
Werner Bätzing
wbaetz@geographie.
uni-erlangen.de
Jahrgang 1949, Studium der
Evangelischen Theologie und
der Philosophie (1968-1974),
Ausbildung zum Sortiments-
buchhändler und Buchhersteller
und berufliche Tätigkeit in Berlin
(1976-1985), Studium der
Geographie und Philosophie an
der TU Berlin (1983-1987),
Assistent am Geographischen
Institut der Universität Bern
(1988-1995), seit 1995 Profes-
sor für Kulturgeographie an der
Universität Erlangen-Nürnberg.
Publikationen
Die Alpen (München 2003),
Kleines Alpen-Lexikon (München 1997), Monographie
über Gastein (1985), zwei
Monographien über ein sich
entsiedelndes Alpental in
Piemont (1988 und 1991).
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Aurora-Magazin: 1995 ist die "Alpen(schutz-)konvention" in Kraft
getreten. Damit tritt man dafür ein, dass die moderne Nutzung der Alpen
(Tourismus, Landwirtschaft, Transit, Wasser) nachhaltig gestaltet wird.
Was kann man sich in den einzelnen Bereichen unter Nachhaltigkeit
vorstellen?
Bätzing:
Konkret bedeutet "nachhaltig", daß eine
bestimmte Form der Naturnutzung in der jetzigen Form dauerhaft-langfristig
durchgeführt werden kann. Dies ist bei allen modernen Nutzungsformen in der
Regel nicht möglich, weil Naturpotentiale dabei vernutzt werden, die dann
nicht mehr ersetzt werden können. Deshalb braucht es bei allen modernen
Nutzungsformen erstens konkrete Rahmenbedingungen (z.B. Regelungen
hinsichtlich der maximalen Intensität und räumlichen Konzentration,
Ausgleichs- und Pflegemaßnahmen usw.) und zweitens eine ausgewogene Balance
zwischen verschiedenen Nutzungsformen. Ich betrachte das richtige Maß der
Nutzung als Schlüsselfaktor und meine, dass man anstatt der heute so
selbstverständlichen Monofunktionen ausgewogene multifunktionale
Nutzungsstrukturen anstreben sollte, bei denen sich Landwirtschaft,
Tourismus, Wasserwirtschaft, Transit usw. nicht wechselseitig stören und
zerstören, sondern stärken und fördern.
Aurora-Magazin:
Die Alpenkonvention weist den Alpen eine mögliche Vorreiterrolle
bezüglich eines "ökologischen Umbaus" und einer "Regionalisierung
Europas" zu. Woran ist dabei konkret zu denken? Und warum sollen diese
Entwicklungen gerade vom Alpenraum ausgehen?
Bätzing:
Die Frage, ob die Idee eines "ökologischen Umbaus" und einer
"Regionalisierung Europas" gerade von den Alpen ausgehen sollen, stellt sich
so nicht: Zwar sind die Alpen als "Vorreiter" dabei etwas privilegiert. So
zeigen sich in den Alpen die ökologischen Folgen von unökologischen
Eingriffen schneller und direkter als in anderen Regionen Europas oder am
Meer. Zudem besitzen bestimmte "alpine" Probleme eine hohe öffentliche
Aufmerksamkeit in Europa. Beide Punkte sorgen dafür, dass die
Grundsatzfragen nach der nachhaltigen Ausgestaltung des Tourismus, des
Verkehrs etc. am Beispiel der Alpen schärfer und deutlicher wahrgenommen und
diskutiert werden, und deshalb spreche ich davon, dass die Alpen ein
"Vorreiter" eines "ökologischen Umbaus" sein können. Andererseits aber es
wäre auch falsch zu sagen, daß die Alpen dabei eine ganz besondere,
einmalige Bedeutung in Europa hätten - die Fragen des "ökologischen Umbaus"
und der "Regionalisierung Europas" müssen in allen europäischen Regionen und
zugleich auf der Ebene der Europäischen Union gestellt und politisch
angegangen werden. Nur wenn diese zentralen Fragen vielfach gestellt und
vielfach gelöst werden, kann sich m.E. in Europa etwas bewegen. Die Alpen
können dabei ein "Vorreiter" sein, aber eben nur einer und nicht "der"
Vorreiter - allein, ohne Bündnispartner müßten sie bei diesen großen
Aufgaben scheitern. In meinem Verständnis geht das "Europäische
Raumentwicklungskonzept/ EUREK" der EU mit der
Umsetzung vermittels INTERREG III B in eine gute und richtige Richtung, um
diese Probleme adäquat zu lösen, und in meinem Verständnis entwickelt die EU
hier erstmals Ansätze für föderalistische Problemlösungen, auch wenn diese
leider im definitiven EUREK-Text gegenüber dem EUREK-Entwurf von 1998 wieder
deutlich reduziert wurden.
Aurora-Magazin:
Noch ist man bestrebt, die Alpen möglichst als Kulturlandschaft zu
erhalten und bewertet die Bewirtschaftung von Wald und Landschaft
positiv. Die zunehmende Anziehungskraft der Nationalparks und der so
genannten Wildnisgebiete deutet aber einen Wertewandel in Richtung "mehr
Natur" an: Wird man in Zukunft eine alpine Kulturlandschaft überhaupt
noch haben wollen?
Bätzing:
Zwar erklären viele Politiker, die Alpen seien als Kulturlandschaft zu
erhalten, aber de facto werden die gesamtwirtschaftlichen und
gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen immer stärker so verändert, dass
die Landwirtschaft im Alpenraum keine Chance mehr hat und immer stärker
zurückgeht. Die französischen Alpen sind diesbezüglich der Vorreiter: Die
traditionelle Landwirtschaft ist hier bereits zusammengebrochen - es gibt
zahlreiche Gemeinden ohne einen einzigen landwirtschaftlichen Betrieb -, in
tiefen Tallagen sind einige große Agroindustriebetriebe entstanden und im
eigentlichen Gebirgsraum einige wenige Viehwirtschaftsbetriebe mit sehr
großen Herden; beide Betriebsformen zerstören die Kulturlandschaft, die
ansonsten flächenhaft verbuscht und verwildert. Und der Wandel in der
Naturschutzphilosophie weg von "Schutzgebieten" mit genau festgelegten
schützenswerten Naturzuständen hin zu "Wildnisgebieten", in denen die
ungestörte Naturveränderung ablaufen soll (auch wenn dies in vielen Fällen
einen drastischen Artenrückgang bedeutet), ist kein Wertewandel "in Richtung
mehr Natur", wie die Frage suggeriert, sondern der Wertewandel im
Naturschutz, der dem Übergang von der Industrie- zur
Dienstleistungsgesellschaft entspricht. Die Frage, ob man in Zukunft eine
alpine Kulturlandschaft überhaupt noch haben will, erledigt sich demnächst
von selbst: Wenn es nicht relativ bald einen grundsätzlichen Wandel in der
Berglandwirtschafts-, Berggebiets- und Alpenpolitik gibt, ist die
Kulturlandschaft eh weg.
Aurora-Magazin:
Inwiefern bringt der Übergang von der Industrie- zur
Dienstleistungsgesellschaft einen Wertewandel im Naturschutz mit sich?
Bätzing:
Sehr auffällig ist in der europäischen Geschichte, daß zeitgleich mit der
Industriellen Revolution in England (1760-1780) die Natur erstmals in der
Geschichte der Menschheit als "schön" wahrgenommen wird. Vorher dominierte
stets der Aspekt der Nützlichkeit, so daß nur solche Teile der Landschaft
als "schön" wahrgenommen wurden, die ertragreich und fruchtbar waren. Ab
1760 werden zuerst die Alpen und die Meeresküsten plötzlich als "schön"
erlebt, wird aus der bedrohlichen und kaum nutzbaren Natur eine schöne
Landschaft - und dabei sind nicht zufällig die Engländer die Pioniere dieser
neuen Landschaftswahrnehmung, sowohl bei der "Erfindung" der Seebäder als
auch bei der Entdeckung der Alpen. Dies ist m.E. nur so zu verstehen, daß
parallel zur industriellen Vernutzung der Natur im Alltag das
gesellschaftliche Bedürfnis entsteht, die Natur wenigstens am Sonntag, in
der Freizeit, in Form der "schönen Landschaft" zu bewundern, zu verklären,
vielleicht sogar anzubeten. Offenbar ruft die industrielle Naturzerstörung
das Bedürfnis auf "Kompensation", auf Wiedergutmachung hervor, und der
Naturbezug der Industriegesellschaft ist durch diese gleichzeitigen
Extrempositionen geprägt. Und das ist die ideelle Basis des Naturschutzes,
auch wenn sich dieser erst gut 100 Jahre später erst, ab 1880, formuliert -
er lebt immer noch von diesem Gegensatz. Der Wandel von der Industrie- zur
Dienstleistungsgesellschaft bedeutet dann aber eine große Zäsur, indem das
Bedürfnis nach "Kompensation" wegfällt - Naturzerstörung ist jetzt so
selbstverständlich und so normal geworden, daß hier nichts mehr kompensiert
werden muß. Neues Leitbild des Umweltschutzes wird jetzt die "nachhaltige
Entwicklung" unter dem Primat des Wirtschaftswachstums, also eine bloß
ökologische Abfederung der wirtschaftlichen Entwicklung im Rahmen eines
technokratischen Naturumgangs, eine Instrumentalisierung des Naturschutzes
zum besseren Funktionieren der Wirtschaft. Und in diesem Rahmen ist die
Natur oder Umwelt gleichgültig im Sinne von egal, beliebig, sofern sie nicht
Kosten für die Wirtschaft verursacht. In der europäischen Peripherie heißt
das dann, daß es egal ist, wie sich Natur entwickelt (noch bei der Idee der
"schönen Landschaft" war dies keineswegs egal) und diese Gleichgültigkeit
gegenüber der konkreten Natur drückt sich m.E. darin aus, daß Wildnis-Ideen
Konjunktur erhalten, bei der sich die Natur so entwickeln soll, wie sie sich
spontan entwickelt, ohne daß der Mensch dabei eingreift oder steuert. Daß
Umwelt seit Erfindung von Ackerbau und Viehwirtschaft immer menschlich
veränderte Natur, geographisch gesprochen "Kulturlandschaft", ist, für deren
Existenz der Mensch mitverantwortlich ist, gerät dabei völlig in
Vergessenheit und die Beziehungslosigkeit zur Natur (sie soll sich
entwickeln, wie sie will) wird als positiver Wert ausgegeben, obwohl sie
inhaltlich m.E. Verantwortungslosigkeit gegenüber der Umwelt ausdrückt.
Aurora-Magazin:
"Natur" findet für viele Leute in den National- bzw. Naturparks statt.
Was außerhalb der National oder Naturschutzgebiete geschieht, ist nicht
so wichtig. Ganz abgesehen davon, dass vieles in der Natur eines
besonderen Schutzes bedarf: Ist das "Nationalparkdenken" nicht die
schlechtere Alternative zum flächendeckenden Umweltschutz?
Bätzing:
Die Leitidee des Nationalparks stammt aus den USA und passt weder für
Europa, noch für die Alpen, weil es hier gar keine Naturlandschaften mehr
gibt, sondern nur Kulturlandschaften. Deshalb die großen Umsetzungsprobleme
und die mangelnde Akzeptanz durch die lokale Bevölkerung. Zugleich gehört
der Nationalpark als klassisches Naturschutz-Instrument der
Industriegesellschaft in den absoluten Gegensatz Naturzerstörung in den
Industriegebieten - Naturschutz in der wirtschaftlichen Peripherie. Die
Schaffung von National- bzw. Naturparks ist sicher sinnvoll, wenn es darum
geht, die restlose Vernutzung von Natur als "Material" zu verhindern.
Grundsätzlich brauchen die Alpen für mich aber keine neuen Schutzgebiete,
sondern neue Impulse für umweltverträgliche Nutzungsformen, die für die
gesamte Alpenfläche gelten. Die Protokolle der Alpenkonvention könnten
eigentlich in diese Richtung gehen.
Aurora-Magazin:
Eines der gravierendsten Probleme in vielen Alpentälern ist der Transit.
Sie fordern an einer Stelle diesbezüglich den "Vorrang des
Einheimischen" ein. Was heißt das für die Praxis?
Bätzing:
Ich fordere nicht einen "Vorrang des Einheimischen", sondern einen "Vorrang
für endogene Nutzungs- und Wirtschaftsformen" zu Lasten eines reinen
Transitverkehrs. Das grundsätzliche Problem besteht darin, daß es nicht
allein der Transitverkehr ist, der die Alpen belastet, sondern genauso die
moderne Arbeitsteilung (Trennung Wohnort-Arbeitsort bzw. Wohnort-Schulort,
starke räumliche Verflechtung allen Wirtschaftens), die auch in den Alpen
sehr viel Verkehr erzeugt. Und sehr viele Erfahrungen gehen gerade in die
Richtung, daß die sog. "Einheimischen" am heftigsten gegen alle Projekte zur
Verkehrsberuhigung sind (sofern sie nicht direkt an einer vielbefahrenen
Straße leben), während Touristen dafür oft viel aufgeschlossener sind.
Insofern wäre es keine Lösung, die "Einheimischen" gegenüber einem reinen
Transitverkehr zu bevorzugen. Meine Leitidee zielt dagegen in eine andere
Richtung: Damit die Alpentäler Lebensraum bleiben können und nicht vom
Verkehr erstickt werden, würde ich gern denjenigen Verkehr, der die
Wirtschaft und das Leben in den Alpen selbst betrifft, anders, mit
unterschiedlichen Auflagen, behandeln als den reinen Transitverkehr.
Allerdings ist diese Leitidee nicht EU-kompatibel, weil damit der
Gleichheitsgrundsatz verletzt wird. Deshalb kommt der grundsätzlich
wichtigen Ökologisierung des gesamten Verkehrs eine noch viel größere
Bedeutung zu, weil dies als einziges Steuerungselement übrig bleibt.
Aurora-Magazin:
Es gibt einige endogene Lösungsvorschläge hinsichtlich des
Transitproblems, das so genannte "Schweizer Transitmodell" etwa oder die
"Alpenschutz-Transiterklärung" des Transitforums Austria-Tirol. Welche
Alternativen halten Sie persönlich für die sinnvollsten?
Bätzing:
Ich bin kein Spezialist für Verkehrsfragen, aber grundsätzlich halte ich
dabei zwei Punkte für zentral: 1. Es braucht unbedingt eine einheitliche,
alpenweite Lösung als gmeinsamen Rahmen für die Alpen, damit die externen
Nutzer nicht einzelne Alpenregionen gegeneinander ausspielen können. 2.
Wahrscheinlich sind im Rahmen einer solchen alpenweit einheitlichen Lösung
dann aber regionsspezifisch differenzierte Umsetzungen sehr sinnvoll, um den
Besonderheiten der einzelnen Alpenregion gerecht werden zu können. Eine
"regionale Vielfalt" könnte wichtig sein, sofern (!) sie nicht dazu genutzt
werden kann, Alpenregionen gegeneinander auszuspielen.
Aurora-Magazin:
Mit der Entwicklung überregionaler bzw. internationaler Märkte und
Wirtschaftseinheiten ist die mangelnde Konkurrenzfähigkeit von vielen
alpinen Wirtschaftszweigen sichtbar geworden. Was sind für Sie
vernünftige Möglichkeiten, auf diese so genannte "Strukturschwäche" zu
reagieren?
Bätzing:
Die "Strukturschwäche" der Alpen besteht in
erster Linie darin, nicht mit den extrem günstigen Produktionsstandorten in
Gunstregionen, in Großstädten, an internationalen Knotenpunkten konkurrieren
zu können. Für die strukturschwachen alpinen Regionen könnten m.E. die
folgenden Optionen ein wirtschaftliches Überleben sichern:
1. Die Konzentration auf
alpenspezifische Produkte mit sehr hohen Qualitäten, die anderswo nicht bzw.
nicht besser produziert werden können. Dies betrifft landwirtschaftliche
Qualitätsprodukte, handwerkliche Produkte aus alpenspezifischen Ressourcen
und Rohstoffen (Holz, Stein usw., im Zentrum unverwechselbare, spezifische
Produkte mit typischer handwerklicher bzw. kunsthandwerklicher Tradition und
darauf aufbauenden Innovationen) ebenso wie den Tourismus oder die
(Aus-)Bildung. Letzterer könnte man durchaus eine alpen- bzw.
umweltspezifische Note geben.
2. Die Stärkung und
Aktivierung von regionalen Wertschöpfungsketten; wobei nicht Autarkie das
Ziel sein soll, sondern eben die Erhöhung der "alpinen" Wertschöpfung.
3. Ein gezieltes Marketing
für Alpen-Produkte durch Schaffung eines "Alpen"-Labels. Durch Verbindung
der Qualität der Produkte mit dem Alpen-Image der europäischen
Kulturgschichte könnte es möglich sein, für diese Alpen-Qualitätsprodukte
einen relevanten Markt in den europäischen Metropolen und bei den
Alpenbesuchern zu erschließen.
Aurora-Magazin:
"Strukturwandel" ist eine recht harmlose Bezeichnung für eine mitunter
ernste Angelegenheit. Man denke nur an die Entsiedelung, das
Bauernsterben u.ä. Was geht ihrer Meinung nach durch den modernen
Strukturwandel verloren?
Bätzing:
Die Identität Europas besteht für mich in Anlehnung an Max Weber in der
kleinräumigen Vielfalt im Rahmen einer gemeinsamen, vom
griechisch-jüdisch-christlichen Erbe geprägten Kultur. Der heutige
Strukturwandel führt in Europa m.E. dazu, daß diese kleinräumige kulturelle
Vielfalt im Rahmen der Globalisierung nivelliert wird und sich überall ein
ubiquitäres Wirtschafts- und Kulturmuster durchsetzt. Damit geht für mich
auch die Identität Europas verloren, d.h. Lebensqualität, Geschichte und
Verantwortung. In den Alpen gehen dann die spezifischen Traditionen und
Kulturen verloren, die Bestandteil der europäischen Kultur sind, ebenso wie
andere europäische Regionalkulturen, die genauso verschwinden, was eine
kulturelle Verarmung bedeutet. Darüberhinaus gehen dann auch die
spezifischen Kulturlandschaften der Alpen verloren, die sich im Verlauf der
Geschichte ausgebildet haben und die sozusagen der materialisierte Ausdruck
dieser Traditionen und Kulturen sind. Und damit gehen auch Artenvielfalt,
Biodiversität und landschaftliche Vielfalt deutlich zurück.
Aurora-Magazin:
Wäre die Entsiedelung gewisser (strukturschwacher) Alpenregionen
überhaupt zu stoppen gewesen?
Bätzing:
Ja. Das österreichische Beispiel 1955-1989 zeigt, daß dies konkret möglich
gewesen wäre, wenn dafür der politische Wille vorhanden gewesen wäre. Das
stark sozialdemokratisch geprägte Österreich hat 1955 wichtige
politisch-wirtschaftliche Rahmenbedingungen so gesetzt, daß periphere
ländliche Regionen nicht benachteiligt, sondern teilweise sogar gefördert
wurden (Verstaatlichung der Schlüsselindustrien, Kontrolle über Banken durch
den Staat, breite Wohnbauförderung, Ermöglichung der privaten
Zimmervermietung ohne Auflagen usw.). Als Ergebnis finden wir in den
österreichischen Alpen mit Abstand die geringsten räumlichen Disparitäten im
gesamten Alpenraum und praktisch keine Entsiedlungsregionen; zumindest nicht
bis 1989, durch den Strukturwandel der Mur-Mürz-Furche gerät aber seitdem
diese gesamte Alpenregion in die Krise. Die Schweiz ist in dieser Beziehung
gerade kein Vorbild, obwohl sie in vielen Bereichen eine vorbildliche
Berggebietsförderung betreibt: Weil die Schweiz ein extrem deutlich
ausgeprägter "liberaler" Staat ist, haben sich auch in der Schweiz die
räumlichen Gegensätze in den Schweizer Alpen stark verschärft, trotz der
hohen Förderung, und es sind in den Tessiner Alpen und in Graubünden
zahlreiche Täler entsiedelt.
Aurora-Magazin:
Wie müsste eine alpine Region im Idealfall entwickelt sein?
Bätzing:
DIE ideale Alpenregion gibt es nicht, weil die Alpen so vielfältig sind.
Deshalb fällt meine Antwort nach "Regionstypen" differenziert aus:
1. Städtische
Alpenregionen wären für mich dann ideal, wenn diese städtische Wirtschaft
und Kultur nicht in die direkte Abhängigkeit einer benachbarten,
außeralpinen Metropole (Typ München, Wien, Mailand) gerät, sondern eine
gewisse Eigenständigkeit gezielt erhält. Diese besteht dann auch darin,
Verantwortung für "ihr" ländliches Umland - oft als "Hinterland" mißachtet -
wahrzunehmen und durch eine spezifische Stadt-Land-Zusammenarbeit mit dafür
zu sorgen, daß der benachbarte ländliche Raum lebenswert bleibt. Weiters ist
es die Aufgabe der Alpenstädte als Sprachrohr und Interessenvertreter der
gesamten Alpen aufzutreten, denn in den Alpenstädten konzentrieren sich
Bildung, Kultur und Politik und hier ist ein wichtiges geistig-kulturelles
Potential vorhanden. Damit die Alpenstädte diese Aufgabe wahrnehmen können,
müssen sie sich untereinander stark vernetzen und sich so gegenseitig
stärken.
2. Auspendlerregionen
wären für mich dann ideal, wenn es ihnen gelingt, in der Region selbst
Arbeitsplätze und kulturelle Einrichtungen zu schaffen und zu stärken, um so
die starke Außenabhängigkeit, sehr oft von einer außeralpinen Großstadt wie
Nizza, Bern, München, Wien, etwas zu verringern. Dazu wären der Aufbau einer
umweltverträglichen, wertschöpfungsintensiven Naherholung und einer
Qualitätsproduktion von frischen Lebensmitteln für die nahe Großstadt
wichtige Bausteine.
3. Ländliche Alpenregionen
wären für mich dann ideal, wenn es ihnen gelänge, dauerhaft-lebendige
ländliche Räume zu bleiben, wenn sie also weder einen Wandel hin zur
Verstädterung durchlaufen, noch sich entsiedeln. Damit aber eine dezentrale
Wirtschaft und Kultur erhalten werden können, braucht es eine breite
Mischung unterschiedlicher wirtschaftlicher Tätigkeiten, denn Monostrukturen
sind im ländlichen Raum sehr krisenanfällig und ökologisch und kulturell
sehr heikel.
4. Entsiedlungsregionen
wären für mich dann ideal, wenn es ihnen gelänge, im kleineren Rahmen
wirtschaftliche und kulturelle Aufwertungen ihrer noch vorhandenen
Potentiale zu realisieren, z.B. im Bereich der Landwirtschaft (etwa durch
den Erhalt traditioneller Haustierrassen, Pflege alter Kastanienkulturen,
Kräuteranbau usw.), des Handwerks bzw. Kunsthandwerks und des sanften
Tourismus. Wünschenswert wäre es, wenn diese Aktivitäten durch die
Ansiedlung moderner Arbeitsplätze (Internet u.a.) in umwelt- und
sozialverträglicher Form unterstützt würden. Die Musealisierung als Leitidee
halte ich in diesen Regionen für falsch.
Aurora-Magazin:
Die meisten Alpenbewohner sind heute städtisch geprägt. Das "wirkliche
Leben" findet nicht zuletzt der Meinung der Jungen nach in den Städten
statt. Was ist das Leben in den Alpen tatsächlich "wert"? Und welche
Infrastruktur wäre notwendig, um es entsprechend aufzuwerten?
Bätzing:
Die europäische Kulturgeschichte ist für mich fundamental dadurch geprägt,
daß eine städtische und eine ländliche Lebensform seit 1.000 n.Chr.
gleichwertig und nahezu gleichberechtigt nebeneinander existierten - im
Gegensatz zu allen anderen Hochkulturen der Welt. Die Industriegesellschaft
entwertete das Land zwar wirtschaftlich und kulturell zur "bornierten
Provinz", aber erst die Dienstleistungsgesellschaft führt ab den 1970er
Jahren durch die ubiquitäre Verstädterung des Lebens zum "Verschwinden" des
Landes. Gemeint ist damit nicht die geographische Verstädterung, sondern die
soziologische Verstädterung vor allem durch die Medien. Gerade für die Alpen
ist es aber extrem wichtig, diese Gleichwertigkeit von ländlichen und
städtischen Lebensformen zu erhalten. Dazu braucht es eine bewußte
Aufwertung der Regionalkulturen im Alpenraum als gleichwertige Kulturen mit
spezifischen Qualitäten (besonderer Identität, eigener Sprache/Dialekt,
Geschichte, spezifische Weltwahrnehmung, Umwelt- und Sozialverantwortung).
Dies geht aber nur, wenn eine lebendige Regionalkultur gezielt gefördert
wird. Darüber hinaus braucht es weiterhin völlig neue Konzepte für
Infrastrukturen, weil die gegenwärtigen Infrastrukturen die ländlichen
Kulturen und den ländlichen Raum benachteiligen: Alle unseren heutigen
Infrastrukturen (Schulen, Gesundheit, Kinder/Jugend-/Alten usw.) sind nach
städtischem Muster aufgebaut, also starke räumliche Konzentrationen, um
große Quantitäten zu erreichen, die vertretbare Kosten ermöglichen. Und je
höher eine Dienstleistung ist, desto stärker ist sie räumlich konzentriert
(z.B. Universität in Großstadt, ebenso die große Spezialklinik mit allen
Abteilungen). Diese Struktur der Infrastrukturen benachteiligt die Alpen
wegen ihrer schwierigen Erreichbarkeit grundsätzlich. Für den Erhalt der
ländlichen Regionen und den Erhalt einer lebenswerten ländlichen Kultur
braucht es daher sehr dringend eine neue Konzeption der heutigen
Basis-Infrastrukturen für einen dünn besiedelten Raum; hier braucht es
innovative, völlig neue Lösungen, die eventuell auch durch neue Techniken
erleichtert werden könnten. (Aber Technik kann niemals den Menschen
ersetzen). Nur mit einem solchen dezentral-flächenhaften Konzept kann auch
die ländliche Kultur eine Zukunft erhalten.
Aurora-Magazin:
Was wäre für Sie ein "negative Alpenszenario", die "negative Utopie" für
die Alpen?
Bätzing:
Das größte Problem sehe ich darin, daß die Alpen verschwinden. Nicht in dem
Sinne, daß die Berge verschwinden, aber daß die Alpen als eine eigenständige
Lebens- und Wirtschaftsregion in Europa mit einer spezifischen Kultur, einem
spezifischen Naturbezug und einer spezifischen Form des Wirtschaftens
verschwinden, indem die Alpen einerseits verstädtern und dabei ubiquitäre
Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen ausbilden, die überall in Europa
gleich sind und jeden spezifischen Bezug zu den Alpen verlieren, und indem
die Alpen andererseits sich entsiedeln, wobei Wildnis an die Stelle der
ehemaligen Kultur und der früheren Kulturlandschaften tritt. Und das
Beunruhigendste an der aktuellen Entwicklung besteht darin, daß dieser
Prozeß Jahr für Jahr, fast unmerklich, aber kontinuierlich fortschreitet:
Indem z.B. die dezentralen Heustadel im Gasteiner Tal seit der Einführung
des Silageschnitts (Mitte der 1990er Jahre) funktionslos werden und zu
verfallen beginnen (seit Ende der 1990er Jahre), indem traditionelle
Siedlungskerne durch Neubauten in die Flur ausufern und allmählich entlang
der Straße mit der Nachbarsiedlung zusammenwachsen (dezentrale Zersiedlung),
indem die letzten Ackerparzellen aufgegeben werden, weil Krankheit, Alter
und zusätzliche Wildschweinschäden die Nutzung verunmöglichen, indem nicht
genutzte Wege und Steige, die früher das Gebirge dezentral erschlossen
haben, verfallen, oder indem der LKW- und PKW-Verkehr die Wohnnutzung in den
Alpentälern gefährdet und verdrängt. - Immer verschwindet ein Stück der
Alpen als menschlich geprägter Lebensraum mit einer besonderen
Mensch-Umwelt-Geschichte, die in der Landschaft ablesbar ist und deren
Spuren sich heute immer mehr verwischen: Entweder sie gehen im aufkommenden
Buschwerk der Wildnis unter oder sie werden banalisiert und homogenisiert.
Aurora-Magazin:
Woran denken Sie am liebsten, wenn Sie an die Alpen denken?
Bätzing:
Ich habe bestimmte Lieblingsplätze, von denen aus ich die Alpen stundenlang
betrachten kann. Dies sind entweder Punkte unten im Tal in einer dörflichen
Siedlung, von denen aus man im Vordergrund bäuerliche Gebäude sieht,
dahinter das hofnahe Kulturland im Talboden, dann die Wälder der Hänge,
darüber die Almen und Bergmähder und ganz oben die Felsen des alpinen
Ödlandes - diese Bandbreite der menschlichen Nutzung der Alpen ergibt "Sinn"
und bei dieser Perspektive auf die Alpen stehen die menschlich genutzten
Naturteile im Zentrum und im Mittelpunkt. Dann gibt es andere Punkte, die
oben im Gipfelbereich liegen, aber nicht solche Punkte, von denen man aus
nur alpines Ödland und die Gipfelflur sieht, sondern solche, die
schwindelerregende Tiefblicke in die Kulturlandschaft ermöglichen, die man
so quasi aus der Vogelperspektive sieht - und dann steht die Kleinheit und
die Bedrohtheit der Kulturlandschaft im Zentrum der Sichtweise und die
Alpennatur erscheint fast übermächtig. Wenn ich spontan an die Alpen denke,
dann habe ich zuerst immer die Bilder von solchen Punkten vor Augen, also
von Punkten, die ich seit langer Zeit kenne und die mir sowohl von der
Landschaft als auch von den Menschen, die dort leben, sehr vertraut sind.
Aurora-Magazin: Herr Bätzing, vielen Dank für das Gespräch!
Zweites Interview mit Werner Bätzing
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