Wer einmal geliebt hat,
aufrichtig und mit Leidenschaft, der weiß. Von den Gerüchen, die zu
Erinnerungen gerinnen und sich einprägen ins eigene Denken. Von den
Bewegungen, die Teil eigener Handlungsweisen werden. Von der Wärme am
eigenen Hals, derer man sich erst mit dem Verlust gegenwärtig wird. Denn
erst der Verlust verleiht der Liebe Tiefe, rückt sie unbarmherzig ins
Zentrum der Empfindsamkeit.
Auch Wien und die Wiener
haben geliebt. Den Augenblick, in dem sich der Klotz an der Donau von der
Habsburgischen Residenzstadt zum Nabel eines Vielvölkerstaates wandelte. In
dem Kunst und Kultur erblühten und auf die Kronländer des Ostens
übersprangen. In dem die Marcha orientalis endlich vom
Rand in die Mitte eines Reiches wanderte: Weil sich die Provinz nicht länger
um Grenzen herum bewegte, sondern die Grenzen um sie.
Österreich als Erfindung des 19. Jahrhunderts.
Unter den zahlreichen
Geliebten Wiens sticht eine besonders heraus. Zeichnet sich aus durch
Gemeinsamkeit: Den Sinn für Musik, mehr noch für Literatur, für Kaffeehäuser
und eine urbane Landschaft voll historizistischer Widerlichkeiten. Zeichnet
sich aus durch Gegensätzlichkeit: Eine ethnische und religiöse Diversität,
die alle Gesellschaftsschichten durchsetzte. Eine Provinzialität, die
Freiheiten birgt. Wien und Czernowitz, Österreich und die Bukowina waren
Geliebte, für die das Trauma des gegenseitigen Verlustes noch so frisch ist,
dass gemeinsam Erlebtes fast immer verklärt, verzerrt oder vergessen ist.
Aber das Echo von Wien
hallt noch durch Czernowitz wie auch umgekehrt: Rumänische, russische,
ruthenische Dominanz konnten den Dunst der Gründerzeit dort nicht
austreiben; die Texte und Lieder, die Narben des Holocaust, die Worte Celans
sitzen hier tief in der Kultur des Alltags.
Anthologien sind oft
sachlich, gestatten sich die Blöße der Subjektivität wohldosiert. Wen die
Liebe aus Loyalität, die Faszination am Verlorenen oder stille Trauer aus
Wien immer wieder nach Czernowitz treibt, der hat nun Gelegenheit, sich
selbst zu entlarven. Als Blender, als Verklärer, als Häscher eines
vergangenen Traums. Ein integrativer Zugang zu Czernowitz: Geschichte quer
durch die Jahrhunderte bis in die Gegenwart und darüber hinaus. Kultur in
üppigen Sträußen mit deutschen, jüdischen, polnischen, rumänischen und
ruthenischen Blüten. Viel zu breit, um von nur einer Person wirklich
begriffen zu werden. Eine Stadt, die lebt und wirklich ist, die sich
gewandelt und entwickelt hat und sich stets noch entwickelt.
Helmut Braun sammelte
Autoren, die gemeinsam den Facetten einer bunten Stadt nachspüren. Aber auch
der Sehnsucht, die immer wieder Menschen zurück nach Czernowitz treibt. Mit
"Czernowitz – die Geschichte einer untergegangenen
Kulturmetropole" wurde ein Standardwerk geschaffen für eine
ernsthafte Annäherung an die alte Hauptstadt der Bukowina. Für eine klärende
Konfrontation mit den Gerüchen, mit den Bewegungen, mit der Wärme einer
verlorenen Geliebten. Ein heilsames Buch für Wien. Ein Schlussstrich, eine
Aussprache, ein Neuanfang. Mit einer widersprüchlichen Weisung: Durch die
Geschichte niemals zurückzublicken, sondern vorwärts. |