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Vom Verschwinden des Landes
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Vom Verschwinden des Landes zu sprechen – das klingt verrückt. Und es ist tatsächlich
etwas ganz Wesentliches ver-rückt, wenn Land verschwindet. Wie ist das überhaupt vorstellbar?
Warum passiert das? Und wenn es zutrifft: hat dies nicht katastrophale Folgen – für die auf
dem Land lebenden Menschen ebenso wie für die Menschheit insgesamt?
Diesen Fragen soll hier ein wenig nachgespürt werden.

...
V
on Sigmar Groeneveld
(01. 07. 2005)

...



Sigmar Groeneveld

rauschel@web.de

ist emeritierter Professor für "Agrarkulturen" an der Universität Kassel. Wichtige Publikationen: "Brotkünste" (1986), "Grün kaputt- warum?" (1988); im Oktober 2004 erscheint im Innsbrucker Studienverlag eine gemeinsam mit Bernhard Heindl verfasste Textsammlung zum Thema "Agrarkulturen".


 


 

 

 

 

Ein Hof und seine historisch gewachsenen Flurnamen

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Höfesterben in Mitteleuropa ist ein politsch herbeigeführter Prozess 

 

 

Je weiter sich ein Land von der bäuerlichen Kultur entfernt, umso "fortschrittlicher" gilt es

 

 

 

 

 

 

 

 

Worauf es heute ankommt, ist der Verbraucher, sein Schutz und seine industrialisierte Ernährung. Landwirte kann man da nur noch als Agrarunternehmer und Landschaftspfleger gebrauchen

 

 

 

 

 

 

Bodenerosionen:
das wortwörtliche Verschwinden des Landes

 

 

 

 

 

Hier geht es nicht darum, dass fruchtbare Erde weggeschwemmt wird, sondern ganze Lebensräume: das Land!

 

 

 

 

 

 

Weil aus ortsgebundenem Schaffen und Tätigsein längst eine uferlose Job-Welt geworden ist, gibt es wenig Gründe für ein Fortbestehen bäuerlicher Lebenswelten. So werden beispielsweise Bauernhöfe zu Randerscheinungen in ihren eigenen Dörfern

 

 

"Der umfassende Verlust des Bodens unter den Füßen von immer mehr Menschen das nenne ich das Verschwinden des Landes."

 

 

 

 

 

Sicherlich spielen die heutigen Massenmedien eine wichtige Rolle. Schließlich sind alle Medien städtische Medien. Ein Landfunk hat meist rührende Züge. Eine Dorfzeitung ist nicht vorstellbar

 

 

 

 

 

 

Dem Landflüchtling, der in der Stadt sein Glück sucht, bleibt gar nichts anderes übrig, als sich mit dem verwaltungstechnischen Netz der Stadt zu arrangieren und zu einem Rädchen im System anonymer Abläufe zu werden

 

 

 

 

 

Wissenschaft, Weltwirtschaft und Politik: Nur durch eine große Koalition dieser drei Mächte kann es zum Verlust der Kulturpflanzen kommen.
Damit übernimmt die Ernährungsindustrie endgültig die Weltmachtführung in der Abfütterung der Weltbevölkerung

 

 

 

 

"Denn von diesem Kommen und Gehen lebt der Landbau. Die Rotation der Dinge, ihre Wiederkehr in Kreisläufen und Spiralen lässt prinzipiell keinen Raum für ein bloßes Verschwinden."

 

Der Markt und die Macht der städtischen Supermärkte verlangt standardisierte Waren und eine jahreszeitlich unabhängige Produktion. Gerade das aber sind anti-biologische, anti-bäuerliche Forderungen

 

 

"Als ob man Land beliebig vermehren könnte! Dabei weiß doch jedes Kind, daß man Land nicht vermehren kann. Der Globus ist ebenso endlich wie jede Dorfgemarkung."

 

 

 

Wenn die Agrarunternehmer ins Dorf kommen, braucht es keine Menschen mehr, die Schafe scheren oder Kühe melken können. Man braucht dann auch keine Dorfbevölkerung mehr

 

Immer weniger Menschen wollen die schwere Weinbergsarbeit in Steillagen noch verrichten. Auch so kann Land aus dem Bewusstsein von Menschen verschwinden

 

 

 

 

Mit jedem alten Landmenschen, der irgendwo und gesellschaftlich abgeschoben stirbt, verschwindet agrarkulturelles Wissen, Können und Erfahrung

 

 

 

 

 

Das leise Verschwinden von Land müsste eigentlich längst zum lauten und öffentlichen Skandal geworden sein

 

 

 

 

 

 

 

Aus der Solidarität aller Betroffenen kann die Kraft entstehen, dem allgemeinen Trend Paroli zu bieten und weiterhin bäuerlich-eigensinnig Landbau zu betreiben

Im selben Maße,
wie sich die technische Zivilisation
am Leben erhält,
zerstört sie die Bedingungen ihrer Existenz.
Über das Risiko sind wir längst hinaus –
Das Verschwinden unserer Gesellschaft
Ist unaufhaltsam.
(Stefan Breuer, Die Gesellschaft des Verschwindens,

Hamburg 1992.
)

Alles unter dem Hammer

   "Am Sulzberg, auf dem hintersten Gesänge, beim Taubenbrunnen, beim Fuchsloche, der Gesängegraben, auf dem vordersten Gesänge, vor der Warte, unter dem Pochhause, am Eulengraben, unter der güldnen Aue, an dem Wichtelsteine, auf dem Kampe, auf der güldnen Aue, die Warteberge, der Schmachteberg, der Talkopf, im roten Graben, an dem Engelsgrunde, im hintern Loch, im Siegen, hinterm Loch, vor der Kampe, am Siege, im Eulengraben, im Grund, auf dem Mönchskopfe – alles unter dem Hammer." (Groeneveld, Sigmar (Hg.): Grün kaputt – warum? Band 3 der Schriften zur Agrarberatung und Agrarkultur, Kassel 1988, S. 259)

Diese Flurbezeichnungen habe ich aus amtsgerichtlichen Unterlagen anläßlich der Zwangsversteigerung eines nordhessischen Hofes, des Gelsterhofes bei Witzenhausen, entnommen. Dieser Gelsterhof existiert seit 1988 nicht mehr. Seine Landflächen wurden wie Kuchen zerschnitten, aber ganz unterschiedlichen Zwecken zugeführt. Die Stadt Witzenhausen hat Gewerbeflächen für Industrieansiedlungen erhalten; Flächen, die heute teilweise als so genannte Industriebrachen zu besichtigen sind. Es entstanden wohl einige so genannte Ausgleichsflächen; Flächen, die als "Ausgleich" für die Zerstörung von Land an anderer Stelle, z.B. beim Straßenbau, besonders geschützt und meistens mit Sträuchern und Bäumen bepflanzt werden. Es entstanden auch etliche Großschläge für die agrarindustrielle Produktion. Übrig blieb noch etwas so geanntes Öd- und Unland – so die amtliche Bezeichnung. Es entstand also vieles neu. Was aber ist eigentlich verschwunden?

Der Gelsterhof ist insgesamt verschwunden. Seine reiche Geschichte ist abgerissen. Den anerkannten Lehrbetrieb, auf dem viele Lehrlinge über Jahrzehnte hinweg ihre Ausbildung erfuhren, gibt es nicht mehr. Es kann jetzt keinen landwirtschaftlichen Lehrling mehr geben, der hier mit einem Pferdegespann oder auch Schlepper "auf der güldnen Aue" das Pflügen oder Säen erlernen könnte. Die historisch gewachsenen Flurnamen können also nicht mehr gelebt werden. Moderne Kataster und effiziente Luftbildaufnahmen, z.B. zur Kontrolle agrarpolitischer Vorgaben wie etwa die Einhaltung von Flächenstilllegungen benötigen derartige Flurnamen nicht mehr. Das einst feingliedrige Wegenetz der Gemarkungen ist ebenfalls bereits weitgehend verschwunden. Die verbliebenen Feldwege sind meistens für Schwertransporte ausgebaut worden und tragen nur noch selten ihren historisch angestammten Namen.

   Der ehemalige Gelsterhof ist nur ein Beispiel für das massenhafte Höfesterben der letzten Jahrzehnte in Mitteleuropa. Es zeigt, dass mit diesem politisch herbeigeführten Prozeß eine ganz fundamentale geistig-ideologische und auch materielle Flurbereinigung einhergeht; eine Sterilisierung der Flur, die weit über einen bloß neuen Zuschnitt der vorhandenen Flächen hinausgeht. Mit den wegrationalisierten Wegen verschwindet das Gras, die Blumen und Bäume der Wegränder. Mit der Erübrigung der Flurnamen verschwindet Ereignisgeschichte. Es verschwinden Mythen, Erinnerungen und Erzählungen, die sich um diese Namen rankten. Das unverwechselbare Eigene einer jeden Flur, eines Dorfes und auch eines Hofes verschwindet. Dass auch viele Menschen, die oft in langen Generationsketten ihren Höfen und Dörfern eng verbunden, in ihnen tief verwurzelt waren, verschwunden sind, kann hier nur angemerkt werden. Und mit diesen verschwundenen Menschen ist ihr Wissen und Können, ihre Erfahrung unter jeweils konkreten lokalen Bedingungen ebenfalls verschwunden. Es verschwindet also sehr viel von dem, was einmal das Landleben ausmachte.


Bedingungen zum Wahrnehmen des Verschwindens

     Vom Verschwinden einer Sache überhaupt sinnvoll sprechen zu können, setzt zunächst ganz banal voraus, dass die Sache existierte und ihr Verschwinden wahrgenommen wird. Diese Banalität entpuppt sich sofort zu einem Problem, wenn diese Sache Land, Landleben, Existenz auf dem Lande heißt. Die heute dominante Agrarpolitik als Vollstreckerin industrieller Selbstverständnisse nimmt ein existentiell begründetes Landleben als historisch gewachsenes und gesellschaftlich hohes Gut überhaupt nicht wahr. Sie hat dafür keine Zeit, weil ganz neue Funktionsträume entwickelt werden müssen. Denn aus Land ist längst "Entwicklungsregion" geworden. Bernhard Heindl stellte dazu bereits vor vielen Jahren fest:

"...je weiter eine Gesellschaft von den Wurzeln ihrer bäuerlichen Kultur entfernt ist, desto höher gilt ihr Entwicklungsstandard, der am Grad ihrer Industrialsierung gemessen wird." (Heindl, Bernhard: Einwärts – Auswärts. Vom Hegen der Erde, Innsbruck 1997, S. 12)

Die Nichtwahrnehmung einer bäuerlichen Kultur und ihrer Bedeutung für die Gesamtgesellschaft ist also wesentliche Voraussetzung für das heutige Verschwinden des einstigen Landlebens. In Deutschland kann man dies bereits plakativ an der Bezeichnung des hierfür zuständigen Ministeriums erkennen. Es heißt: "Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft". Bei einer solchen Prioritätensetzung ist es fast gleichgültig, ob dieses Ministerium politisch rot, schwarz oder aber grün geführt wird. Worauf es offensichtlich heute machtpolitisch ankommt, ist der Verbraucher, sein Schutz und seine industrialisierte Ernährung. Landwirte kann man da nur noch als Agrarunternehmer und Landschaftspfleger gebrauchen. Man kann die prinzipielle Nichtwahrnehmung eines existenziell begründeten Landlebens zur Zeit auch daran erkennen, dass zum Beispiel deutsche Milchbauern am Markt weniger Geld für die von ihnen erzeugte Milch erhalten als ihre Produktionskosten sind. Mein Nachbar erhält noch 26 Cents pro Liter. Seine Erzeugerkosten liegen jedoch bei 32 Cents. Nach 3-stündiger Stallarbeit an jedem frühen Morgen eines jeden Wochentages mit Frau und Tochter legt er also etwa 30 Euro aus seiner Hofsubstanz dazu. Da ist es nur eine Frage der Zeit, wann ein Milchbetrieb verschwindet.

Aber um heute vom Verschwinden von irgend etwas überhaupt sinnvoll sprechen zu können, setzt dies doch voraus, bei Sinnen zu sein. Das ist in einer Welt zunehmender und systematischer Sinnentleerung keineswegs selbstverständlich. Denn dabei sind wenigstens 3 Grundsätze zu beachten, die heute sehr realitätsfremd, ja weltfremd klingen:

A) Die Begrenzung des Sehens anzuerkennen, also den begrenzenden Horizont als Voraussetzung für jegliche Einsichten zu bejahen

B) Den Ort als Standpunkt des Sehenden auszuweisen und zu würdigen. Dafür ist angeblich in einer globalisierten Welt kein politischer Raum mehr. Die Raubvogelperspektive frisst den Ort.

C) Das anerkannt Verschwundene in diesem Kontext zu benennen und somit nicht in die Falle einer angeblich objektiven Weltmachtbetrachtung zu treten.

Zur Erosion von Lebensräumen

     Jeder Ökonomie-Student lernt, dass der Boden im Gegensatz zu den beiden anderen Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital immobil ist. Wie kann er dann verschwinden, also höchst mobil sein? Der Bodenkundler spricht von Erosion, von Bodenerosion, wenn Erde mobil wird. Er unterscheidet dabei meistens zwischen Wind- und Wassererosion und beschreibt beide Phänomene als katastropal für die Regionen, in denen fruchtbare Ackerkrume aufgrund solcher Erosionen verschwindet. Beispiele für solche katastrophalen Folgen von Erosionen gibt es reichlich. Man denke etwa an die Verwüstung des einstigen Corn-Belts in den USA. Wenn die dünne und lebendige Erdkrume verschwindet, bleibt tote Erde zurück.

Beim Verschwinden des Landes im hier verstandenen Sinne geht es ebenfalls um Erosionen. Allerdings geht es hier nicht um Boden oder Erde – zum Beispiel als Wurzelraum für Pflanzen. Hier geht es nicht darum, dass fruchtbare Erde weggeschwemmt wird, sondern ganze Lebensräume: das Land! Es geht hier also um soziale und politische Erosionen, die das Landleben zerstören. Es geht hier um viel mehr als nur physikalisch-technische Zerstörungen einer Erdkrume als lebendigem Boden.

   Um dieses Phänomen, diese Behauptung etwas näher beleuchten zu können, erscheint es mir zunächst hilfreich, an die gängige Unterscheidung zwischen Land und Stadt zu erinnern. Städte verschwinden heute nicht. Sie wachsen seit einigen Jahrzehnten an vielen Orten der Welt wie Pilze aus dem Boden. Millionenstätte wie Bombay oder Calcutta sind keine Ausnahme mehr. Von vielen Mammutstädten wie z.B. Surabaja wissen die meisten Menschen gar nichts und deshalb auch nicht, ob es sich um Fünfmillionenstädte handelt oder – wie Surabaja – diese Grenze längst überschritten haben.

Dagegen ist Land weithin bereits zum bloßen Hinterland der Städte geworden. Und mehr als nur das: es ist gerade in sogenannten entwickelten Staaten, den Industriestaaten, zur finanziellen Belastung geworden. Nur mittels hoher Subventionen konnte das Land dort in den letzten Jahrzehnten überhaupt überleben. Die Landwirtschaft ist in der Europäischen Gemeinschaft zum Hauptkostenfaktor geworden. Es gibt also durchaus gute Gründe, das völlige Verschwinden des Landes zu begrüßen.

  Beides, die Verstädterung der Welt und das Verschwinden des Landes, hängt eng miteinander zusammen und hat gleiche Ursachen. Weil es z.B. an vielen Universitäten zwar Lehrstühle für Urbanistik, nicht aber für Ruralistik gibt, braucht man sich nicht zu wundern, dass junge Menschen heute meistens stadtorientiert sind. Weil z.B. Ökonomie-Schulen das stetige Wirtschaftswachstum als Motor für die gesellschaftliche Entwicklung ansehen, sind die Begrenzungen eines agrarkulturell bestimmten Lebens offenbar nur hinderlich. Weil aus ortsgebundenem Schaffen und Tätigsein längst eine uferlose Job-Welt geworden ist, gibt es wenig Gründe für ein Fortbestehen bäuerlicher Lebenswelten. So werden beispielsweise Bauernhöfe zu Randerscheinungen in ihren eigenen Dörfern. So erscheint eine allgemeine Landflucht logisch und eine wachsende Verstädterung der Welt geradezu zwingend geboten.

Es ist eine schlichte Tatsache: Immer mehr Menschen verlassen weltweit ihre angestammten Lebensräume, das Land, um in den Städten eine bessere Zukunft für sich und ihre Kinder zu finden. Bei diesem Vorgang verschwindet viel mehr als nur die Landflüchtigen selbst. Es verschwindet zum Beispiel ihr Stolz auf ihre Herkunft. Es verschwindet auch ihre unmittelbare Verantwortung für ihr Gemeinwesen. Es verschwindet auch ihr ortsgebundenes Wissen als Basis für ihre bisherige existenzielle Begründung. Und damit verschwindet insgesamt ihre bisherige Orientierung und Lebenserfahrung. Das ist weit mehr als nur das Wegfliegen fruchtbarer Ackerkrume – so schwerwiegend auch bereits Bodenerosionen für die von ihnen betroffenen Menschen sind. Es ist eine soziale und politische Erosion größten Ausmaßes. Es ist der umfassende Verlust des Bodens unter den Füßen von immer mehr Menschen. Das nenne ich das Verschwinden des Landes.


Zu den Ursachen der Landflucht

   Wieso kommt es zu dieser Tatsache einer allgemeinen Landflucht? Wieso werden die zweifellos oft harten Bedingungen dörflicher Existenz durch eine blinde Hoffnung auf ein besseres Leben in der Stadt eingetauscht. Offensichtlich geht es hier ja nicht um eine begründete Umorientierung von Millionen von Menschen, sondern tatsächlich um ihre bodenlose Hoffnung; um Hoffnungen, die nicht nur aus der Sicht elender Slumbewohner massenhaft enttäuscht werden.

Es müssen mächtige Triebkräfte sein, die diesen Prozeß auslösen und anheizen; Triebkräfte, die nahezu überall in der Luft einer Welt liegen, der selbst die Luft auszugehen droht. Angesichts der Größe des Problems verbieten sich wohl die einfachen Antworten. Der politschen Gleichgültigkeit, die hier einfach von einem notwendigen Strukturwandel spricht, kann nur der selbst Gleichgültige folgen.

   Sicherlich spielen die heutigen Massenmedien eine wichtige Rolle im stillschweigenden Wertewandel breiter Bevölkerungsschichten – weg vom Land und hin in die Stadt. Schließlich sind alle Medien städtische Medien. Ein Landfunk hat meist rührende Züge. Eine Dorfzeitung ist nicht vorstellbar. Aber die Massenmedien transportieren nur Selbstverständnisse, die ohnehin in der gesellschaftlich-politischen Luft liegen. Sie verstärken sie propagandistisch, aber sie erfinden sie nicht.

Eine wichtige Triebkraft zum Verschwinden des Landes ist sicherlich der gesellschaftliche Verlust von Maßstäben zur Selbstbegrenzung; also einer Tugend, die einst für verantwortliche Landwirtschaft selbstverständlich war. In einer Welt der Globalisierung des Denkens und Handelns können sie nichts mehr gelten. Der einstige Schlachtruf "Stadtluft macht frei" kann angesichts der millionenfachen Erfahrung, daß eher das Gegenteil die Lebenswirklichkeit ist, eigentlich niemanden mehr verführen. Die totale Abhängigkeit des städtischen Endkonsumenten ist wohl kaum mit der immerhin kleinen Freiheit eines subsistenzorientierten Landlebens vergleichbar (beziehungsweise wenig vorteilhaft). Bei diesem Vergleich soll es keineswegs um eine Glorifizierung des Landlebens gehen, wohl aber um die Einsicht, dass eine ländliche Lebensführung für den Einzelnen meistens sehr viel überschaubarer und verlässlicher ist als ein Untertauchen in städtisch-anonymen Sachzwängen. Städtische Strukturen und Rahmenbedingungen müssen technisch und funktional für sehr unterschiedliche Menschen sein. Sie können keine persönliche Rücksicht nehmen. Dem Landflüchtling, der in der Stadt sein Glück sucht, bleibt also gar nichts anderes übrig, als sich mit dem verwaltungstechnischen Netz der Stadt zu arrangieren und zu einem Rädchen im System anonymer Abläufe zu werden. Es sei denn – und das ist kein Ausnahmefall – er fällt durch das Netz und erstickt an seiner subjektiv empfunden Unfähigkeit und Schuld, sich erfolgreich im Überlebenskampf durchzusetzen.

Der Landflüchtling kann in der Stadt leicht verschwinden. Auf dem Lande kann ihm das als Mitglied einer Hof- und Dorfgemeinschaft kaum gelingen. Umso schwerer wiegt das Verschwinden des Landes als Lebensraum.

  Ein weiterer Bereich des Verschwindens wird in nächster Zeit der Verlust an Kulturpflanzen sein. Was über Jahrhunderte an einzelnen Standorten ganz spezifisch durch Anpassungen an lokale Bedingtheiten heranreifte, die jeweiligen Kulturpflanzen, wird seit einigen Jahren von Gentechnologen nur noch als genetischer Rohstoff begriffen; als Rohstoff, den es – nach Meinung dieser Ingenieure – zu verbessern gilt. Für natürliche Anpassungsprozesse und züchterische Direktiven über mehrere Generationen hinweg hat der Geningenieur keine Zeit. Seine Eingriffe in das Erbgut der Kulturpflanzen und auch der Kulturtiere erfolgen schnell und nicht mehr rückholbar. Artgrenzen können mit dieser Technik mühelos übersprungen werden. Wenn demnächst alle politischen Hürden zum breiten Einsatz der Gentechnik beseitigt sein werden und dem Gentechniker die Türen zur Manipulation von Pflanzen und Tieren offen stehen, werden die meisten Kulturpflanzen unwiederbringlich zerstört werden und es wird zu einer weiteren Verarmung der Artenvielfalt kommen. Statt Kulturpflanzen werden wir im Labor entworfene, "patentierte" Pflanzenkonstrukte haben, die weltwirtschaftstauglich sind. Schon jetzt werden gesetzliche Grundlagen verbreitet bzw. sind bereits in Kraft, die eine Verunreinigung von ansonsten gentechnikfreiem Saatgut tolerieren. Das bedeutet, dass in kurzer Zeit keine gentechnikfreien Kulturpflanzen mehr da sein werden. Die europaweit beschlossene Koexistenz von Gentechniklandwirtschaft und gentechnikfreiem Landbau kann es nicht geben. Die biologischen Gesetzmäßigkeiten sprechen dagegen.

An diesem Beispiel des Verschwindens von Landbaugütern wird die enge Verbindung von Wissenschaft, Weltwirtschaft und Politik sichtbar. Nur durch eine große Koalition dieser drei Mächte kann es nämlich zum Verlust der Kulturpflanzen kommen. Damit übernimmt die Ernährungsindustrie endgültig die Weltmachtführung in der Abfütterung der Weltbevölkerung als Endverbraucher. Die Zeugen eines agrarkulturell verantworteten Landbaues und ihre Erzeugnisse werden verdrängt und das Selbstverständnis von lokal angepassten Kulturpflanzen wird verschwinden. Es wird normal werden, dass Nahrung als industriell hergestelltes Konsumgut aufgefasst und verzehrt wird. Weder die Wissenschaft noch die Politik gebieten diesem verhängnisvollen kulturellen Verfall Einhalt. Im Gegenteil: Sie heizen diesen Zerstörungsprozess mit ihren Möglichkeiten noch mächtig an.


Selbstverständnisse des Landbaues

  Diesem Verschwinden soll hier das selbstverständliche Kommen und Gehen nahezu aller Dinge im Landbau gegenübergestellt werden. Denn von diesem Kommen und Gehen lebt der Landbau. Die Rotation der Dinge, ihre Wiederkehr in Kreisläufen und Spiralen lässt prinzipiell keinen Raum für ein bloßes Verschwinden. Denn es ist ein wesentliches Kennzeichen des Verschwindens, dass es heimlich passiert. Ein Dieb verschwindet in der Nacht. Dagegen ist das Werden und Vergehen im Landbau täglich offensichtlich. Dem Schnee und Frost im Winter folgt das saftig frische Gras der Maiwiesen. Das heranwachsende Jungtier wird in wenigen Jahren vielleicht zur Leistungsträgerin in der Kuhherde. Die Fruchtfolge auf den Feldern ist ebenso sichtbar wie das Absterben der Vegetation in den ersten Frostnächten des Herbstes. Brachland und erntereife Getreidebestände wechseln einander ab. Sie bedingen einander sogar und begründen die Existenz bäuerlicher Betriebe.

Auch das Wissen und Können unterliegt einem ständigen Kommen und Gehen. Was im letzten Jahr agronomisch richtig war, ist im kommenden Jahr möglicherweise bereits überholt. Rückschläge beim Anbau bestimmter Feldkulturen motivieren die Bauern durchaus zu vorsichtigen Änderungen ihrer Fruchtfolge oder des Anbausystems. Was sich nicht bewährt, wird nicht unter allen Umständen fortgesetzt, sondern durch hoffnungsvollere Neuerungen ersetzt. Die Tradition des Wechsels durch Anpassungen an oft Unvorhersehbares begründet stets neues Wissen und neue Erfahrungen. So entstanden in den unterschiedlichsten Agrarregionen der Welt sehr unterschiedliche Agrarkulturen. Das Kommen und Gehen der Dinge gefährdet also nicht bäuerliche Lebensweisen, sondern ist für sie ein wichtiger Lebensnerv.

    Wenn heute bäuerliche Lebenswelten verschwinden – und das ist in Europa wie auch weltweit der Fall -, so liegt das wohl nicht zuletzt daran, dass diesem Lebensnerv, diesem Lebenselixier des Kommens und Gehens, des Wartens und Hoffens, mächtige Kräfte entgegenstehen; Kräfte, die zum Beispiel eine jahreszeitlich unabhängige Produktion vorschreiben. Der Markt und die Macht der städtischen Supermärkte verlangt standardisierte Waren. Von solchen Zauber-Erzeugnissen weiß der Bauer wenig. Er kann auch nicht dem Glauben an ein völlig anti-biologisches, ständiges Wirtschaftswachstum anhängen. Er kennt das Heranwachsen seiner Feldfrüchte, ihr Gedeihen und Absterben. Er weiß etwas von naturbedingten und auch menschenbedingten Fehlschlägen. Und er lebt von der Hoffnung, dass nach schlechten Jahren wieder bessere Jahre folgen mögen. Von festen Erwartungen und einklagbaren Produktionsmengen weiß er nichts; dazu bedarf es industrieller Grenzüberschreitungen, die er nur dann vollbringt, wenn er sich selbst aufgibt und zum Agrarunternehmer wird. Dann fällt ihm eine industrielle Käfighaltung zur standardisierten Produktion von Hähnchenschenkeln oder Eiern nicht schwer. Hier kann dann jahreszeitunabhängig in beliebiger Menge produziert werden.

Eine weitere, bisher in bäuerlichen Lebenswelten für unmöglich gehaltene Grenzüberschreitung liegt in der rücksichtslosen Flächenerweiterung der Betriebe. Dies geschieht auf dem Weg in eine industrielle Landwirtschaft so, als ob man Land beliebig vermehren könnte. Dabei weiß doch jedes Kind, daß man Land nicht vermehren kann. Der Globus ist ebenso endlich wie jede Dorfgemarkung. Aber man kann fremdes Land, also das Land anderer Bauern und Landeigentümer, übernehmen, also kaufen oder anpachten. Das geschieht in Deutschland und Österreich in wachsendem Maße, weil es die agrarpolitischen Vorgaben erzwingen. Da heißt es: "Wachsen oder weichen!". Nun ist es aber so, dass man die Vorteile der Vergrößerung nur auf dem Rücken anderer erzielen kann. Das wird kurzfristig nicht immer sichtbar, weil zunächst alle einen Nutzen von dieser Entwicklung verspüren: die einen durch die Möglichkeit zur Vergrößerung der Betriebe, die anderen durch die "Freisetzung" für eine alternative Beschäftigung. Mittel- und langfristig werden die gesellschaftlichen Nachteile einer solchen Konzentration aber unübersehbar. Inzwischen ist etwa der Flächenhunger in einigen Regionen Deutschlands so groß, dass die neuen Agrarunternehmer zu Konkurrenten um knappe Flächen werden – eine aus bäuerlicher Tradition heraus undenkbare nachbarschaftliche Situation.

   Wenn die landwirtschaftlich genutzten Flächen aus den Händen der Dorfbewohner entschwinden und so genannte Tieflader-Bauern als Fremde die Dorfgemarkungen übernehmen, dann verschwinden die letzten Beziehungen der Menschen zu ihrem Land. Dann verschwinden die Kleinbetriebe und ihre Bauerngärten. Dann verschwindet tatsächlich das Land in den kapitalistischen Taschen von Agrarunternehmern. Das geschah in den letzten Jahren besonders in Ostdeutschland. Mit großer maschineller Schlagkraft und Fruchtfolgen, die diesen Namen nicht mehr verdienen, können dann leicht 800 oder auch 1000 Hektar Fläche von zwei so genannten "Vollbeschäftigten" bewirtschaftet werden. Das ist die Flächengröße ganzer Dorfgemarkungen. Man braucht dann keine Dorfbevölkerung mehr. Aber man darf sich dann auch nicht über wachsende Arbeitslosigkeit wundern.

Man braucht in einer solchen Agrarindustrie keine Menschen mehr, die Schafe scheren oder Kühe melken können. Unkraut wird schon lange nicht mehr gehackt, sondern chemisch weggespritzt. Die Ernte und der Transport der Erntegüter erfolgt in wachsendem Maße durch Subunternehmer. Vorwiegend alte Menschen bleiben zunächst noch im Dorf, werden aber irgendwann auch in städtische Altersheime entführt. Die Jungen werden schon durch ihre schulischen Verpflichtungen an die Stadtluft gewöhnt und bleiben dann auch meistens darüber hinaus dort. So verschwindet das Land aus ihren Augen und Herzen. Wenn es „gut" geht (aus Sicht der Arbeitslosenämter), kommen sie als Umweltberater, als Naturschutzbeauftragte oder auch als Landtouristen gelegentlich mal zurück.

   In Regionen, die für die industrielle Landwirtschaft nicht oder nur schlecht geeignet sind, z.B. stark hügelige Lagen oder Gemarkungen mit mit schlechter Bodenqualität, kommt es immer häufiger zu sogenannten Sozialbrachen. Dort lassen Landeigentümer ihre Felder einfach verwildern und brachliegen. Sie sind nicht auf den Verkauf angewiesen und behalten es als Sicherheit für "schlechte Zeiten". So kommt es heute selbst im weinreichen Neckartal an besten Weinlagen zu solchen Brachflächen. Immer weniger Menschen wollen die schwere Weinbergsarbeit in Steillagen noch verrichten. Auch so kann Land aus dem Bewusstsein von Menschen verschwinden.


Zum Verschwinden bäuerlicher Selbstverständnisse

   Eigentlich verschwindet Land immer, wenn es seine Nutzer, seine Bewohner nicht mehr in die Hände und unter die Füße nehmen. Dem materiellen Verschwinden des Landes als einer agrarkulturell geprägten Lebensform geht regelmäßig ein Verschwinden seiner ideellen Grundlagen und Selbstverständnisse voraus. Dieses Verschwinden geschieht oft leise und ohne öffentliches Aufsehen. Es geschieht besonders leicht beim Generationswechsel. Mit jedem alten Landmenschen, der irgendwo und gesellschaftlich abgeschoben stirbt, verschwindet agrarkulturelles Wissen, Können und Erfahrung. Es sterben Selbstverständnisse, die einstmals agrarkulturelles Leben begründeten; etwa der großfamiliäre Zusammenhalt, das Leben mehrerer Generationen "unter einem Dach". Oder das engste Zusammengehen von Arbeit und Freizeit – bis hin zur Nichtunterscheidbarkeit beider Bereiche. Auch die einstige Selbstverständlichkeit, besonders hart zu schuften, damit es die Kinder einmal besser haben können, ist heute ein politischer und gesellschaftlicher Fremdkörper. Schließlich, so denken viele, gibt es dafür doch Versicherungen. Jeder muss heute doch angeblich für sich selbst sorgen und sehen, wie er zurechtkommt.

Zweifellos sind es die politischen und gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die den Prozess des Verschwindens maßgeblich auslösen und vorantreiben. Hierzu zählt vor allem ein allgemeiner Wertewandel – weg von eigenständiger bäuerlicher Verantwortung und hin zu funktionierenden Rädchen im Industriesystem. Wo das Diktat von Geld und Macht, von Markt und Wachstum regiert, verliert der Landbau seine angestammten Wurzelräume. Er verschwindet.


Hoffnung auf die Kraft und Macht der Ohnmächtigen

   Der Akt des Verschwindens passiert im Rahmen eines offiziell für sachzwangsnotwendig gehaltenen Strukturwandels. Er passiert also eher beiläufig und ohne Echo. Davon profitiert eine Agrarpolitik, die sich internationalen Industriestandards verschrieben hat und deshalb dem Verschwinden vielfältiger Agrarkulturen kaum eine Bedeutung beimisst.

Das leise Verschwinden von Land müsste eigentlich längst zum lauten und öffentlichen Skandal geworden sein. Denn die industriegesellschaftlichen Sackgassen werden immer offensichtlicher. Wenn Bauern von staatlichen Subventionen abhängiger sind als von ihrer Hände Arbeit, dann wackelt das Koordinatensystem der Vernunft. Wenn Millionen Menschen aus landgebundenen Tätigkeiten auf der Straße der Agrarindustrialisierung "freigesetzt" werden (so lautet die offizielle Bezeichnung für einen Prozess, der in den letzten Jahrzehnten unter dem Banner der Modernisierung der Landwirtschaft ablief), dann ist dies in Zeiten wachsender Arbeitslosigkeit offensichtlich kein Fortschritt im Sinne tragfähiger Strukturen.

   Ich möchte aber auch realistisch sein und sehen, dass die Ohnmacht der vom Verschwinden des Landes unmittelbar Betroffenen zweifellos shr groß ist. Aber aus der Solidarität aller Betroffenen, aller Ohnmächtigen kann vielleicht untereinander und nach außen eine Kraft erwachsen, die einer landzerstörerischen Politik entgegentritt. Eine solche Solidarität kann z.B. junge Bäuerinnen und Bauern ermutigen, dem allgemeinen Trend Paroli zu bieten und weiterhin bäuerlich-eigensinnig Landbau zu betreiben. Das ist meine Hoffnung. Ich kann keinen Trost darin erblicken, daß sich eine bloß technisch bestimmte Zivilisation mittel- und langfristig ohnehin auflöst. Wir leben heute und sind für die heutigen Vorgänge und Skandale zuständig. Wir können uns nicht hinter angeblichen Sachzwängen langfristiger Trends verstecken.

In diesem Sinne möchte ich bei aller Trauer über das bereits weit fortgeschrittenen Verschwinden des Landlebens alle Widerständigen ermutigen; ermutigen zu einer Widerstandskultur gegen die Obrigkeit. Eine solche Widerstandskultur ist offenbar unabdingbarer Teil einer eigensinnigen Agrarkultur. Wenn Bauern und Bäuerinnen offen und nach vorne orientiert ihre Äcker und Tiere pflegen wollen, wenn sie weiterhin eigenständig und eigensinnig wirtschaften wollen, dann erscheint es mir angesichts der heutigen Bedrohungen naheliegend und zwingend, die Widerstandskultur gegen vielfältige Bedrohungen iher Existenz mit allen Betroffenen zu pflegen und die Felder erfolgreichen Protests mutig zu bestellen.

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