Dan Lungu gehört zur sogenannten "jungen Literatur" Rumäniens. Damit
wird keine literarische Gruppe oder gar literarische Bewegung bezeichnet,
sondern eine immer größer werdende Zahl an Autoren, die in den letzten vier
bis fünf Jahren ihr literarisches Debüt feierten. Sie haben frischen
Wind in die rumänische literarische Szene gebracht. Die meisten von ihnen
wurden von einem der größten rumänischen Verlage
– dem Polirom-Verlag aus
Iaşi – publiziert. In Rumänien, und auch teilweise im Ausland, ist der
Erfolg dieser Schriftsteller groß, was auch vor dem Hintergrund zu erklären
ist, dass bis Ende der 1990er Jahre gute rumänische Literatur kaum existiert
hat. Die Bücherlandschaft bestand zumeist aus Übersetzungen. Insbesondere
moderne und zeitgenössische Literatur aus Frankreich, Großbritannien, den
USA oder Lateinamerika war und ist sehr beliebt. Hinzu kamen lediglich
Veröffentlichungen einiger weniger rumänischer "Stars" wie
Mircea Cartarescu. Die junge Literatur erfüllt ältere
Hoffnungen und Erwartungen sowohl in Hinblick auf die Kritik, als auch aufseiten einer breiteren Leserschaft. Das ist ein
entscheidender Unterschied zu den älteren Schriftstellern, die es nach der
Wende nicht mehr schafften, ein größeres Publikum für ihre Literatur zu
begeistern.
Die "neue" Literatur ist
in mehrfacher Hinsicht vor allem eine aktuelle Literatur. Sie
behandelt Themen und Probleme der (rumänischen) Gegenwart – mit Vorliebe das
Leben der jungen Menschen in der heutigen Welt oder die nahe Vergangenheit.
Zudem gibt es auch eine stark biographisch orientierte Prosa, die durch
so erfolgreiche Schriftstellerinnen wie Ana-Maria Sandu oder Cecilia
Ştefanescu vertreten wird. Wo die letztgenannte Richtung eine stark
imaginative Prosa bietet, die, oft auch mit dem Label "Autofiktion" versehen,
in einer höchst poetischen und metaphorischen Sprache geschrieben ist,
wählen viele andere "junge" Autoren eine eher einfache Sprache, die auf
Humor und Ironie setzt.
Zu ihnen zählt auch Dan
Lungu. Er ist einer der zur Zeit aktivsten und produktivsten Schriftsteller
Rumäniens, der auch als Soziologe an der Universität in
Iaşi arbeitet. 1997
gründete er in Iaşi, zusammen mit anderen jungen Autoren, die literarische
Gruppe "Club 8", die eine Alternative zum traditionellen Literaturbetrieb
anbieten wollte. Seit 1996 schreibt Lungu Gedichte, Prosa und Theaterstücke.
Größeren Kreisen wurde er aber erst mit dem Roman "Das Hühner-Paradies"
(2004) bekannt. In einem Interview beschreibt er sein Schreiben
folgendermaßen: "Die Wirklichkeit fließt unvermeidbar in meine Prosa ein –
sowohl die unmittelbare Wirklichkeit, wie auch jene, die in die persönlichen
Erfahrungen eingeflossen ist. Ich sehe in der Wirklichkeit das, was meine
Biographie mir erlaubt zu sehen, wobei auch meine Biographie von dem, was
ich in der Gegenwart erlebe, abhängig ist. (...) Diese Revanche der
Gegenwart über die Vergangenheit verrät eigentlich die Existenz unserer
persönlichen Freiheit".
"Das Hühner-Paradies.
Ein falscher Roman aus Gerüchten und Geheimnissen" könnte man am besten als
"Prosa des Alltags" bezeichnen. In einem einfachen, umgangssprachlichen Stil
voller Witz und Humor erzählt der Roman einige Tage aus dem Leben der
Menschen auf einer Straße in der rumänischen Provinz. Jedes Kapitel wird
jeweils in der dritten Person aus der Perspektive einer Figur erzählt. Es
sind einfache Menschen, deren ganzes Leben sich in dieser Straße abgespielt
hat – Arbeitslose, Rentner, Hausfrauen. Sie haben also viel Zeit, die sie am
liebsten mit Erzählungen in der Kneipe "Zerknautschter Traktor" verbringen.
Ihr Lieblingsthema ist die Zeit vor der Wende. Sie streiten gern um ihre
Erinnerungen, sind gekränkt oder melancholisch, wütend oder resigniert. Wie
auch in seinem neuesten Roman "Ich bin eine alte Frau und Kommunistin!"
(2007) geht es Dan Lungu in "Das Hühner-Paradies" um die literarische
Darstellung der Denkweisen,
Einstellungen und Gefühle der einfachen Menschen
gegenüber der nahen kommunistischen Vergangenheit Rumäniens.
Das gegenwärtige Leben der
Akazien-Straße besteht aus kleinen, unbedeutenden Ereignissen, deren
Signifikanz im Prozess des Erzählens und Nacherzählens so lange gesteigert
wird, bis ein neues Ereignis die Aufmerksamkeit der Straße auf sich zieht.
Gleich im ersten Kapitel wird dem Leser präsentiert, wie der Prozess des
wiederholten Erzählens funktioniert. Jedes Mal wenn Milica "die selbe
Geschichte" des Oberst aus der Akazien-Straße erzählt, fügt sie neue Details
hinzu, wechselt die Perspektive, sodass völlig neue Geschichten dabei
entstehen. So wird offenbar, wie wenig Erzählungen und Erinnerungen im
Hintergrund der eigentlichen, "wahren" Ereignisse stehen und wie sehr sie
stattdessen mit den Wünschen, Gefühlen und den märchenhaften Übertreibungen
der Erzählerin korrespondieren. Das Erzählen wird zum gesellschaftlichen
Ritual, es erfüllt das Bedürfnis der Bewohner der Akazien-Straße nach
sozialer Interaktion, nach Kommunikation und Austausch im quasi öffentlichen
Raum und ersetzt die fehlende gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der
nahen Vergangenheit.
Das "Hühner-Paradies" ist
eine Metapher für menschlichen Zusammenhalt, für Schutz und Geborgenheit,
die heimlichen Sehnsüchte aller Figuren. "Ich hatte das Gefühl, es würde mir
gefallen, in dieser Gestalt zu leben, der eines Huhns. Ich weiß nicht,
vielleicht wegen des Kaffees, den ich auf leeren Magen getrunken hatte, aber
in dem Augenblick wollte ich, dass mir erst Flaum und dann Federn wachsen,
dass ich unter der Henne hocke, da wo es warm ist, dass ich klein bin und
angefeuchtetes Mehl picke, dass sich ständig jemand wie eine Glucke um mich
kümmert und dass ich, wenn es donnert, schnell, schnell unter einen
richtigen Flügel zurückhuschen kann.(...) Dass ich kein Telefon, Strom, Gas,
Wasser und Kabel zu zahlen habe. Dass ich nicht wählen gehen muss. Dass mich
die Nachrichten nicht ärgern. Versteht ihr, wie wunderbar das Hühnerleben
ist?", gesteht Radu Covalciuc, eine der Hauptfiguren des Romans.
In einer
gesellschaftlichen Ordnung, in der die Menschen der Akazien-Straße nicht
mehr gebraucht werden, sehnen sie sich nach Fantastischem und
Außerordentlichem, das ihr Leben erfüllen könnte. So glaubt Radu Covalciuc
an seine Träume und an übernatürliche Zeichen, die er am Verhalten seiner
geliebten Hühner abliest. Er interpretiert die riesige Zahl an Regenwürmern,
die plötzlich in seinem Garten erschienen sind, als übernatürliches Zeichen
und die ganze Straße überlegt, wie man daraus Geld machen könnte. Sogar eine
Fernsehreportage über die "unheimlichen Begebenheiten" in Covalciucs Garten
wurde geplant, doch das Ganze entpuppt sich als ganz "natürliches"
Phänomen: die Regenwürmer waren, zur größten Enttäuschung der Bewohner,
"infolge eines Stromstoßes an die Oberfläche gekommen".
Was die besondere Qualität
des Romans von Dan Lungu ausmacht, ist der Verzicht auf jegliches
partipris des Autors im Umgang mit einem Thema, das so stark ideologisch
und emotional beladen ist wie das der kommunistischen Vergangenheit in
Rumänien. Die Figuren haben eine eigene Perspektive, die sie in einer
einfachen, griffigen Art und Weise ausdrücken. Sie stehen für sich und für
ihre individuellen Erlebnisse und keineswegs für ideologische oder
politische Positionen. Milica, Mitu, Ticu Zidaru – sie alle wirken
symphatisch und überzeugend, unabhängig davon, ob der Leser ihre Meinungen
teilt oder nicht. Wie in Daniel Banulescus Roman "Ich
küsse dir den Hintern, geliebter Führer!" erscheint Ceauşescu in den
phantastisch gesteigerten Erinnerungen von Mitu, dem besten Erzähler der
Akazien-Straße, witzig, humorvoll und ohne jegliche diabolische Merkmale.
In der ausgezeichneten
Übersetzung von Aranca Munteanu bietet sich der Roman von Dan Lungu einem
breiten deutschsprachigen Publikum zur Lektüre an – als ein mögliches Bild
über das heutige Rumänien oder einfach als gute zeitgenössische
Erzählliteratur. |