil es dargestellt werden könne als ein strammstehender Mann mit einem
I-Punkt als Köpfchen. Man käme ja der Kinderseele durchaus entgegen, "so
ist es ja nicht!" Aber etwas guter Willen sei schon auch vorauszusetzen.
Und jetzt lassen wir diese Geschichten
verrotten.
Bevor
ich diese im Wesentlichen selbsterlebte Geschichte schrieb, war mir noch nie
der Gedanke gekommen, das Trauma des Bruders, vom Links- zum Rechtshänder
"umsatteln" zu müssen, mit dem Armverlust des Großvaters mütterlicherseits
in Beziehung zu setzen – der frühe Tod des Großvaters war wiederum ein
Trauma der Mutter, die mit vierzehn ihren Vater verloren hatte. So kann in
diesem Fall Schreiben plötzlich heimliche familienbiographische
Lineamente sichtbar machen, die Textur des von Sigmund Freud so
genannten "Familienromans".
Zum Abschluss möchte noch eine leidige Frage
kurz angesprochen werden: die Frage der schriftstellerischen Existenz.
Witold Gombrowicz meinte, man würde zum Schriftsteller, indem man nur lange
genug "Schriftsteller spiele".
Wirst du gefragt: "Kannst du vom Schreiben
leben?", weichst du in die Poetik aus; sollst du deine Poetik formulieren,
sprichst du stattdessen ausführlich vom Prekären des "Berufs Schreiben". Die
Frage, ob der Schriftsteller "vom Schreiben leben" könne, ist eine durchaus
gemeine, die andere Leute nichts angeht, es sei denn, sie wollten einem Geld
geben oder einen Auftrag. Mit dieser Frage halten sie sich schadlos, zwar
einen womöglich langweiligen Beruf, keinen Wunschberuf gewählt zu
haben, aber immerhin dafür über ein geregeltes Einkommen zu verfügen.
Wirklich prominenten Schriftstellern wird diese Frage auch nicht gestellt.
Vom
Schriftsteller wird wenigstens erwartet, dass er, wenn er auch mit seinem
Schreiben noch nichts Nennenswertes verdiene, so doch seinen
Wunschberuf gewählt habe. Man erwartet – und nicht nur sein Publikum
erwartet das –, dass er seinen Schriftstellerberuf existenzialisiere,
ihn als sogenannte "Berufung" lebe. Dieser Jargon, der von "Berufung"
spricht, erinnert an den Klerus, in dem bei Priestern auch von deren
"Berufung" gesprochen wird, obwohl es viele recht langweilige
Priestergestalten gibt, deren innere Flamme längst erloschen ist oder nie
vorhanden war. Dass man in den Schriftstellerberuf jedoch einfach
hineinrutschen, hineinschlittern könnte, sich in ihm auf
einmal vorfinde, wird selten erörtert oder einbekannt.
Raimund Bahr z. B. nennt sich einen
"Textfabrikanten", Günter Herburger setzte fürs Schreiben eigene
"Bürozeiten" fest, Hermann Lenz sprach von Schriftstellerpärchen, die
zusammen "eine Schriftstellerei aufmachen". Auch gibt es manchmal
"Werkstattgespräche" mit AutorInnen. Alles Versuche, das Herstellen von
Literatur mit Analogien aus anderen Produktionsverhältnissen und
Arbeitswelten zu legieren und zu konkretisieren. Alexandre Dumas etwa
schrieb seine Bestseller möglicherweise nicht alleine selbst. Gar 51 Bücher
in den 1840er Jahren? Es wird öfters behauptet, dass er seine Romane im
großen Umfang von anderen schreiben ließ und dann nur kurze Passagen
hinzufügte oder Streichungen vornahm und abschließend das Manuskript
großzügig mit dem Siegel seiner Autorschaft versah.(7)
Bei
Dumas hätten wir dann wirklich im gar nicht mehr ironischen Sinne einen
klassisch kapitalistischen Textfabrikanten des 19. Jahrhunderts, der
andere, anonym bleibende Mitarbeiter beschäftigt, möglicherweise sogar
ausbeutet. Herburgers Konzept dagegen gleicht einer Ich-AG, die sich mit
Hilfe der Bürofiktion stabilisiert, die "Schriftstellerei" von Lenz hingegen
einer Offenen Handelsgesellschaft. Dann gibt es auch noch manchmal den
dezidiert sich proletarisch verstehenden Autor, der sich einen "Arbeiter"
nennt und seine Produktion entsprechend rationalisiert und übergeordneten
revolutionären Maßgaben unterwirft, sie in diesem Sinne effektiviert. Bei
der "Werkstatt" ist noch Zünftig-Handwerkliches im Spiel oder sie ist der
bildenden Kunst angelehnt: Die "Werkstatt" wäre somit das Atelier des
Autors, das vielleicht gar nicht räumlich bestehen muss, sondern nur im Kopf
"vorhanden" sein kann. Der Reiseschriftsteller führt sowieso meist nur eine
kleine, transportable Habe mit sich und bezieht eine Menge verschiedener
Unterkünfte, einschließlich die unter freiem Himmel. Diese Beispiele mögen
genügen, um feststellen zu können: Die soziale Lage, "Stellung" des Autors
ist eine prekäre, nicht klar festlegbare. Nur sekundär werden aus anderen
Berufsbranchen habituelle Muster und Rollen je nach Neigung entlehnt. Vom
Dandy oder dem Poète maudit haben wir übrigens noch gar nicht
gesprochen.
Eine selbsterlebte Anekdote noch: Auf
dem Höhepunkt Wirtschaftskrise des Jahres 2008 zogen viele Kunden aus Angst
vor einer Hyperinflation ihre Sparguthaben von den Banken ab, der sogenannte
"Bank-Run" stand im Bereich des Möglichen. Sie versuchten an diesen Tagen,
ihre Sparvermögen z.B. in Gold sicherer anzulegen; sehr bald rückten die
Geldinstitute kein Gold mehr heraus. Ich hingegen hatte damals vor, in der
Raiffeisenkasse von Gallneukirchen ein Sparbuch zu eröffnen und brachte in
meiner Tasche einen Betrag von 15.000 Euro mit. Man denkt: Die Banken
könnten doch froh sein, wenn zur Abwechslung einer mal in diesen unsicheren
Zeiten nicht sein Konto auflöst, sondern sogar eines – und sei es gegen jede
Vernunft – eröffnen möchte. Doch dieser vermeintlich simple Routinefall
gestaltete sich zu einer halbstündigen Prozedur, weil auf einmal verlangt
worden war, dass der Kunde seinen Beruf angeben müsse. Als ich
"Schriftsteller" angab, begann für den jungen Schalterangestellten und mich
ein mühsames, ja schweißtreibendes nicht so heiteres Beruferaten. Den Beruf
des Schriftstellers gab es nämlich ganz einfach nicht! Auf seiner Screen
überblickte der Bankangestellte eine wohl dreistellige Liste von
unterschiedlichen Berufen – darunter so entlegene Berufe, dass ich bei
dieser Gelegenheit zum ersten Mal von ihnen überhaupt gehört hatte –, jedoch
keinen Schriftsteller, Autor, Dichter ja sowieso nicht. Wieder einmal machte
ich die mich vor den Kopf stoßende Erfahrung, keinen "gescheiten" Beruf zu
haben. Der Bankangestellte half mir aus der Klemme, indem er mich nach
20-minütigem gemeinsamen Herumprobieren schließlich mit meiner nur sehr
zögernden Einwilligung unter "holzverarbeitende Industrie" einordnete. Wohl
war mir dabei nicht. Thomas Bernhard, um ein starkes Beispiel zu nehmen,
hätte also ohne eine solche Lüge in Oberösterreich auf dem Land im Jahre
2008 kein Raika-Sparbuch eröffnen können.
Anders
herum: Wäre Franz Kafka vor Gericht gestanden, hätte es geheißen: "Der
Beschuldigte, Dr. jur. Franz Kafka, Versicherungsangestellter", nicht
Schriftsteller – und hätte er bis dahin schon seine unsterblichen Werke
verfasst gehabt. Höchstens "Versicherungsschriftsteller" wäre als
Berufsbezeichnung gerade noch durchgegangen. Über seinen sogenannten
"Brotberuf" schrieb Kafka an Milena Jesenská allerdings: "Mein Dienst ist
lächerlich und kläglich leicht ... ich weiß nicht wofür ich das Geld
bekomme".(8)
Anmerkungen
(1)
Vortrag bei den Strobler Literaturtagen (vom 16. bis 21. Juli 2013),
die diesmal der Poetik gewidmet waren. Die weiteren Vortragenden
waren: Peter Simon Altmann, Raimund Bahr, Holger Fath, Sascha
Garzetti, Regina Hilber, Rainer Hoffmann, Erika Kronabitter und Su
Tiqqun.
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