Im selben Maße,
wie sich die technische Zivilisation
am Leben erhält,
zerstört sie die Bedingungen ihrer Existenz.
Über das Risiko sind wir längst hinaus –
Das Verschwinden unserer Gesellschaft
Ist unaufhaltsam.
(Stefan Breuer, Die Gesellschaft des Verschwindens,
Hamburg 1992.)
Alles unter dem Hammer
" Am Sulzberg, auf dem
hintersten Gesänge, beim Taubenbrunnen, beim Fuchsloche, der Gesängegraben,
auf dem vordersten Gesänge, vor der Warte, unter dem Pochhause, am
Eulengraben, unter der güldnen Aue, an dem Wichtelsteine, auf dem Kampe, auf
der güldnen Aue, die Warteberge, der Schmachteberg, der Talkopf, im roten
Graben, an dem Engelsgrunde, im hintern Loch, im Siegen, hinterm Loch, vor
der Kampe, am Siege, im Eulengraben, im Grund, auf dem Mönchskopfe – alles
unter dem Hammer." (Groeneveld, Sigmar (Hg.): Grün kaputt – warum? Band 3
der Schriften zur Agrarberatung und Agrarkultur, Kassel 1988, S. 259)
Diese
Flurbezeichnungen habe ich aus amtsgerichtlichen Unterlagen anläßlich der
Zwangsversteigerung eines nordhessischen Hofes, des Gelsterhofes bei
Witzenhausen, entnommen. Dieser Gelsterhof existiert seit 1988 nicht mehr.
Seine Landflächen wurden wie Kuchen zerschnitten, aber ganz
unterschiedlichen Zwecken zugeführt. Die Stadt Witzenhausen hat
Gewerbeflächen für Industrieansiedlungen erhalten; Flächen, die heute
teilweise als so genannte Industriebrachen zu besichtigen sind. Es
entstanden wohl einige so genannte Ausgleichsflächen; Flächen, die als
"Ausgleich" für die Zerstörung von Land an anderer
Stelle, z.B. beim Straßenbau, besonders geschützt und meistens mit
Sträuchern und Bäumen bepflanzt werden. Es entstanden auch etliche
Großschläge für die agrarindustrielle Produktion. Übrig blieb noch etwas so
geanntes Öd- und Unland – so die amtliche Bezeichnung. Es entstand also
vieles neu. Was aber ist eigentlich verschwunden?
Der
Gelsterhof ist insgesamt verschwunden. Seine reiche Geschichte ist
abgerissen. Den anerkannten Lehrbetrieb, auf dem viele Lehrlinge über
Jahrzehnte hinweg ihre Ausbildung erfuhren, gibt es nicht mehr. Es kann
jetzt keinen landwirtschaftlichen Lehrling mehr geben, der hier mit einem
Pferdegespann oder auch Schlepper "auf der güldnen
Aue" das Pflügen oder Säen erlernen könnte. Die historisch gewachsenen
Flurnamen können also nicht mehr gelebt werden. Moderne Kataster und
effiziente Luftbildaufnahmen, z.B. zur Kontrolle agrarpolitischer Vorgaben
wie etwa die Einhaltung von Flächenstilllegungen benötigen derartige
Flurnamen nicht mehr. Das einst feingliedrige Wegenetz der Gemarkungen ist
ebenfalls bereits weitgehend verschwunden. Die verbliebenen Feldwege sind
meistens für Schwertransporte ausgebaut worden und tragen nur noch selten
ihren historisch angestammten Namen.
Der ehemalige Gelsterhof
ist nur ein Beispiel für das massenhafte Höfesterben der letzten Jahrzehnte
in Mitteleuropa. Es zeigt, dass mit diesem politisch
herbeigeführten Prozeß eine ganz fundamentale geistig-ideologische und auch
materielle Flurbereinigung einhergeht; eine Sterilisierung der Flur, die
weit über einen bloß neuen Zuschnitt der vorhandenen Flächen hinausgeht. Mit
den wegrationalisierten Wegen verschwindet das Gras, die Blumen und Bäume
der Wegränder. Mit der Erübrigung der Flurnamen verschwindet
Ereignisgeschichte. Es verschwinden Mythen, Erinnerungen und Erzählungen,
die sich um diese Namen rankten. Das unverwechselbare Eigene einer jeden
Flur, eines Dorfes und auch eines Hofes verschwindet. Dass
auch viele Menschen, die oft in langen Generationsketten ihren Höfen und
Dörfern eng verbunden, in ihnen tief verwurzelt waren, verschwunden sind,
kann hier nur angemerkt werden. Und mit diesen verschwundenen Menschen ist
ihr Wissen und Können, ihre Erfahrung unter jeweils konkreten lokalen
Bedingungen ebenfalls verschwunden. Es verschwindet also sehr viel von dem,
was einmal das Landleben ausmachte.
Bedingungen zum Wahrnehmen des Verschwindens
Vom
Verschwinden einer Sache überhaupt sinnvoll sprechen zu können, setzt
zunächst ganz banal voraus, dass
die Sache existierte und ihr Verschwinden wahrgenommen wird. Diese Banalität
entpuppt sich sofort zu einem Problem, wenn diese Sache Land, Landleben,
Existenz auf dem Lande heißt. Die heute dominante Agrarpolitik als
Vollstreckerin industrieller Selbstverständnisse nimmt ein existentiell
begründetes Landleben als historisch gewachsenes und gesellschaftlich hohes
Gut überhaupt nicht wahr. Sie hat dafür keine Zeit, weil ganz neue
Funktionsträume entwickelt werden müssen. Denn aus Land ist längst
"Entwicklungsregion" geworden. Bernhard Heindl
stellte dazu bereits vor vielen Jahren fest:
"...je
weiter eine Gesellschaft von den Wurzeln ihrer bäuerlichen Kultur
entfernt ist, desto höher gilt ihr Entwicklungsstandard, der am Grad
ihrer Industrialsierung gemessen wird." (Heindl, Bernhard: Einwärts –
Auswärts. Vom Hegen der Erde, Innsbruck 1997, S. 12)
Die Nichtwahrnehmung einer
bäuerlichen Kultur und ihrer Bedeutung für die Gesamtgesellschaft ist also
wesentliche Voraussetzung für das heutige Verschwinden des einstigen
Landlebens. In Deutschland kann man dies bereits plakativ an der Bezeichnung
des hierfür zuständigen Ministeriums erkennen. Es heißt: "Bundesministerium
für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft". Bei einer solchen
Prioritätensetzung ist es fast gleichgültig, ob dieses Ministerium politisch
rot, schwarz oder aber grün geführt wird. Worauf es offensichtlich heute
machtpolitisch ankommt, ist der Verbraucher, sein Schutz und seine
industrialisierte Ernährung. Landwirte kann man da nur noch als
Agrarunternehmer und Landschaftspfleger gebrauchen. Man kann die
prinzipielle Nichtwahrnehmung eines existenziell begründeten Landlebens zur
Zeit auch daran erkennen, dass zum Beispiel deutsche
Milchbauern am Markt weniger Geld für die von ihnen erzeugte Milch erhalten
als ihre Produktionskosten sind. Mein Nachbar erhält noch 26 Cents pro
Liter. Seine Erzeugerkosten liegen jedoch bei 32 Cents. Nach 3-stündiger
Stallarbeit an jedem frühen Morgen eines jeden Wochentages mit Frau und
Tochter legt er also etwa 30 Euro aus seiner Hofsubstanz dazu. Da ist es nur
eine Frage der Zeit, wann ein Milchbetrieb verschwindet.
Aber
um heute vom Verschwinden von irgend etwas überhaupt sinnvoll sprechen zu
können, setzt dies doch voraus, bei Sinnen zu sein. Das ist in einer Welt
zunehmender und systematischer Sinnentleerung keineswegs selbstverständlich.
Denn dabei sind wenigstens 3 Grundsätze zu beachten, die heute sehr
realitätsfremd, ja weltfremd klingen:
A) Die Begrenzung des Sehens anzuerkennen,
also den begrenzenden Horizont als Voraussetzung für jegliche Einsichten
zu bejahen
B) Den Ort als Standpunkt des Sehenden
auszuweisen und zu würdigen. Dafür ist angeblich in einer globalisierten
Welt kein politischer Raum mehr. Die Raubvogelperspektive frisst
den Ort.
C) Das anerkannt Verschwundene in diesem
Kontext zu benennen und somit nicht in die Falle einer angeblich
objektiven Weltmachtbetrachtung zu treten.
Zur Erosion von Lebensräumen
Jeder
Ökonomie-Student lernt, dass der Boden im Gegensatz
zu den beiden anderen Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital immobil ist.
Wie kann er dann verschwinden, also höchst mobil sein? Der Bodenkundler
spricht von Erosion, von Bodenerosion, wenn Erde mobil wird. Er
unterscheidet dabei meistens zwischen Wind- und Wassererosion und beschreibt
beide Phänomene als katastropal für die Regionen, in denen fruchtbare
Ackerkrume aufgrund solcher Erosionen verschwindet. Beispiele für solche
katastrophalen Folgen von Erosionen gibt es reichlich. Man denke etwa an die
Verwüstung des einstigen Corn-Belts in den USA. Wenn die dünne und lebendige
Erdkrume verschwindet, bleibt tote Erde zurück.
Beim Verschwinden des Landes im
hier verstandenen Sinne geht es ebenfalls um Erosionen. Allerdings geht es
hier nicht um Boden oder Erde – zum Beispiel als Wurzelraum für Pflanzen.
Hier geht es nicht darum, dass fruchtbare Erde
weggeschwemmt wird, sondern ganze Lebensräume: das Land! Es geht hier also
um soziale und politische Erosionen, die das Landleben zerstören. Es geht
hier um viel mehr als nur physikalisch-technische Zerstörungen einer
Erdkrume als lebendigem Boden.
Um
dieses Phänomen, diese Behauptung etwas näher beleuchten zu können,
erscheint es mir zunächst hilfreich, an die gängige Unterscheidung zwischen
Land und Stadt zu erinnern. Städte verschwinden heute nicht. Sie wachsen
seit einigen Jahrzehnten an vielen Orten der Welt wie Pilze aus dem Boden.
Millionenstätte wie Bombay oder Calcutta sind keine Ausnahme mehr. Von
vielen Mammutstädten wie z.B. Surabaja wissen die meisten Menschen gar
nichts und deshalb auch nicht, ob es sich um Fünfmillionenstädte handelt
oder – wie Surabaja – diese Grenze längst überschritten haben.
Dagegen ist Land weithin
bereits zum bloßen Hinterland der Städte geworden. Und mehr als nur das: es
ist gerade in sogenannten entwickelten Staaten, den Industriestaaten, zur
finanziellen Belastung geworden. Nur mittels hoher Subventionen konnte das
Land dort in den letzten Jahrzehnten überhaupt überleben. Die Landwirtschaft
ist in der Europäischen Gemeinschaft zum Hauptkostenfaktor geworden. Es gibt
also durchaus gute Gründe, das völlige Verschwinden des Landes zu begrüßen.
Beides, die Verstädterung
der Welt und das Verschwinden des Landes, hängt eng miteinander zusammen und
hat gleiche Ursachen. Weil es z.B. an vielen Universitäten zwar Lehrstühle
für Urbanistik, nicht aber für Ruralistik gibt, braucht man sich nicht zu
wundern, dass junge Menschen heute meistens
stadtorientiert sind. Weil z.B. Ökonomie-Schulen das stetige
Wirtschaftswachstum als Motor für die gesellschaftliche Entwicklung ansehen,
sind die Begrenzungen eines agrarkulturell bestimmten Lebens offenbar nur
hinderlich. Weil aus ortsgebundenem Schaffen und Tätigsein längst eine
uferlose Job-Welt geworden ist, gibt es wenig Gründe für ein Fortbestehen
bäuerlicher Lebenswelten. So werden beispielsweise Bauernhöfe zu
Randerscheinungen in ihren eigenen Dörfern. So erscheint eine allgemeine
Landflucht logisch und eine wachsende Verstädterung der Welt geradezu
zwingend geboten.
Es ist eine schlichte
Tatsache: Immer mehr Menschen verlassen weltweit ihre angestammten
Lebensräume, das Land, um in den Städten eine bessere Zukunft für sich und
ihre Kinder zu finden. Bei diesem Vorgang verschwindet viel mehr als nur die
Landflüchtigen selbst. Es verschwindet zum Beispiel ihr Stolz auf ihre
Herkunft. Es verschwindet auch ihre unmittelbare Verantwortung für ihr
Gemeinwesen. Es verschwindet auch ihr ortsgebundenes Wissen als Basis für
ihre bisherige existenzielle Begründung. Und damit verschwindet insgesamt
ihre bisherige Orientierung und Lebenserfahrung. Das ist weit mehr als nur
das Wegfliegen fruchtbarer Ackerkrume – so schwerwiegend auch bereits
Bodenerosionen für die von ihnen betroffenen Menschen sind. Es ist eine
soziale und politische Erosion größten Ausmaßes. Es ist der umfassende
Verlust des Bodens unter den Füßen von immer mehr Menschen. Das nenne ich
das Verschwinden des Landes.
Zu den Ursachen der Landflucht
Wieso
kommt es zu dieser Tatsache einer allgemeinen Landflucht? Wieso werden die
zweifellos oft harten Bedingungen dörflicher Existenz durch eine blinde
Hoffnung auf ein besseres Leben in der Stadt eingetauscht. Offensichtlich
geht es hier ja nicht um eine begründete Umorientierung von Millionen von
Menschen, sondern tatsächlich um ihre bodenlose Hoffnung; um Hoffnungen, die
nicht nur aus der Sicht elender Slumbewohner massenhaft enttäuscht werden.
Es müssen mächtige Triebkräfte
sein, die diesen Prozeß auslösen und anheizen; Triebkräfte, die nahezu
überall in der Luft einer Welt liegen, der selbst die Luft auszugehen droht.
Angesichts der Größe des Problems verbieten sich wohl die einfachen
Antworten. Der politschen Gleichgültigkeit, die hier einfach von einem
notwendigen Strukturwandel spricht, kann nur der selbst Gleichgültige
folgen.
Sicherlich spielen die heutigen
Massenmedien eine wichtige Rolle im stillschweigenden Wertewandel breiter
Bevölkerungsschichten – weg vom Land und hin in die Stadt. Schließlich sind
alle Medien städtische Medien. Ein Landfunk hat meist rührende Züge. Eine
Dorfzeitung ist nicht vorstellbar. Aber die Massenmedien transportieren nur
Selbstverständnisse, die ohnehin in der gesellschaftlich-politischen Luft
liegen. Sie verstärken sie propagandistisch, aber sie erfinden sie nicht.
Eine wichtige Triebkraft
zum Verschwinden des Landes ist sicherlich der gesellschaftliche Verlust von
Maßstäben zur Selbstbegrenzung; also einer Tugend, die einst für
verantwortliche Landwirtschaft selbstverständlich war. In einer Welt der
Globalisierung des Denkens und Handelns können sie nichts mehr gelten. Der
einstige Schlachtruf "Stadtluft macht frei" kann
angesichts der millionenfachen Erfahrung, daß eher das Gegenteil die
Lebenswirklichkeit ist, eigentlich niemanden mehr verführen. Die totale
Abhängigkeit des städtischen Endkonsumenten ist wohl kaum mit der immerhin
kleinen Freiheit eines subsistenzorientierten Landlebens vergleichbar
(beziehungsweise wenig vorteilhaft). Bei diesem Vergleich soll es keineswegs
um eine Glorifizierung des Landlebens gehen, wohl aber um die Einsicht, dass
eine ländliche Lebensführung für den Einzelnen
meistens sehr viel überschaubarer und verlässlicher
ist als ein Untertauchen in städtisch-anonymen Sachzwängen. Städtische
Strukturen und Rahmenbedingungen müssen technisch und funktional für sehr
unterschiedliche Menschen sein. Sie können keine persönliche Rücksicht
nehmen. Dem Landflüchtling, der in der Stadt sein Glück sucht, bleibt also
gar nichts anderes übrig, als sich mit dem verwaltungstechnischen Netz der
Stadt zu arrangieren und zu einem Rädchen im System anonymer Abläufe zu
werden. Es sei denn – und das ist kein Ausnahmefall – er fällt durch das
Netz und erstickt an seiner subjektiv empfunden Unfähigkeit und Schuld, sich
erfolgreich im Überlebenskampf durchzusetzen.
Der Landflüchtling kann in
der Stadt leicht verschwinden. Auf dem Lande kann ihm das als Mitglied einer
Hof- und Dorfgemeinschaft kaum gelingen. Umso schwerer wiegt das
Verschwinden des Landes als Lebensraum.
Ein weiterer Bereich des
Verschwindens wird in nächster Zeit der Verlust an Kulturpflanzen sein. Was
über Jahrhunderte an einzelnen Standorten ganz spezifisch durch Anpassungen
an lokale Bedingtheiten heranreifte, die jeweiligen Kulturpflanzen, wird
seit einigen Jahren von Gentechnologen nur noch als genetischer Rohstoff
begriffen; als Rohstoff, den es – nach Meinung dieser Ingenieure – zu
verbessern gilt. Für natürliche Anpassungsprozesse und züchterische
Direktiven über mehrere Generationen hinweg hat der Geningenieur keine Zeit.
Seine Eingriffe in das Erbgut der Kulturpflanzen und auch der Kulturtiere
erfolgen schnell und nicht mehr rückholbar. Artgrenzen können mit dieser
Technik mühelos übersprungen werden. Wenn demnächst alle politischen Hürden
zum breiten Einsatz der Gentechnik beseitigt sein werden und dem
Gentechniker die Türen zur Manipulation von Pflanzen und Tieren offen
stehen, werden die meisten Kulturpflanzen unwiederbringlich zerstört werden
und es wird zu einer weiteren Verarmung der Artenvielfalt kommen. Statt
Kulturpflanzen werden wir im Labor entworfene, "patentierte"
Pflanzenkonstrukte haben, die weltwirtschaftstauglich sind. Schon jetzt
werden gesetzliche Grundlagen verbreitet bzw. sind bereits in Kraft, die
eine Verunreinigung von ansonsten gentechnikfreiem Saatgut tolerieren. Das
bedeutet, dass in kurzer Zeit keine gentechnikfreien
Kulturpflanzen mehr da sein werden. Die europaweit beschlossene
Koexistenz von Gentechniklandwirtschaft und gentechnikfreiem Landbau kann es
nicht geben. Die biologischen Gesetzmäßigkeiten sprechen dagegen.
An diesem Beispiel des
Verschwindens von Landbaugütern wird die enge Verbindung von Wissenschaft,
Weltwirtschaft und Politik sichtbar. Nur durch eine große Koalition dieser
drei Mächte kann es nämlich zum Verlust der Kulturpflanzen kommen. Damit
übernimmt die Ernährungsindustrie endgültig die Weltmachtführung in der
Abfütterung der Weltbevölkerung als Endverbraucher. Die Zeugen eines
agrarkulturell verantworteten Landbaues und ihre Erzeugnisse werden
verdrängt und das Selbstverständnis von lokal angepassten
Kulturpflanzen wird verschwinden. Es wird normal werden, dass
Nahrung als industriell hergestelltes Konsumgut aufgefasst
und verzehrt wird. Weder die Wissenschaft noch die Politik gebieten diesem
verhängnisvollen kulturellen Verfall Einhalt. Im Gegenteil: Sie heizen
diesen Zerstörungsprozess mit ihren Möglichkeiten
noch mächtig an.
Selbstverständnisse des Landbaues
Diesem
Verschwinden soll hier das selbstverständliche Kommen und Gehen nahezu aller
Dinge im Landbau gegenübergestellt werden. Denn von diesem Kommen und Gehen
lebt der Landbau. Die Rotation der Dinge, ihre Wiederkehr in Kreisläufen und
Spiralen lässt prinzipiell keinen Raum für ein bloßes
Verschwinden. Denn es ist ein wesentliches Kennzeichen des Verschwindens, dass
es heimlich passiert. Ein Dieb verschwindet in der Nacht. Dagegen ist das
Werden und Vergehen im Landbau täglich offensichtlich. Dem Schnee und Frost
im Winter folgt das saftig frische Gras der Maiwiesen. Das heranwachsende
Jungtier wird in wenigen Jahren vielleicht zur Leistungsträgerin in der
Kuhherde. Die Fruchtfolge auf den Feldern ist ebenso sichtbar wie das
Absterben der Vegetation in den ersten Frostnächten des Herbstes. Brachland
und erntereife Getreidebestände wechseln einander ab. Sie bedingen einander
sogar und begründen die Existenz bäuerlicher Betriebe.
Auch das Wissen und Können
unterliegt einem ständigen Kommen und Gehen. Was im letzten Jahr agronomisch
richtig war, ist im kommenden Jahr möglicherweise bereits überholt.
Rückschläge beim Anbau bestimmter Feldkulturen motivieren die Bauern
durchaus zu vorsichtigen Änderungen ihrer Fruchtfolge oder
des Anbausystems. Was sich nicht bewährt, wird nicht unter allen
Umständen fortgesetzt, sondern durch hoffnungsvollere Neuerungen ersetzt.
Die Tradition des Wechsels durch Anpassungen an oft Unvorhersehbares
begründet stets neues Wissen und neue Erfahrungen. So entstanden in den
unterschiedlichsten Agrarregionen der Welt sehr unterschiedliche
Agrarkulturen. Das Kommen und Gehen der Dinge gefährdet also nicht
bäuerliche Lebensweisen, sondern ist für sie ein wichtiger Lebensnerv.
Wenn heute bäuerliche
Lebenswelten verschwinden – und das ist in Europa wie auch weltweit der Fall
-, so liegt das wohl nicht zuletzt daran, dass diesem
Lebensnerv, diesem Lebenselixier des Kommens und Gehens, des Wartens und
Hoffens, mächtige Kräfte entgegenstehen; Kräfte, die zum Beispiel eine
jahreszeitlich unabhängige Produktion vorschreiben. Der Markt und die Macht
der städtischen Supermärkte verlangt standardisierte Waren. Von solchen
Zauber-Erzeugnissen weiß der Bauer wenig. Er kann auch nicht dem Glauben an
ein völlig anti-biologisches, ständiges Wirtschaftswachstum anhängen. Er
kennt das Heranwachsen seiner Feldfrüchte, ihr Gedeihen und Absterben. Er
weiß etwas von naturbedingten und auch menschenbedingten Fehlschlägen. Und
er lebt von der Hoffnung, dass nach schlechten Jahren
wieder bessere Jahre folgen mögen. Von festen Erwartungen und einklagbaren
Produktionsmengen weiß er nichts; dazu bedarf es industrieller
Grenzüberschreitungen, die er nur dann vollbringt, wenn er sich selbst
aufgibt und zum Agrarunternehmer wird. Dann fällt ihm eine industrielle
Käfighaltung zur standardisierten Produktion von Hähnchenschenkeln oder
Eiern nicht schwer. Hier kann dann jahreszeitunabhängig in beliebiger Menge
produziert werden.
Eine weitere, bisher in
bäuerlichen Lebenswelten für unmöglich gehaltene Grenzüberschreitung liegt
in der rücksichtslosen Flächenerweiterung der Betriebe. Dies geschieht auf
dem Weg in eine industrielle Landwirtschaft so, als ob man Land beliebig
vermehren könnte. Dabei weiß doch jedes Kind, daß man Land nicht vermehren
kann. Der Globus ist ebenso endlich wie jede Dorfgemarkung. Aber man kann
fremdes Land, also das Land anderer Bauern und Landeigentümer, übernehmen,
also kaufen oder anpachten. Das geschieht in Deutschland und Österreich in
wachsendem Maße, weil es die agrarpolitischen Vorgaben erzwingen. Da heißt
es: "Wachsen oder weichen!". Nun ist es aber so, dass
man die Vorteile der Vergrößerung nur auf dem Rücken anderer erzielen kann.
Das wird kurzfristig nicht immer sichtbar, weil zunächst alle einen Nutzen
von dieser Entwicklung verspüren: die einen durch die Möglichkeit zur
Vergrößerung der Betriebe, die anderen durch die
"Freisetzung" für eine alternative Beschäftigung.
Mittel- und langfristig werden die gesellschaftlichen
Nachteile einer solchen Konzentration aber unübersehbar. Inzwischen ist etwa
der Flächenhunger in einigen Regionen Deutschlands so groß, dass
die neuen Agrarunternehmer zu Konkurrenten um knappe Flächen werden – eine
aus bäuerlicher Tradition heraus undenkbare
nachbarschaftliche Situation.
Wenn
die landwirtschaftlich genutzten Flächen aus den Händen der Dorfbewohner
entschwinden und so genannte Tieflader-Bauern als Fremde die Dorfgemarkungen
übernehmen, dann verschwinden die letzten Beziehungen der Menschen zu ihrem
Land. Dann verschwinden die Kleinbetriebe und ihre Bauerngärten. Dann
verschwindet tatsächlich das Land in den kapitalistischen Taschen von
Agrarunternehmern. Das geschah in den letzten Jahren besonders in
Ostdeutschland. Mit großer maschineller Schlagkraft und Fruchtfolgen, die
diesen Namen nicht mehr verdienen, können dann leicht 800 oder auch 1000
Hektar Fläche von zwei so genannten "Vollbeschäftigten"
bewirtschaftet werden. Das ist die Flächengröße ganzer Dorfgemarkungen. Man
braucht dann keine Dorfbevölkerung mehr. Aber man darf sich dann auch nicht
über wachsende Arbeitslosigkeit wundern.
Man braucht in einer
solchen Agrarindustrie keine Menschen mehr, die Schafe scheren oder Kühe
melken können. Unkraut wird schon lange nicht mehr gehackt, sondern chemisch
weggespritzt. Die Ernte und der Transport der Erntegüter erfolgt in
wachsendem Maße durch Subunternehmer. Vorwiegend alte Menschen bleiben
zunächst noch im Dorf, werden aber irgendwann auch in städtische Altersheime
entführt. Die Jungen werden schon durch ihre schulischen Verpflichtungen an
die Stadtluft gewöhnt und bleiben dann auch meistens darüber hinaus dort. So
verschwindet das Land aus ihren Augen und Herzen. Wenn es „gut" geht (aus
Sicht der Arbeitslosenämter), kommen sie als Umweltberater, als
Naturschutzbeauftragte oder auch als Landtouristen gelegentlich mal zurück.
In Regionen, die für die
industrielle Landwirtschaft nicht oder nur schlecht geeignet sind, z.B.
stark hügelige Lagen oder Gemarkungen mit mit schlechter Bodenqualität,
kommt es immer häufiger zu sogenannten Sozialbrachen. Dort lassen
Landeigentümer ihre Felder einfach verwildern und brachliegen. Sie sind
nicht auf den Verkauf angewiesen und behalten es als Sicherheit für
"schlechte Zeiten". So kommt es heute selbst im
weinreichen Neckartal an besten Weinlagen zu solchen Brachflächen. Immer
weniger Menschen wollen die schwere Weinbergsarbeit in Steillagen noch
verrichten. Auch so kann Land aus dem Bewusstsein von
Menschen verschwinden.
Zum Verschwinden bäuerlicher Selbstverständnisse
Eigentlich
verschwindet Land immer, wenn es seine Nutzer, seine Bewohner nicht mehr in
die Hände und unter die Füße nehmen. Dem materiellen Verschwinden des Landes
als einer agrarkulturell geprägten Lebensform geht
regelmäßig ein Verschwinden seiner ideellen Grundlagen und
Selbstverständnisse voraus. Dieses Verschwinden geschieht oft leise und ohne
öffentliches Aufsehen. Es geschieht besonders leicht beim
Generationswechsel. Mit jedem alten Landmenschen, der irgendwo und
gesellschaftlich abgeschoben stirbt, verschwindet agrarkulturelles Wissen,
Können und Erfahrung. Es sterben Selbstverständnisse, die einstmals
agrarkulturelles Leben begründeten; etwa der großfamiliäre Zusammenhalt, das
Leben mehrerer Generationen "unter einem Dach". Oder
das engste Zusammengehen von Arbeit und Freizeit – bis hin zur
Nichtunterscheidbarkeit beider Bereiche. Auch die einstige
Selbstverständlichkeit, besonders hart zu schuften, damit es die Kinder
einmal besser haben können, ist heute ein politischer und gesellschaftlicher
Fremdkörper. Schließlich, so denken viele, gibt es dafür doch
Versicherungen. Jeder muss heute doch angeblich für
sich selbst sorgen und sehen, wie er zurechtkommt.
Zweifellos sind es die
politischen und gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die den Prozess
des Verschwindens maßgeblich auslösen und vorantreiben. Hierzu zählt vor
allem ein allgemeiner Wertewandel – weg von eigenständiger bäuerlicher
Verantwortung und hin zu funktionierenden Rädchen im Industriesystem. Wo das
Diktat von Geld und Macht, von Markt und Wachstum regiert, verliert der
Landbau seine angestammten Wurzelräume. Er verschwindet.
Hoffnung auf die Kraft und Macht der Ohnmächtigen
Der
Akt des Verschwindens passiert im Rahmen eines offiziell für
sachzwangsnotwendig gehaltenen Strukturwandels. Er passiert also eher
beiläufig und ohne Echo. Davon profitiert eine Agrarpolitik, die sich
internationalen Industriestandards verschrieben hat und deshalb dem
Verschwinden vielfältiger Agrarkulturen kaum eine Bedeutung beimisst.
Das leise Verschwinden von Land müsste
eigentlich längst zum lauten und öffentlichen Skandal geworden sein. Denn
die industriegesellschaftlichen Sackgassen werden immer offensichtlicher.
Wenn Bauern von staatlichen Subventionen abhängiger sind als von ihrer Hände
Arbeit, dann wackelt das Koordinatensystem der Vernunft. Wenn Millionen
Menschen aus landgebundenen Tätigkeiten auf der Straße der
Agrarindustrialisierung "freigesetzt" werden (so
lautet die offizielle Bezeichnung für einen Prozess,
der in den letzten Jahrzehnten unter dem Banner der Modernisierung der
Landwirtschaft ablief), dann ist dies in Zeiten wachsender Arbeitslosigkeit
offensichtlich kein Fortschritt im Sinne tragfähiger Strukturen.
Ich
möchte aber auch realistisch sein und sehen, dass die
Ohnmacht der vom Verschwinden des Landes unmittelbar Betroffenen zweifellos
shr groß ist. Aber aus der Solidarität aller Betroffenen, aller Ohnmächtigen
kann vielleicht untereinander und nach außen eine Kraft erwachsen, die einer
landzerstörerischen Politik entgegentritt. Eine solche Solidarität
kann z.B. junge Bäuerinnen und Bauern ermutigen, dem allgemeinen Trend
Paroli zu bieten und weiterhin bäuerlich-eigensinnig Landbau zu betreiben.
Das ist meine Hoffnung. Ich kann keinen Trost darin erblicken, daß sich eine
bloß technisch bestimmte Zivilisation mittel- und langfristig ohnehin
auflöst. Wir leben heute und sind für die heutigen Vorgänge und Skandale
zuständig. Wir können uns nicht hinter angeblichen Sachzwängen langfristiger
Trends verstecken.
In diesem Sinne möchte ich
bei aller Trauer über das bereits weit fortgeschrittenen Verschwinden des
Landlebens alle Widerständigen ermutigen; ermutigen zu einer
Widerstandskultur gegen die Obrigkeit. Eine solche Widerstandskultur ist
offenbar unabdingbarer Teil einer eigensinnigen Agrarkultur. Wenn Bauern und
Bäuerinnen offen und nach vorne orientiert ihre Äcker und Tiere pflegen
wollen, wenn sie weiterhin eigenständig und eigensinnig wirtschaften wollen,
dann erscheint es mir angesichts der heutigen Bedrohungen naheliegend und
zwingend, die Widerstandskultur gegen vielfältige Bedrohungen iher Existenz
mit allen Betroffenen zu pflegen und die Felder erfolgreichen Protests mutig
zu bestellen. |