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Quantentheorie, Bewusstsein und Willensfreiheit

Wenn alle Prozesse, die im Gehirn ablaufen, ausnahmslos vorherbestimmt sind,
dann gibt es für den freien Willen des Menschen keinen Platz mehr. Sowohl Quantenphysik
als auch Chaostheorie versuchen deshalb, die strenge Kausalität der Gehirnprozesse
dadurch zu umgehen, dass sie das Element des Zufalls ins Spiel bringen. Doch auch dann,
wenn etwa die Quantentheorie recht hätte, wäre dies noch keine Erklärung für Freiheit
und Selbstbestimmung, denn eine bewusste Entscheidung geschieht ja nicht nur
per Zufall, sondern immer auch mit Notwendigkeit.

Von Peter Kügler
(01. 06. 2002)

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Ao. Univ.-Prof. Dr.
Peter Kügler

peter.kuegler [at] uibk.ac.at

arbeitet am Institut für Philosophie der Universität Innsbruck.



Publikationen

Die Philosophie der primären und sekundären Qualitäten. Paderborn: Mentis, 2002

Vom Funktionieren zum Interpretieren. Zwei Philosophien des menschlichen Geistes. Frankfurt/M.: Lang, 1995

 

Roger Penrose: "Der Geist existiert nicht unabhängig vom Gehirn, sondern geht aus diesem hervor"

   Es gibt eine Reihe von Wissenschaftlern, die das Leib-Seele-Problem mit Hilfe der Quantentheorie lösen wollen. Philosophen reagieren auf diese Idee zwar meist eher ablehnend (vgl. z.B. Chalmers 1995a und 1995b, Grush/Churchland 1995, Ludwig 1995), aber immerhin gehören zu den Proponenten einer quantentheoretischen Lösung des Leib-Seele-Problems so illustre Persönlichkeiten wie John Eccles, Henry Margenau, Henry P. Stapp und Roger Penrose. Die Theorien dieser Wissenschaftler unterscheiden sich zum Teil recht erheblich voneinander. Bei John Eccles beispielsweise findet man einen relativ traditionellen Leib-Seele-Dualismus, der lediglich durch die These gewürzt ist, dass der Geist die Wahrscheinlichkeit des Eintretens neuronaler Prozesse verändert (vgl. Eccles 1994). Dabei denkt Eccles vor allem an die Emission von Neurotransmittern an den Synapsen. Auf welche Weise freilich der Geist die Emissionswahrscheinlichkeit verändern soll, bleibt ein Rätsel. Eine quantentheoretische Erklärung der Existenz des Geistes ist dies natürlich auch nicht, dafür agiert der Geist bei Eccles viel zu selbständig.

Roger Penrose ist der Quantentheoretiker der Seele, der in den letzten Jahren am meisten von sich reden gemacht hat, unter anderem durch die Publikation zweier Bücher ("Computerdenken" und "Schatten des Geistes"). Penrose vertritt im Gegensatz zu Eccles die unter Naturwissenschaftlern zweifellos populärere These, dass der Geist nicht unabhängig vom Gehirn existiert, sondern aus diesem hervorgeht (vgl. Penrose 1995). Verantwortlich dafür sind seiner Meinung nach Quantenprozesse in Mikrotubuli – das sind Röhren mit einem inneren Durchmesser von 14 Nanometern, die die Nervenzellen durchziehen (vgl. Penrose 1995, Kap. 7). (Diese Idee hat Penrose von Stuart Hameroff übernommen; vgl. Hameroff 1994). Die Theorie, die laut Penrose die Quantenprozesse in den Mikrotubuli beschreiben soll, ist allerdings noch nicht erfunden. Es handelt sich dabei nämlich um jene Quantentheorie der Gravitation, die zwar fieberhaft gesucht, aber noch nicht in Sicht ist.

 

 

 

 

 

Kritik an der Idee von Penrose

   Die Penrose´sche Lösung des Leib-Seele-Problems ist reichlich spekulativ, und zwar nicht nur deshalb, weil sie sich auf eine physikalische Theorie bezieht, die es noch gar nicht gibt, sondern auch, weil sie von ungesicherten neurobiologischen Hypothesen ausgeht. Denn tatsächlich weiß man heute noch zu wenig über die Funktion der Mikrotubuli. Offenbar stützen Mikrotubuli die Nervenfasern, und wahrscheinlich transportieren sie an ihrer Außenseite Neurotransmitter und Proteine. Die Hypothesen von Penrose gehen aber weit darüber hinaus: Er meint, dass die Mikrotubuli die Stärke synaptischer Verbindungen beeinflussen (was wieder an Eccles erinnert). Die Quantenprozesse in den Mikrotubuli hätten demnach Auswirkungen auf die Emission von Neurotransmittern an den Synapsen.

Diese Behauptung ist ziemlich fragwürdig. Die von Penrose postulierten Quantenprozesse in den Mikrotubuli können nur dann auftreten, wenn das System von der Umwelt energetisch isoliert ist. Das ist bei den Mikrotubuli aber wohl nicht der Fall. Auch Verunreinigungen des Wassers in den Mikrotubuli könnten sich störend auswirken. Und was den angeblichen Einfluss auf die synaptische Aktivität angeht, so ist weitgehend unklar, wie dieser vor sich gehen soll. Tatsächlich enden die Mikrotubuli so weit vor der Synapse (vgl. Grush/Churchland 1995, 244), dass die Existenz eines solchen Einflusses zweifelhaft erscheint.

 

Kann eine Quantentheorie des Gehirns die Entstehung des Bewusstseins erklären?

 

 

 

 

 

 

Philosophische Argumente gegen die physikalische Erklärung von Bewusstsein

   Diese Einwände gegen die Mikrotubuli-Theorie werden eifrig diskutiert (selbstverständlich haben Penrose und Hameroff sich dagegen zur Wehr gesetzt; vgl. Penrose/Hameroff 1995). Als Nichtfachmann in der Neurobiologie fühle ich mich außerstande zu entscheiden, wer hier recht hat. Doch im Grunde haben die erwähnten Einwände auch nichts mit Philosophie zu tun. Es geht dabei um rein naturwissenschaftliche Fragen. Aus philosophischer Sicht ist ein anderer Punkt viel interessanter: Nehmen wir an, alles, was Penrose über die Quantentheorie des Gehirns sagt, wäre richtig. Wäre das die Lösung des Bewusstseinsproblems? Höchstwahrscheinlich nicht. Es gibt nämlich gute Gründe gegen die Annahme, dass die Quantentheorie oder irgendeine andere physikalische Theorie, die sich mit Gehirnfunktionen beschäftigt, die Entstehung des Bewusstseins erklären könnte.

Die meisten philosophischen Argumente gegen die physikalische Erklärung des Bewusstseins lassen sich zwei Typen zuordnen. Argumente des ersten Typs (beispielsweise das berühmte "chinesische Zimmer" von John Searle) gehen von der Intentionalität des Bewusstseins aus und versuchen den Nachweis, dass diese Intentionalität nicht auf die Physis reduzierbar ist. "Intentionalität" ist aber ein reichlich mysteriöser Begriff, deshalb halte ich diesen Weg für weniger zielführend – ein Skeptiker kann darauf immer so reagieren, dass er die Existenz der Intentionalität schlicht und einfach leugnet.

 

 

 

 

Innere, subjektive Erlebnisse enthalten immer mehr Informationen als eine rein physikalische Beschreibung des Gehirns

   Mehr Erfolg versprechen meiner Meinung nach die Argumente des zweiten Typs, die bei der subjektiv erlebten Qualität von Bewusstseinszuständen ansetzen. Der Philosoph, der diesen Standpunkt vielleicht am vehementesten vertreten hat, ist Thomas Nagel (vgl. 1992, 47 ff.). Nagel hat auf den folgenden Umstand hingewiesen: Selbst wenn man alles über das Nervensystem eines mit Bewusstsein begabten Wesens weiß, so weiß man damit noch lange nicht, wie sich diesem Wesen das eigene Bewusstsein aus der Innenperspektive darstellt. Selbst wenn ich die neurologische Basis von Schmerzzuständen ganz genau kenne, so weiß ich damit noch lange nicht, was Schmerz ist, solange ich nicht selbst Schmerz fühle. Da die Subjektivität, der phänomenale Gehalt des Bewusstseins, also immer mehr Informationen enthält als eine rein physikalische Beschreibung des Gehirns enthalten könnte, kann diese physikalische Beschreibung allein die Existenz und Beschaffenheit des Bewusstseins nicht erklären. Argumente dieser Art werden manchmal unter dem Titel "Argument des unvollständigen Wissens" zusammengefasst (vgl. Metzinger 1996, Teil 4), weil sie letztlich darauf hinauslaufen, dass rein physikalisches Wissen über das Gehirn unvollständig ist.

Ich halte diese Argumentationsstrategie für überzeugend: Keine physikalische Theorie, und damit auch nicht die von Penrose erträumte Quantentheorie der Gravitation, kann erklären, wie aus dem Gehirn so etwas wie subjektives Erleben entsteht, wie es kommt, dass wir aufgrund von Gehirnprozessen Sinneseindrücke haben. Denn eine physikalische Theorie beschreibt immer nur die physische Seite des Geschehens, aber nicht die subjektive Seite, das Bewusstsein.

 

"Leichte Probleme", die die Funktionsweise des Gehinrs betreffen, lassen sich höchstwahrscheinlich mit Hilfe der Neurobiologie lösen

 

 

 

 

 

 

 

Das "schwierige" Problem des subjektiven Erlebens ist jedoch durch physikalische Theorien grundsätzlich nicht lösbar

   David Chalmers hat die Sache auf den Punkt gebracht, als er das "schwierige Problem" (hard problem) des subjektiven Erlebens von den diversen "leichten Problemen" (easy problems) unterschied (Chalmers 1995a). Die "leichten Probleme" sind laut Chalmers für wissenschaftliche Theorien grundsätzlich lösbar, denn sie betreffen alle die Funktionsweise des Gehirns. Es geht dabei immer um die Frage, wie das Gehirn bestimmte kognitive Aufgaben ausführt. Zu den "leichten Problemen" gehört beispielsweise die Frage der unbewussten Verarbeitung sensorischer Informationen durch das Gehirn – ein gutes Beispiel dafür ist die Erzeugung räumlicher Wahrnehmung aus zweidimensionalen Netzhautbildern. Ein weiteres "leichtes Problem" betrifft die Fähigkeit des Gehirns, Gedächtnisinhalte abzuspeichern und bei der richtigen Gelegenheit wieder abzurufen. Andere Beispiele sind die unbewusste Kontrolle von Körperbewegungen, die Wirkungsweise von Drogen oder das Zusammenspiel von "Emotion" und "Ratio", d.h. von limbischen und cortikalen Gehirnstrukturen, das für vernünftiges, sozial angemessenes Verhalten notwendig ist.

All dies sind "leichte Probleme", was natürlich nicht heißen soll, dass sie tatsächlich leicht zu lösen sind oder überhaupt jemals gelöst werden. Ja, es kann durchaus sein, dass viele davon niemals gelöst werden – beispielsweise deshalb, weil nicht genügend Forschungsgelder zur Verfügung stehen. Doch es ist zumindest prinzipiell möglich, diese Probleme mit wissenschaftlichen Methoden zu lösen, denn es geht dabei letztlich um Gehirnfunktionen, die von der Neurobiologie entschlüsselt werden können. Die "leichten Probleme" unterscheiden sich dadurch vom "schwierigen Problem" des Bewusstseins, denn dieses ist durch physikalische Theorien grundsätzlich nicht lösbar – auch nicht durch die Quantentheorie.

 

 

 

Das Problem der Willensfreiheit

  Wenn die Quantentheorie aber auch nicht das Bewusstseinsproblem lösen kann, vielleicht kann sie etwas zu Klärung eines der "leichten Probleme" beitragen? Auch unter diesen befinden sich ja viele Probleme, die für die Philosophie von großer Bedeutung sind – etwa die Erzeugung räumlicher Wahrnehmung oder die Funktion des Gedächtnisses. Ein anderes in philosopischer Hinsicht höchst bedeutsames Problem, das häufig mit der Quantentheorie in Verbindung gebracht wird, ist das Problem der Willensfreiheit. Die Quantentheorie ist bekanntlich eine indeterministische Theorie. Sehr viele Menschen glauben aber – gestützt auf eine lange philosophische Tradition –, dass Freiheit und Indeterminismus miteinander in Zusammenhang stehen. Deshalb liegt es für sie nahe, die Lösung des Problems der Willensfreiheit in der Quantentheorie zu suchen.

 

 

 

 

In jenem Moment, an dem ich eine bewusste Entscheidung treffe, hat offenbar mein Gehirn diese Entscheidung schon kurze Zeit vor mir getroffen

 

 

 

 

 

Argumente für und gegen den Determinismus

Sehen wir uns zunächst einmal an, wie sich dieses Problem heute aus der Sicht der "klassischen", also nicht quantentheoretischen Neurobiologie darstellt: Seit langem ist bekannt, dass Sekunden vor dem Ausführen einer Willkürbewegung ein charakteristisches Gehirnpotential von 10-15 mV messbar ist. Es wird als "Bereitschaftspotential" ("Readiness-potential") bezeichnet (Kornhuber/Deecke 1965) und durch neuronale Aktivitäten vor allem im prämotorischen und supplementär-motorischen Cortex erzeugt.

  In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts haben psychologische Experimente von Benjamin Libet und seinen Mitarbeitern gezeigt, dass das Bereitschaftspotential nicht nur der Handlung, sondern auch dem bewusst erlebten Entschluss, die Handlung auszuführen, vorausgeht (Libet et al. 1983). Untersucht wurden einfache spontane Handlungen wie das Krümmen eines Fingers oder das Beugen des Handgelenks. Die Versuchspersonen erhielten die Anweisung, sich anhand eines rotierenden Zeigers den Zeitpunkt zu merken, zu dem sie den Entschluss zur Ausführung der Handlung gefasst hatten. Das Bereitschaftspotential war mehrere hundert Millisekunden vor dem von den Versuchspersonen angegebenen Zeitpunkt messbar.

Daraus kann man den Schluss ziehen, dass der Entschluss, und in weiterer Folge die Handlung selbst, durch neuronale Prozesse, die der handelnden Person selbst nicht bewusst sind, determiniert ist. Dieser Schluss ist zwar plausibel, zwingend ist er aber natürlich nicht. Libet selbst glaubt, dass das Bewusstsein zumindest ein "Veto" gegen die Ausführung der Handlung einlegen kann (Libet 1985, 538). Es gibt aber auch noch andere offene Probleme im Zusammenhang mit der Interpretation der Experimente. Unter anderem leidet ihre Aussagekraft darunter, dass der Entschluss mit dem Bewusstwerden des Entschlusses identifiziert wird. Anders ausgedrückt: Die Versuchspersonen gaben den Zeitpunkt an, zu dem sie ihre Absicht, die Handlung auszuführen, bemerkten. Die Absicht selbst, der Entschluss, könnte aber schon vorher dagewesen sein.

 

 

 

 

Die Quantentheorie als Einwand gegen den Determinismus?

 

 

 

 

 

 

Quantenprozesse können bei makroskopischen Objekten wie dem Gehirn normalerweise vernachlässigt werden

   Trotz dieser offenen Fragen sind Libets Experimente aber zweifellos Wasser auf die Mühlen des Determinismus. Ein Determinist kann sie mit gutem Recht als Rechtfertigung für die These heranziehen, dass der Wille durch das Gehirn determiniert wird. Und wer der Meinung ist, dass Determinismus und Freiheit nicht miteinander vereinbar sind (weil Freiheit entweder identisch ist mit Indeterminiertheit oder diese zumindest voraussetzt), muss Libets Experimente auch als Angriff auf die Existenz der Willensfreiheit sehen.

Hier könnte die Quantentheorie Abhilfe schaffen und das Gespenst des Determinismus vertreiben. Dabei ergibt sich aber die folgende Schwierigkeit: Selbstverständlich liegen auch den von Libet registrierten Gehirnprozessen indeterministische Quantenprozesse zugrunde, denn das Gehirn besteht ja aus Atomen und Elementarteilchen, die typische Quantenobjekte sind. Aber die Gehirnprozesse selbst sind keine Quantenprozesse. Typische Objekte der Quantentheorie sind sehr klein. Der Radius eines Atoms liegt zwischen 10-9 und 10-8 cm, der eines Atomkerns oder Elektrons zwischen 10-13 und 10-12 cm. Die neurobiologische Beschreibung des Gehirns findet aber für gewöhnlich in Größenordnungen statt, die einige Dimensionen darüber liegen: nicht auf der Ebene der Atome und Elementarteilchen, sondern auf der von Zellen und deren Bestandteilen (Zellkernen, Dendriten, Membranen usw.), von Zellpopulationen und größeren anatomischen Einheiten des Gehirns. Dabei handelt es sich um Objekte, die im Vergleich zu Atomen und Elementarteilchen "makroskopisch" sind und deshalb mit "klassischen" physikalischen Theorien beschrieben werden können. Es ist aber eine bekannte Tatsache, dass bei makroskopischen Objekten die Quantentheorie vernachlässigt werden kann. Man kann beispielsweise den freien Fall eines Körpers korrekt mit Hilfe der klassischen Mechanik beschreiben, ohne dass man auf die quantenmechanischen Prozesse, die während des Falls in seinem Inneren ablaufen, achten müsste; ebenso kann man ohne quantentheoretisches Wissen berechnen, wie der elektrische Widerstand eines Drahtes bei Zimmertemperatur von dessen Querschnitt abhängt.

 

 

Allerdings könnte es Bestandteile von Nervenzellen geben, die für Quanteneffekte empfindlich sind, laut Penrose sind das die sog. "Mikrotubuli"

Ähnliches gilt auch für die elektrischen und chemischen Prozesse im Gehirn. Es ist auf den ersten Blick schwer zu erkennen, wie sich der Indeterminismus der Quantentheorie überhaupt auf diese physikalischen Vorgänge auswirken soll. Wie könnten sich beispielsweise die Quantenzustände der Atome, aus denen eine Zelle besteht, auf den elektrischen Zustand dieser Zelle auswirken?

   Auf diese Frage gibt es zwei mögliche Antworten. Zum einen könnte es Bestandteile von Nervenzellen geben, die so klein sind, dass sie für Quanteneffekte empfindlich sind, und die gleichzeitig eine so wichtige Funktion in der Zelle besitzen, dass sie deren Verhalten entscheidend beeinflussen. Damit wären wir wieder bei den Mikrotubuli. Der Durchmesser der Mikrotubuli liegt im Nanometerbereich (ein Nanometer entspricht 10-7 cm). Damit ist er zwar um einiges größer als der von Atomen und Elementarteilchen, inzwischen konnten jedoch in Experimenten quantentheoretische Zustandsüberlagerungen nachgewiesen werden, bei denen die Ortsunschärfe eines einzelnen Atoms bei ungefähr 80 Nanometern lag (vgl. Monroe et al. 1996). Trotz ihrer Größe könnten Mikrotubuli also für Quanteneffekte empfindlich sein.

Ob sie allerdings tatsächlich jene wichtige Funktion in der Zelle ausüben, die ihnen Penrose zuschreibt, das ist, wie ich schon erwähnt habe, fraglich. Aber zumindest zeigt die Mikrotubuli-Hypothese, wie ein Versuch, die Willensfreiheit mittels der Quantentheorie zu erklären, aussehen könnte: Man muss irgendwelche funktionalen Bestandteile von Nervenzellen finden, die einerseits so klein sind, dass sie zum Schauplatz von Quantenprozessen werden können, und die andererseits die makroskopische Funktion des Gehirns entscheidend beeinflussen. Dass die Mikrotubuli wohl eher nicht die gesuchten Zellbestandteile sind, spricht nicht unbedingt gegen die zugrundeliegende Idee. Es könnte andere Zellbestandteile geben, die entweder noch unbekannt sind oder deren Funktion noch nicht erkannt wurde.

 

 

Vielleicht kann die Chaostherie den freien Willen erklären?

   Die zweite Antwort auf die Frage, wie sich Quantenprozesse auf makroskopische Gehirnvorgänge auswirken können, geht von der Chaostheorie aus. Es gibt heute einige Gehirnmodelle, die die Hypothese beinhalten, dass im Gehirn chaotische Prozesse ablaufen (vgl. Briggs/Peat 1990, 251-265; Kane 1996, 128 ff.; Garson 1995). Chaotische Prozesse sind zwar deterministisch, aber es sind Prozesse, bei denen kleine Ursachen große Wirkungen haben. Chaos im Gehirn könnte also quantenmechanische Effekte so weit "verstärken", dass diese auch im makroskopischen Bereich "spürbar" werden. Diese Hypothese sagt noch nichts darüber aus, welche Quantenprozesse hier im Spiel sind und durch welche chaotischen Gehirnprozesse sie verstärkt werden. Die Vorschläge der Chaostheoretiker unterscheiden sich hier sehr stark voneinander. Manche beschäftigen sich mit einzelnen Gehirnfunktionen (beispielsweise dem Gedächtnis), andere versuchen eher globale Eigenschaften des Gehirns zu erfassen. Viele der chaostheoretischen Vorschläge sind außerdem nur anhand von Computermodellen, nicht aber an realen Gehirnen erprobt worden. Es ist also viel zu früh, um ein sicheres Urteil über die Chaostheorie des Gehirns zu fällen. Doch immerhin zeigt diese Idee, wohin der Weg führen könnte. Die Hypothese des chaotischen Gehirns gibt uns zumindest eine Vorstellung davon, wie der Indeterminismus der Quantentheorie für die Indeterminiertheit des Willens sorgen könnte.

 

 

Angenommen, Gehirnprozesse sind tatsächlich nicht völlig vorherbestimmt, würde das schon den freien Willen erklären?

Ob Mikrotubuli oder Chaos, in beiden Fällen handelt es sich eher um visionäre Konzepte als um fertige wissenschaftliche Theorien. Das allein gibt natürlich Anlass zur Skepsis, ob hier wirklich der Schlüssel zum Freiheitsproblem liegt. Ähnlich wie beim Bewusstseinsproblem sind aber auch hier die naturwissenschaftlichen Probleme aus philosophischer Sicht weniger interessant. Wir sollten wieder versuchsweise voraussetzen, dass die naturwissenschaftlichen Prämissen richtig sind, und die Frage anschließen, ob aus diesen Prämissen die philosophische Konklusion – die Lösung des Freiheitsproblems – überhaupt folgt. Nehmen wir also an, es gäbe eine befriedigende wissenschaftliche Theorie, die impliziert, dass Gehirnprozesse nicht determiniert sind. Diese Theorie könnte mehr der Mikrotubuli-Hypothese oder mehr der chaostheoretischen Hypothese folgen – das ist im Augenblick nicht von Belang. Ja, es ist nicht einmal von Belang, ob der Indeterminismus quantentheoretisch begründet wird oder auf irgendeine andere Weise. Wichtig ist nur die Annahme, dass Gehirnprozesse nicht determiniert sind.

 

Quanten- oder Chaostheorie erklären zwar, dass im Gehirn auch Platz für Zufallsereignisse sein könnte, aber wenn ich eine bewusste Entscheidung treffe, dann ist das mehr als nur ein Zufallsereignis, es ist Selbstbestimmung

   Folgt aus dieser Annahme, dass der menschliche Wille frei ist? Nein, denn Willensfreiheit – wenn sie überhaupt existiert – ist nicht Indeterminiertheit, sondern Selbstbestimmung. Mein Wollen, d.h. meine Wünsche, meine Entscheidungen, meine Entschlüsse sind frei, wenn ich selbst bestimme, was ich wünsche, wofür ich mich entscheide bzw. entschließe. Wenn Freiheit Indeterminiertheit wäre, so wäre sie ein Spiel des Zufalls (vgl. Nozick 1981, 292; Garson 1995, 67 f.). Was ich will oder nicht will, wäre dann in einem hohen Maße nicht von mir, sondern vom Zufall abhängig. Ich selbst könnte nicht bestimmen, was ich will. Das ist ein alter Einwand gegen den Indeterminismus. Schon Schopenhauer schrieb in der "Preisschrift über die Freiheit des Willens": "Unter Voraussetzung der Willensfreiheit wäre jede menschliche Handlung ein unerklärliches Wunder – eine Wirkung ohne Ursache. Und wenn man den Versuch wagt, ein solches liberum arbitrium indifferentiae sich vorstellig zu machen; so wird man bald innewerden, dass dabei recht eigentlich der Verstand stillesteht" (Schopenhauer 1993, 565). Weil Schopenhauer aber am indeterministischen Freiheitsbegriff festhielt, schloss er daraus, dass Freiheit nicht existiert. Man kann den Zufalls-Einwand aber ebensogut als Hinweis darauf verstehen, dass Freiheit nicht allein Indeterminiertheit ist, sondern mehr.


Indeterminismus ist zwar notwendig, aber noch nicht hinreichend für Willensfreiheit

Die meisten Philosophen, die einen indeterministischen Freiheitsbegriff vertreten, halten Indeterminiertheit zwar für notwendig, aber nicht für hinreichend für Willensfreiheit. Sie bemühen sich daher, zusätzliche Bedingungen zu formulieren. Am häufigsten werden dabei zwei weitere Faktoren genannt: Rationalität und Selbstbestimmung. Schon Leibniz (1710, 320) zählt in der "Theodizee" drei Bedingungen auf, die zusammen Freiheit ausmachen: Er spricht von "Zufälligkeit, d.h. dem Ausschluss logischer und metaphysischer Notwendigkeit", "Intelligenz" (= Rationalität) und "Spontaneität" (= Selbstbestimmung). In einem modernen Gewand findet man diese drei Bedingungen auch bei einem der bedeutendsten zeitgenössischen Verteidiger eines indeterministischen Freiheitsbegriffs, Robert Kane (vgl. 1996). Er nennt die Indeterminiertheit – die er im übrigen quanten- und chaostheoretisch begründet –, die Rationalität und schließlich die "Kontrolle", die eine Person über ihre Handlungen ausübt.

Ist mit der Angabe dieser drei Bedingungen das Wesen der Freiheit erfasst? Das kommt darauf an, was man unter "Rationalität" und "Selbstbestimmung" versteht. Vor allem kommt es darauf an, ob es sich dabei um naturalistische Begriffe handelt. Denn denkt man genauer über Freiheit nach, so stellt man fest, dass "Freiheit" kein naturalistischer Begriff sein kann.

 

 

 

 

Freiheit ist mehr als Zufall oder Notwendigkeit

   Thomas Nagel (1992, 191) hat gezeigt, dass Handlungen und Willensregungen nicht frei sein können, wenn wir sie lediglich als etwas Objektives, als Teil der Natur betrachten. Denn wenn wir dies tun, so betten wir sie ein in ein Geflecht von Gesetzmäßigkeiten, die zusammen mit diversen Variablen und Randbedingungen bestimmen, was wir wollen und was wir tun. Dabei spielt es im Grunde gar keine Rolle, ob diese Gesetze deterministisch oder nicht-deterministisch sind. Es mag sein, dass die Bedingungen, die, sagen wir, zehn Jahre vor meiner Geburt geherrscht haben, mein jetziges Handeln eindeutig determinieren; es mag aber auch sein, dass diese Bedingungen meine Handlung nur zu 60% wahrscheinlich machen – beides ist gleich seltsam. Im indeterministischen Fall wäre mein Handeln eben das Produkt von indeterministischen Gesetzen und einer gehörigen Portion Zufall. Aber Zufall ist eben noch keine Freiheit, wie schon Schopenhauer bemerkt hat.

  Freiheit ist mehr als Zufall oder Notwendigkeit, und dieses Mehr erschließt sich erst dann, wenn man den Menschen nicht nur als natürliches Wesen sieht, das von deterministischen oder indeterministischen Naturgesetzen beherrscht wird. Für Nagel offenbart sich Freiheit erst aus einem subjektiven Blickwinkel, aus der Innenperspektive des Menschen, der sich selbst als freies Wesen erlebt. Für Leibniz und Kane offenbart sich Freiheit, wenn man auch Rationalität und Selbstbestimmung ins Auge fasst. Rationalität und Selbstbestimmung helfen aber nur dann weiter, wenn diese Begriffe nicht naturalistisch missverstanden werden, denn es kommt ja gerade darauf an, die "objektive", naturalistische Perspektive zu verlassen.

 

Rationalität und Selbtbestimmung müssen nicht-physikalisch beschrieben werden können

Es ist klar, dass Leibniz dies getan hat, denn seine prästabilierte Harmonie von Körper und Seele ist alles andere als ein naturalistisches Konzept (allerdings eines, bei dem die Existenz der Freiheit durch eine nicht-naturalistische Form des Determinismus in Frage gestellt wird – auf die internen Schwierigkeiten von Leibniz' System brauche ich hier jedoch nicht einzugehen.) Robert Kane wiederum gibt ebenfalls zu, dass freier Wille nichts anderes wäre als Zufall, wenn die physikalische Beschreibung des Willens die einzig legitime wäre. Ein Entschluss mag zwar ein physisches Ereignis im Gehirn sein, aber was Rationalität und Selbstbestimmung angeht, muss dieses Ereignis nicht-physikalisch beschrieben werden können – eben als Entschluss, etwas Bestimmtes zu tun. Als Entschluss zeigt sich das Ereignis aber nur aus der subjektiven Perspektive des individuellen Erlebens (vgl. Kane 1996, 147).

 

Der freie Wille ist nur dann erklärbar, wenn die Grenzen der physikalischen Beschreibung des Menschen überschritten werden

   Als Fazit lässt sich somit festhalten, dass ein indeterministischer – quantentheoretischer – Freiheitsbegriff nur dann haltbar ist, wenn die Grenzen der physikalischen Beschreibung des Menschen überschritten werden. Freiheit ist sicherlich nicht allein Indeterminiertheit, es gehören auch Faktoren wie Selbstbestimmung und Rationalität dazu; wobei "Selbstbestimmung", "Rationalität" und damit "Freiheit" nicht als naturalistische Begriffe missverstanden werden dürfen. Das wirft die Frage auf, wie die nicht-naturalistischen Begriffe der Selbstbestimmung und der Rationalität mit dem naturalistischen Begriff der quantentheoretischen Indeterminiertheit in Einklang zu bringen sind. Wie lässt sich das naturalistische Bild vom Menschen, dessen Entscheidungen quantentheoretisch unterbestimmt sind, mit dem nicht-naturalistischen Bild des rationalen, seine Handlungen selbstbestimmenden Menschen vereinbaren? Ich glaube nicht, dass diese Frage jemals zufriedenstellend beantwortet wurde. Die Geschichte der Philosophie erweckt vielmehr "den Eindruck, dass wir es bei der Freiheit mit einem Gegenstand zu tun haben, über den noch niemand etwas gelehrt hat, das geeignet wäre, auch nur in die Nähe der Wahrheit zu gelangen." (Nagel 1992, 237) Und wahrscheinlich werden wir auf die Wahrheitsnähe auch in Zukunft verzichten müssen.


Literatur

Briggs, John / Peat, David F. 1990: Die Entdeckung des Chaos. München: Hanser.

Chalmers, David J. 1995a: "Facing Up to the Problem of Consciousness". Journal of Consciousness Studies 2, 200-219.

Chalmers, David J. 1995b: "Minds, Machines, and Mathematics. A Review of Shadows of the Mind by

Roger Penrose." PSYCHE: an interdisciplinary journal of research on consciousness 2(9). http://psyche.cs.monash.edu.au/v2/psyche-2-09-chalmers.html

Eccles, John C. 1994: Wie das Selbst sein Gehirn steuert. München: Piper.

Garson, James W. 1995: "Chaos and Free Will". Philosophical Psychology 8, 365-374.

Grush, Rick / Churchland, Patricia Smith 1995: "Gaps in Penrose´s Toilings". Journal of Consciousness Studies 2, 10- 29. (Deutsch: "Lücken im Penrose-Parkett". In: Metzinger 1996, 221-250.)

Hameroff, Stuart R. 1994: "Quantum Coherence in Microtubules: A neural basis for emergent consciousness?" Journal of Consciousness Studies 1, 98-118.

Kane, Robert 1996: The Significance of Free Will. New York: Oxford University Press.

Kornhuber, Hans H. / Deecke, Lüder 1965: "Hirnpotentialänderungen bei Willkürbewegungen und passiven Bewegungen des Menschen: Bereitschaftspotentiale und reafferente Potentiale". Pflügers Archiv für die gesamte Physiologie des Menschen und der Tiere 284, 1-17.

Leibniz, Gottfried Wilhelm 1710: Die Theodizee. Hamburg: Meiner 1968.

Libet, Benjamin / Gleason, Curtis A. / Wright, Elwood W. / Pearl, Dennis K. 1983: "Time of Conscious Intention to Act in Relation to Onset of Cerebral Activity (Readiness-Potential)". Brain 106, 623-642.

Libet, Benjamin 1985: "Unconscious Cerebral Initiative and the Role of Conscious Will in Voluntary Action". Behavioral and Brain Sciences 8, 529-566.

Ludwig, Kirk 1995: "Why the Difference Between Quantum and Classical Physics is Irrelevant to the Mind/Body Problem". PSYCHE: an interdisciplinary journal of research on consciousness 2(16). http://psyche.cs.monash.edu.au/v2/psyche-2-16-ludwig.html

Metzinger, Thomas (Hg.) 1996: Bewusstsein. Beiträge aus der Gegenwartsphilosophie. Paderborn: Schöningh.

Monroe, C. / Meekhof, D. M. / King, B. E. / Wineland, D. J. 1996: "A 'Schrödinger Cat' Superposition State of an Atom". Science 272, 1131-1136.

Nagel, Thomas 1992: Der Blick von Nirgendwo. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Nozick, Robert 1981: Philosophical Explanations. Oxford: Clarendon.

Penrose, Roger 1995: Schatten des Geistes. Heidelberg: Spektrum.

Penrose, Roger / Hameroff, Stuart 1995: "What 'Gaps'?" Journal of Consciousness Studies 2, 99-112.

Schopenhauer, Arthur 1993: "Preisschrift über die Freiheit des Willens". In: Ders., Kleinere Schriften. Sämtliche Werke III. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 519-627.

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