
(c)
Conny de Beauclair
Gerog
Sporschill
Der 1946 in Vorarlberg
geborene Jesuitenpater
gründete in Wien verschie-
dene Sozialeinrichtungen,
u.a. das Obdachlosenhaus in
der Blindengasse. Ab 1991
Aufbau des Sozialprojekts
CONCORDIA mit Streetwork,
Kinderhäusern und betreuten
Wohngemeinschaften für
Kinder und Jugendliche
in
Rumänien. Seit 2004 ist
CONCORDIA auch in Molda-
wien tätig. Im Dezember
2006 wurde das erste
CONCORDIA Kinderhaus
in der Ukraine eröffnet.
Homepage
www.concordia.co.at
Buchtipp

Georg Sporschill.
Die zweite Meile. Ein
Leben mit Hoffnungskindern.
Ueberreuter, 2006. 206 S.
ISBN: 3800072114
An den Wendepunkten kommt es auf die Beharrlichkeit
und Ausdauer an. Wenn dich in der Therapie ein Jugendlicher bekämpft und
beschimpft, berührst du den entscheidenden Punkt.

Carolin Philipps.
Träume wohnen überall.
Ueberreuter, 2006. 143 S.
ISBN: 3800052105
Klappentext
Sandale hat keine Träume
mehr. Sie lebt in Bukarest auf
der Straße, am Bahnhof geht
sie betteln, in der Kanalisation
schläft sie. Ansonsten ist die
Sozialstation ihre einzige
Anlaufstelle und so etwas wie
eine Familie für sie. Als sie
eines Abends dort hingeht,
erkennt sie in dem neuen
Zivildienstleistenden den Jungen
wieder, dem sie am Bahnhof
den Rucksack geklaut hat.
Zu ihrer großen Überraschung
verrät Martin sie nicht, doch
das macht sie nur wütend.
Denkt der reiche Junge aus
Deutschland, dass sie sein
Mitleid braucht?
Kommentar
Die Kinderbuchautorin Carolin Philipps hat von Pater Georg
Sporschill ins leben gerufene Häuser für Straßenkinder in Rumänien besucht.
Aus echten Lebensgeschichten hat sie in einer Art Puzzle eine spannende
Geschichte rund um Sandale
und Lucian geschrieben . |
Murmelnd
schlurfte Frater Höglinger den Gang im Jesuitenkolleg Innsbruck entlang. Ein
schwarzer Hut bedeckte seine Glatze, tief ins Gesicht gezogen, wie beim
Kartenspieler im Wild-West-Film. Der alte Frater beobachtete, wer an der Pforte
aus und ein ging. Alle Großen der Theologie und viele Studenten kamen hier
vorbei. Karl und Hugo Rahner, J. A. Jungmann wohnten im
Haus. Früher hat Frater Höglinger jahrzehntelang im Kollegium Kalksburg Kohle
geschleppt, um die Klassenzimmer zu heizen. Bis er nicht mehr konnte. Eines
Tages hat er aufgehört. Seither betete er den Rosenkranz. Er unterbrach
gelegentlich mit einem Wort zu dem, was er sah.
"Ausharren ist leicht,
ausharren ist schwer", sagte er müde, als wieder ein Junger den Orden verließ.
Das war in den sechziger Jahren.
Was soll aus mir werden,
fragte ich damals. Wolfgang Feneberg, der mein Lehrer wurde, machte mit mir
einen Test. Er stellte mir mehrere Bilder vor Augen. Für wen willst du dein
Leben einsetzen? Auf die Jugendlichen im Gefängnis fiel meine Wahl. Es hat
mich zu den Schwierigen hingezogen. Diese Entdeckung war eine Erlösung. Nun
wusste ich, ich muss Psychologie und Pädagogik studieren. Seither gehe ich
in Gefängnisse. Auf der Straße fand ich meine Pfarrei. Jugendliche,
Strafentlassene und Drogensüchtige, Wohlstandsverwahrloste in Wien. Nach der
Wende in Europa habe ich vom Orden den Auftrag bekommen, zu den
Straßenkindern in Rumänien zu gehen. Für sechs Monate. Jetzt bin ich im
zweiten Jahrzehnt bei meinen Kindern.
"Ausharren
ist leicht, ausharren ist schwer". Das Wort von Frater Höglinger habe ich
nie vergessen. Ich stelle mir vor, wie er jahrzehntelang Kübel um Kübel
Kohle getragen hat, damit es die Kinder warm haben. So ging er die erste
Meile, von der Jesus spricht. "Wenn dich einer
zwingt, eine Meile mit ihm zu gehen, dann gehe zwei mit ihm" (Mt 5,41). Ich
denke auch an die Sionsschwester Bertholda, die in einem Internat Tag für
Tag über tausend Knödel geformt hat. Jahrelang, bis die Schwestern über
Nacht Rumänien verlassen mussten. Dann hat sie in einer Wiener Schule weiter
gekocht. Ohne Verbitterung ging sie die zweite Meile. Mit über 90 Jahren
hängt ihr Herz noch an Rumänien und den Kindern. Millionen Knödel sind das
Geheimnis der Sozialarbeit. An den Wendepunkten kommt es auf die
Beharrlichkeit und Ausdauer an. Wenn dich in der Therapie ein Jugendlicher
bekämpft und beschimpft, berührst du den entscheidenden Punkt. Wenn du in
der Sozialarbeit siebenundsiebzigmal scheiterst, bist du dem nahe, der
heilt. Wenn du jemanden findest, der dich mit deinen Fehlern trägt, ist es
Liebe.
Zur
Beharrlichkeit gehört die Sensibilität. "Hören, was die
Jungen sagen", hat der große Jugendseelsorger Sigmund Kripp formuliert, bevor er
seine Autobiografie "Als Jesuit gescheitert" geschrieben
hat. Den Orden hat er verlassen, nicht aber die Berufung. Seither kümmert er
sich in Nicaragua um Jugendliche und Opfer des Bürgerkriegs, bis zum heutigen
Tag. Das Hören hat ihn weiter geführt, die Herausforderung wurde größer. Ohne
das Hören wäre die Beharrlichkeit Sturheit. Ob sich deine ursprünglichen Pläne
erfüllen oder nicht, ist nicht entscheidend. Hören, was die Jungen sagen, und
ausharren, gerade wenn es schwierig ist – in dieser Spannung schenkt sich die
Tiefe des Lebens. Ein überraschender Reichtum, von dem ich weiß, dass ich ihn
weiter geben muss.
Moise ist ein Straßenkind.
Am Bahnhof von Bukarest bin ich ihm 1991 zum ersten Mal begegnet, in einer
Horde von vielen kleinen Dieben, missbrauchten und süchtigen Kindern, von
Räubern und verzweifelten Jugendlichen. Moise ist mein besonderer
Schützling. Wenn ich nicht in Bukarest bin, verlässt er unser Sozialzentrum
Lazarus. Er kehrt zurück in die Hölle der Straße. Wie einen Gruß aus der
Ferne schickt er manchmal kleine Kinder in das Sozialzentrum. Wenn ich ihn
wiederfinde, schämt er sich und schimpft. Wenn er mich im Drogenrausch
erkennt. Am Morgen, wenn er aufwacht, komme ich wieder, um ihn zu holen.
Moise ist kein Erfolg. Er bleibt ein Wanderer zwischen den Welten,
vielleicht unser stärkster Streetworker. Er bindet mich an die Kinder, die
noch auf der Straße sind. Er bringt kleinere in die schützende Herberge und
auf einen guten Weg. Irgendwann kommt auch Moise wieder zu uns. Warten und
Erwarten, nicht das Ergebnis und der Erfolg beschreiben das Innere der
Sozialarbeit. Manchmal dürfen wir über die Wunder staunen, die der liebe
Gott wirkt.
Die
Beharrlichkeit ist keine Leistung sondern eine Gnade. Weil mich Moise nicht
loslässt. Gerade die Schwierigen lassen dich nicht los. Sie lehren
Beharrlichkeit und wecken Unzufriedenheit, solange das Ziel nicht erreicht ist.
Solange es Straßenkinder gibt, solange Wohlstandskinder ihr Leben wegwerfen,
solange es Einsame, Nackte und Hungrige gibt. Auf die Beharrlichkeit – hören,
was die Jungen sagen, und weiter gehen
– kommt es an, wenn Jugendliche ihre
Selbstständigkeit suchen und sich trennen müssen, wenn in
der Therapie Konflikte aufbrechen und der Schmerz Heilung ankündigt.
Beharrlichkeit kann heißen, sich mit dem Gegenteil von dem, was ich erwartet
habe, abzufinden und sich mit dem Anderen zu freuen. Moise ist kein Modell für
die anderen Kinder. Aber er ist ein Stachel in unserem Fleisch, damit wir die
Verbindung mit der Straße nicht verlieren und uns nicht mit Erfolg begnügen.
Moise überlistet uns immer wieder zu einer weiteren Meile.
"Wenn
dich einer zwingt, eine Meile mit ihm zu gehen, dann gehe zwei mit ihm" (Mt
5,41). Damals konnte ein römischer Soldat nach dem Besatzungsrecht jeden
Galiläer zwingen, eine Meile sein Gepäck zu tragen. Allerdings nur eine
Meile. Welche Überraschung, wenn der Unterdrückte freiwillig eine zweite
Meile mit dem Legionär geht! Das Weitergehen am entscheidenden Punkt, das
macht den Feind zum Freund.
Die
Ausdauer ist ein Geschenk der Liebe. Und doch kann sie trainiert werden. Eltern
müssen entscheiden, ob sie die Wünsche ihrer Kinder erfüllen sollen oder nicht.
Wann man die Kinder schreien lassen muss, warten lassen muss, mit einer Frage
oder einem schlechten Gewissen dünsten lassen muss. Lernen, sogar mit einer
Ungerechtigkeit zurechtzukommen. Damit die Kinder das Leben aushalten und
einander zu Hilfe kommen. Auf solche Ideen bringt erst die zweite Meile. Wenn
die Wirtschaftswelt schnelle Erfolge fordert und nicht Berichte über Verläufe,
so gilt im sozialen Bereich das Umgekehrte: Achte auf Verläufe und nicht auf die
Ergebnisse, Schritt für Schritt. Achte auf die Windungen des Weges. Lass Dich
auf der zweiten Meile überraschen! |
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