Es ist Freitag Abend und
ich gehe Sanda vom Bus abholen. Durch jemanden aus dem Dorf hatte sie mir
schon vorige Woche die Nachricht überbringen lassen, dass sie mich besuchen
kommt. Wahrscheinlich hatte sie unseren Eltern so lange damit in den Ohren
gelegen, bis sie es ihr erlaubten. Wer weiß, was sie ihnen im Gegenzug
versprochen hatte.
Die Busse kommen selten,
und am Busbahnhof ist viel Getümmel. Die Bänke sind alle besetzt, also drehe
ich ein paar Runden. Alle stellen ihre Taschen zwischen den Beinen ab, als
ob sie sich ständig vor Dieben fürchten würden. Ich sehe mir den Busfahrplan
an und wundere mich darüber, was es so für Ortsnamen geben kann. Ich
überlege, dass es auf der Welt wohl nicht nur unser Dorf, sondern hunderte
geben muss. Aber solange man sie nicht auf so einer Liste stehen sieht,
kommt man gar nicht darauf. Du kannst dein ganzes Leben in deinem Dorf
verbringen, ohne zu wissen, was es alles um dich herum noch so gibt.
Komische Gedanken! In eine
Staubwolke gehüllt kommt der Bus an. Ich kenne das. Es ist ein alter Kübel,
an dem alles quietscht und nach Diesel riecht. Ich verstecke mich hinter
einer Ecke und sehe von dort aus, wie die verschwitzten Reisenden mit ihren
Bündeln aussteigen. Sanda steckt den Kopf durch die Tür. Sie trägt ein
weißes Kopftuch mit blauen Punkten. War ihr denn nicht zu heiß damit
gewesen? Sie steht wie angewurzelt vor dem Bus und hält die Reisetasche in
der Hand. Stell sie hin, sage ich in Gedanken zu ihr. Langsam wird die
Menschenmenge kleiner. Ein Bub aus unserem Dorf geht an mir vorbei und sagt:
"Deine Schwester ist da!"
"Ich weiß", antworte ich
verschmitzt lächelnd.
Sanda fragt einen älteren
Herrn, wie spät es ist. Sie sucht mit Blicken die Umgebung ab. Der Fahrer
wischt seine Hände mit einem Fetzen ab, lacht und sagt etwas zu ihr, wovon
sie nicht belustigt zu sein scheint. Sie schiebt die Reisetasche von einer
Hand in die andere, aber sie stellt sie auch nicht ab. Ihre Wangen haben
Farbe bekommen. Sie fragt wieder nach der Zeit, macht wieder einen langen
Hals. Der Bus setzt kurz zurück, macht kehrt und hüllt Sanda in schwarze
Rauchschwaden. Sie entfernt sich zwei Schritte weit von der
Stelle, aber nicht mehr, als ob sie Angst hätte, verloren zu gehen. Wenn
ich es recht bedenke, war sie bis jetzt nur zweimal in der Stadt. Einmal,
als sie mit der Rettung ins Krankenhaus musste, und ein zweites Mal, als
sie und Vater Onkel Andrei und Tante Lucretia besuchten. Sie sieht wie ein
verschrecktes Huhn aus. Ich zeige mich, bevor sie zu heulen anfängt. Sie
sieht mich. Ich kann die Freude in ihren Augen sehen.
"Mein Gott, ich bin so
erschrocken! Ich dachte schon, Sandu hat dir nichts ausgerichtet, oder hat
es vergessen ..."
Wir umarmen uns.
"Doch, er war schon bei
mir, und ich habe ihm gesagt, er soll dir ausrichten, dass ich um die Ecke
auf dich warte ..."
Ich fange an zu lachen.
"Lügnerin!", sagt sie und
ist fast verärgert.
"Damit du siehst, wie es
in der Stadt so ist ... Das war die Taufe."
Wir fahren ins Wohnheim im
Industriegebiet. Sanda schmollt noch wegen meinem Scherz. Sie sagt, jetzt
gebe ich mich wohl schon als Städterin. Das Wohnheim ist nicht weit entfernt
von dem Betrieb, in dem ich arbeite. Dort bin ich schon seit einem Jahr
angestellt. Das ist das erste Mal, dass ich mein eigenes Geld habe, und
darauf bin ich sehr stolz. Ich habe mir sogar schon ein paar Sachen
zum Anziehen gekauft. Die alten waren mir schon zu alt erschienen. Es gibt
überall Baustellen, so dass der Weg etwas beschwerlich ist. Wir müssen
ständig Grabungen überspringen, über Rohre steigen, Kabeln ausweichen. Wenn
es regnet, ist es eine Katastrophe. Nur wenn ich einen Umweg über die
Tangente gehe, kann ich dem Schlamm entkommen. Ich wohne zusammen mit drei
anderen Mädchen in einem Zimmer. Dieses Wochenende fährt Adriana ihre Eltern
besuchen, so dass Sanda in ihrem Bett schlafen kann. Nur diese Nacht sind
wir etwas beengt. Es ist zwar nicht wie bei Tante Lucretia, aber es ist gut
genug.
"Wir haben zwei Tage, um
die Stadt auf den Kopf zu stellen. Überleg dir, was du gerne tun möchtest
..."
"Ich möchte, dass du mir
den Zug zeigst."
"Von hier aus kann man ihn
hören, aber wir gehen hin, damit du ihn anfassen kannst."
Im Zimmer schnippelt
Adriana an Livias Haaren. Da sie sich damit ein bisschen auskennt, setzt sie
uns ab und zu auf einen Hocker, wickelt uns ein Leintuch um den Hals und
schneidet uns die Haarspitzen ab. Damit sie nicht aus der Übung kommt,
und wir kein Geld verschwenden müssen. Maria zeigt den beiden Fotos von
Schauspielern. Sie sagt, die kann man am Zeitungsstand kaufen. Für so etwas
würde ich kein Geld ausgeben.
"Schau doch, was der für
eine Frisur hat!", ruft Maria.
Livia sieht sich das von
allen Seiten und mit dem Blick des Experten an.
"Tja, so etwas könnte ich
auch zusammenbringen ..."
"Zeig mal!", sagt Adriana
und streckt die Hand aus. "Vergiss die Frisur, schau, wie fesch der ist! Ich
glaube, von dem werde ich heute Nacht träumen."
"Na, deswegen ist er ja
Schauspieler!", meint Maria.
"Ich werde mir meinen
eigenen Film von ihm träumen", sagt Adriana und lacht.
Die Mädchen unterhalten
sich darüber, wer in welchem Film gespielt hat.
Wir sehen uns die Fotos
auch der Reihe nach an. Ich kenne keinen der Schauspieler. Sanda ebenfalls
nicht. Aber es stimmt schon, die Männer sind fesch, und die Frauen sind
super angezogen. Bei uns im Dorf gibt es Strom erst seit ein paar Jahren.
Und hier bin ich erst zweimal im Kino gewesen. Nach dem Essen frage ich
Sanda, ob sie fernsehen möchte. Sie ist begeistert. Ich bringe sie ins
Erdgeschoß, in den Veranstaltungsraum, wo wir uns Plenarsitzungen und
Parteikongresse ansehen müssen, wenn es welche gibt. Hier sitzen schon
einige Mädchen. Ich schreibe die Zimmernummer auf Sandas Hand, damit sie sie
nicht vergisst, und gehe wieder hinauf. Ich muss einiges bügeln.
Sanda kommt spät zurück
und ist enttäuscht.
"Duuu, bist du sicher,
dass die auf den Fotos Schauspieler sind? Ich bin so lange dagesessen und
hab keinen von ihnen gesehen."
"Ja, ganz sicher. Macht
nichts, vielleicht hast du morgen mehr Glück."
Am Morgen frage ich sie,
was ihr lieber ist: in eine Konditorei schauen, durch die Geschäfte
schlendern, den Park anschauen oder ins Kino gehen. Sanda will, dass wir
zuallererst den Zug anschauen. Wir schlendern quer über das umwegsame
Gelände zum Bahnhof. Vom Wohnheim aus ist der Rangierbahnhof näher als der
eigentliche Bahnhof. Unterwegs kaufe ich am Verkaufsstand am Eingang zur
Brotfabrik warme Bretzeln. Die schmecken Sanda sehr. Sie würde gerne
einige davon mit ins Dorf nehmen, ich warne sie aber, dass die steinhart
werden, sobald sie altbacken sind.
"Bist du je mit dem Zug
gefahren?", fragt sie mich.
"Selbstverständlich!"
Da war ich mit einer
Arbeitskollegin zu ihr nach Hause aufs Land gefahren. Ich hatte mich auch
gewundert, dass ein Zug bis in ihr Dorf fährt. War aber gar nicht so. Wir
sind mit dem Zug zwanzig Kilometer gefahren, dann an einem Halt
ausgestiegen, es war nicht einmal ein Bahnhof da, und danach sind wir noch
sieben Kilometer zu Fuß querfeldein marschiert. Ich konnte trotzdem
behaupten, dass ich schon einmal mit dem Zug gefahren war, nicht?
"Und wie ist es?", will
Sanda wissen.
"Schön, wie soll es schon
sein ..."
Wir kommen zu den Gleisen,
gehen daran entlang. Irgendwo bei den Silos ist eine Garnitur zu sehen. Ich
erkläre ihr, dass auf diesen eisernen Schienen die Waggons fahren. Sie bückt
sich, um sie zu berühren:
"Uuuu, sind die aber
kalt!"
"Sind ja aus Eisen, ist ja
klar."
Wir stehen jetzt direkt
neben den Waggons. Das Wasser tropft noch an ihnen hinunter. Man hat sie
gerade gewaschen, erkläre ich. Sanda geht zwei Schritte zurück und zählt die
Waggons. Vierzehn. Ein Pfeifen ist zu hören. Ein paar Gleise weiter fährt
ein Güterzug durch. Meine Schwester lässt ihn nicht aus den Augen bis er
verschwunden ist.
"Duuu, der macht aber viel
Lärm!", ruft sie und zieht an ihren Ohrläppchen.
"Eisen auf Eisen, ist ja
klar!"
"Schau einmal, da ist eine
offene Tür!", ruft sie wieder überrascht.
"Die sperren sie doch
nicht zu, das sind ja keine Wohnungen ... Willst du einsteigen?"
Sie nickt. Die Stufen sind
hoch, also schiebe ich sie an. Oben angekommen streckt sie mir die Hand
entgegen. Wir gehen ein paar Schritte den Gang entlang. Ohne jemand
Bestimmten zu meinen, winkt Sanda aus einem Fenster.
"Auf Wiederseeeehen! Ich
fahre nach Bukareeeest ..."
"Vielleicht bemerkt uns
einer und will unsere Fahrkarten sehen."
Sanda zieht schnell ihren
Kopf ein. Ein paar Tropfen waren ihr direkt in den Nacken gefallen. Wir
betreten ein Abteil. Sanda schwingt sich auf einen Sitz, so wie man es mit
einem Bett macht, bevor man es kauft. Mit dem Finger prüft sie die
Vinyloberfläche. Sie liest die Aufschriften und sieht sich die Fotos an, die
unter Glas und mit vernickelten Schrauben befestigt sind: eine
Berglandschaft und mehrere Ansichten vom Meer.
"Fährt der nur in die
Berge und ans Meer?", fragt sie.
"Keine Ahnung. Vielleicht
fährt er dorthin am öftesten, das wird es sein ..."
"Was ist das hier, der
Alarmhebel?"
"Ja, damit du Alarm geben
kannst, wenn dir vielleicht schlecht wird."
"Und was passiert dann?"
"Ich denke, ein Arzt kommt
dann, um Erste Hilfe zu leisten ..."
Sanda ist mit meinen
Erklärungen zufrieden, und wir gehen weiter. Wir entdecken, dass man von
einem Waggon in den nächsten gehen kann.
"Schau einmal, die haben
auch Klos!", sage ich verwundert.
"Du sagtest doch, du wärst
schon einmal mit einem Zug gefahren!"
"Sicher, aber da habe ich
nicht gemusst."
Sanda freut sich wie ein
Kind. Sie hüpft herum. Wir kommen zu einem Waggon, der viel sauberer ist und
Plüschsitze hat. So etwas hatte ich auch noch nicht gesehen. Wir lassen uns
in die Fauteuils fallen, um ihre Weichheit zu fühlen. Sanda schließt
genüsslich die Augen. Ich denke mir, das ist wie bei Tante Lucretia.
"Duuu, ich glaube, die
sind für Parteimitglieder", sagt sie.
"Glaube ich auch."
Ein Ruck unterbricht
unsere Überlegungen. Der Waggon hat sich bewegt. Erschrocken stehen wir
blitzschnell auf. Wir laufen zur nächsten Tür. Wir springen hinaus, ohne die
Treppe zu benützen, so wie wir früher als Kinder vom Baum herunter sprangen.
Wir beruhigen uns und lachen beide.
"Fast wären wir nach
Bukarest gekommen", sagt sie.
Der Zug bleibt, wo er ist.
Anmerkung:
"Ich bin eine alte Frau und Kommunistin" ist 2007 bei Polirom in Iasi,
Rumänien, erschienen. Übersetzt ist bis jetzt nur ein Fragment. Ein
deutschsprachiger Verlag wird noch gesucht.
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