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Kleine Betrachtungen zu Literatur und Lektüre

Von alters her denkt man über die Bestimmungsstücke "guter" Literatur nach.
Trotzdem es aber fraglich ist, ob es objektive Qualitätskriterien für Literatur
überhaupt gibt, so ist doch von einem gewissen gesellschaftlichen
Konsens, was "gute" Literatur sein kann, auszugehen.

 
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V
on Maria E. Dorninger
(01. 11. 2000)

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Dr. Maria E. Dorninger

maria.dorninger [at] sbg.ac.at

Studium in Salzburg, seit
1994 Lektorin am Institut für
Germanistik der Universität
Salzburg, seit 1996 Vertrags-
assistentin für Ältere
Deutsche Literatur.

 

 

 

Lesen heißt auswählen 

 

 

 

 

 

 

 

 


Seit alters wird versucht,
"gute" Literatur zu
definieren.

 

 

 

 

 

 

 

 


Literatur soll unterhalten
und nützlich sein, Inhalt
und Form sollen
harmonieren.

 

 

 

 

 

 

 

 


Form und Inhalt sollen
"angemessen" sein.

 

 

 

 

 

 

 


Ist Literatur, die gefällt,
"gute" Literatur oder lässt
sich "gute" Literatur
definieren?

 

 

 

 

 

 

 

Eine Definition "guter"
Literatur.


 

 

 

 

   "Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte" so lautete der Titel der Antrittsvorlesung Friedrich von Schillers, die er 1789 im größten Hörsaal der Universität in Jena gehalten hatte. Ein Titel, der wie die dahinter stehende Grundsatzfrage "Warum und welchen Sinn hat es Universalgeschichte zu studieren?" nicht nur die Studenten Schillers begeisterte. Diese Fragestellung wird auch noch heute gerne in der einen oder anderen Form abgeändert verwendet, um auch wissenschaftliche Fragestellungen und Erörterungen einzuleiten. So stellt sich ähnlich Schiller auch für den literarisch Interessierten irgendeinmal die Frage(n), die wiederum Auslöser für neue Fragestellungen sein können: Was heißt und zu welchem Ende beschäftigt man oder beschäftige ich mich mit Literatur, warum lese ich überhaupt? ...

In der Werbung wurde oft der einprägsame Slogan verwendet: "Lesen ist Abenteuer im Kopf". Ähnliches meint auch Erich Schön, wenn er den Vorgang beim Lesen in seinem Artikel (Schön, Geschichte des Lesens, S. 1) folgendermaßen definiert und dabei die Kreativität des Lesenden betont: "Lesen ist Handeln von Menschen, die in der kognitiven Dimension des Lesens aus einem Text Sinn bilden und in seinen sinnlichen und emotiven Dimensionen sich durch ihr Tun ein Erleben selbst bereiten."

   Auf dieses Erleben kann der Lesende (meist) selbst Einfluss nehmen, indem er auswählt. Er ist, so wie es aus der Bedeutung des zugrundeliegenden althochdeutschen Verbes lesan, lesen und der Bedeutungsentlehnung aus dem lateinischen Verb legere ersichtlich ist (Kluge: Etymologisches Wörterbuch, S. 515), nicht nur ein Leser, sondern einer der sammelt, wählt, ausliest, also selektiv vorgeht, und das Ausgewählte durchgeht, durchwandert, durchläuft. Der Leser trifft seine Auswahl innerhalb der ihrem Wesen nach für die Lektüre bestimmten Literatur, die prinzipiell alle Bereiche des Literarischen, im Sinne von buchstäblich Fixierten, umfasst, das der Kommunikation dienlich ist. In ihr werden Erkenntnisse, Probleme, Gedanken und Wissen mitgeteilt. Im engeren Sinne wird jedoch unter dem Begriff Literatur die "besondere Gestaltung des Rohstoffs Sprache zum Sprachkunstwerk" (Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, S. 519) verstanden.

Mit der Dichtung und ihrem guten Gelingen haben sich bereits die Theoretiker des Altertums auseinandergesetzt. Bereits aus der Antike sind Überlegungen zur Literatur überliefert, in denen auch Kriterien aufgestellt werden, um gute Literatur von schlechter unterscheiden zu können. Berühmt ist die "Poetik" von Aristoteles, die auch auf die Ausführungen des zur Zeit von Augustus lebenden römischen Dichters Horaz eingewirkt hat. Vom 15. bis zum 18. Jahrhundert hatte seine "ars poetica" beinahe kanonische Geltung und noch heute sind Nachwirkungen ihrer Richtlinien erkennbar wie auch, je nach theoretischer Position, vereinzelt verwendbar zur kritischen Sichtung von Literatur.

   In ihr wird als berühmteste Maxime für die Dichtung die Verbindung von Unterhaltung (dulce) und Nutzen (utile) propagiert. Ein Ziel das der theoretische Text, der sich vor allem auf das antike Drama bezieht und der wenig Originelles in den Lehren enthält, in der Darlegung seiner Ansichten selbst einzuhalten sucht. Auch Horaz erkennt die Freiheit des Dichters an, doch geht es ihm auch um die Kohärenz eines Textes, Inhalt und Form sollen im Sinne der antiken Gattungstheorie harmonieren. Diese Harmonie wird durch das Wissen und die Erfahrung des Dichters in menschliche Zustände und Befindlichkeiten gefördert, denn: "Die richtige Einsicht ist Ursprung und Quelle, um richtig [und damit gut] zu schreiben." (Horaz, Ars poetica 310).

In diesem Sinne wird sich auch die Sprache der Gegenwart in dem jeweiligen Werk widerspiegeln, das - fern jedem l’art pour l’art-Denken - den Rezipienten gewinnen soll, indem das Werk dem Leser ohne qualitative Einbußen zumindest einigermaßen verständlich und begreifbar ist. Diese Ansicht widerspricht dem Konzept des in seiner Zeit "verkannten literarischen Genies", dessen Modernität erst später entdeckt werden kann, man denke nur an Georg Büchner.

   Im Zentrum der horaz‘schen Kunstlehre steht die Idee des "aptum", dessen "was angemessen ist." Das Angemessene bezieht sich bei Horaz auf die Darstellung des Wahrscheinlichen, wobei jedoch die Gattung beachtetet werden muss, auf das formale Kunstideal wie auch auf das in der Gesellschaft Verbindliche, das unter dem Zeichen tempore mutatur gesehen werden muss. So ist es für den Hohen Minnesang nur natürlich, dass die verehrte Dame für das lyrische Ich unerreichbar bleibt, der Ritter auch phantastische Abenteuer besteht und der Schelm sich im Lauf der Welt durchsetzt.

Ähnlich steht auch im "Torquato Tasso" Johann Wolfgang von Goethes der Aussage Tassos: "Erlaubt ist, was gefällt" diejenige Eleonores von Este entgegen: "Erlaubt ist, was sich ziemt" Was hier auf eine mögliche bzw. unmögliche Durchbrechung von Standesschranken hinweist, kann jedoch nicht ganz unproblematisch auch auf die Dichtung bezogen werden, steht doch das Verb "erlaubt" in der Nähe des wertenden Adjektivs gut, doch nicht alles (jede Literatur), was (die) gefällt, muss gut sein. Wertungen sind auch Veränderungen unterworfen und oft in der persönlichen Einschätzung verankert. Was dem einen missfällt, kann dem anderen durchaus gefallen. In diesem Sinne muss die Frage gestellt werden, ob es dann überhaupt qualitativ "gute" Literatur geben kann? Wenn es daher im strengen Sinne keine "gute" Literatur gibt, so ist doch von einem gewissen gesellschaftlichen consensus, was "gute" Literatur sein kann, auszugehen, als dessen Exponenten auch Literaturkritiker gesehen werden können.

   Wenn Marcel Reich-Ranicki Jurek Beckers "Jakob der Lügner" als "kleine[n] und bescheidene[n] Roman" bezeichnet, der es ihm angetan hat, (Reich Ranicki, Über Ruhestörer, S. 180), so wird im Laufe der Besprechung klar, dass es sich hier um einen guten" Roman handelt. Die Sprache des Textes ist dem Sujet angepasst. Das Grauen der Situation im Getto einer polnischen Kleinstadt zur Zeit des NS-Staates wird in beiläufigen Bemerkungen eindrucksvoll sichtbar gemacht und damit in gewissem Sinne informiert. Die Kommunikation mit dem Rezipienten funktioniert: Der Leser wird über die Schrecken der Zeit unterrichtet, bewegt, trotz aller versöhnlichen Stimmung des Romans nicht beruhigt und doch gleichzeitig traurig-schön unterhalten. Die Kriterien des aptum, dulce und utile des Romanes werden in dieser Kritik sichtbar, Kriterien, die bereits Horaz für seine Zeit dargelegt und interpretiert hat. Um es mit Joachim Fernau zu sagen "Horaz lässt grüßen".


Zitierte Literatur


Erich Schön: Geschichte des Lesens. In: Handbuch Lesen. Hrsg. von Bodo Frankmann, Klaus Hasemann, Dietrich Löffler und Erich Schön unter Mitarbeit von Georg Jäger u.a., München: Saur 1999, S. 1-85.

Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart: Kröner 1989.
Marcel Reich Ranicki: Über Ruhestörer in der deutschen Literatur. 3. erw. Ausg., München: dtv 1993.
 
Johann Wolfgang von Goethe: Torquato Tasso. Stuttgart: Reclam 1995.

Quintus Horactius Flaccus: Ars poetica. Lat./ Dt. Übersetzung von Eckart Schäfer, Stuttgart: Reclam 1984.

Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. von Elmar Seebold, 23. erw. Aufl., Berlin u.a.: de Gruyter, 1999.
 
Handwörterbuch der lateinischen Sprache. Hrsg. von Reinhold Klotz unter Mitwirkung von Fr. Lübke und E.E. Hudemann, Bd. 2, 7. Aufl., Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1963.

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