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Medea, die Muslimin
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"Medea" nach Euripides, inszeniert von Volker
Lösch am Staatstheater Stuttgart.

Von Alina Mazilu
(01. 05. 2008)

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Alina Mazilu
mazilu.alina [at] gmail.com

geboren 1981; Studium
der Germanistik und
Romanistik in Temeswar.
Veröffentlichungen in
rumänischen und
deutschen Medien,
Dramaturgin am Deutschen
Staatstheater Temeswar.


 

 



(c) Sonja Rothweiler

 

 



(c) Sonja Rothweiler

 

 



(c) Sonja Rothweiler

 

 



(c) Sonja Rothweiler



 



(c) Sonja Rothweiler

 

 

Linktipp

www.staatstheater.
stuttgart.de

 

 

Aurora-Tipp

Schwarze Jungfrauen

 

 

   Für Volker Löschs "Medea" am Stuttgarter Staatstheater gestaltete Carola Reuther die Bühne als eine Drehscheibe mit einer metallisierten beweglichen Trennwand, die geschoben wird und in ihrem Wirbel die Gestalten mitnimmt, zerquetscht, wegdrückt oder bewegt – eine Trennwand, die zwei Parallelwelten, zwei Kulturen, zwei Weltanschauungen separiert. Auf dieser Drehfläche spielt sich die Handlung ab.

Die Geschichte ist allgemein bekannt. Seit Euripides haben sich mehr als 200 Autoren von Ovid, Seneca über Corneille, Anouilh bis hin zu Heiner Müller und Christa Wolf mit diesem Stoff auseinandergesetzt. Medea ist eine der faszinierendsten Gestalten der Weltliteratur: Die Außenseiterin, die Fremde, die Barbarin, die die gut geregelte, steife, sterile, begrenzte zivilisierte Gesellschaft durch ihre Alterität in Frage stellt.

   Volker Löschs Inszenierung wendet den antiken Stoff auf das Hier und Jetzt an. Die Produktion beginnt mit türkischer Musik und Tanz. Der Regisseur stellt sich vor, dass Medea unsere Zeitgenossin ist, aus der Türkei kommt und zurzeit in Deutschland lebt. Diese Gedanken liegen dem Regiekonzept zu Grunde. Dafür hat Lösch, zusammen mit seiner Dramaturgin Beate Seidel, den Euripides’schen Text auf das Wesentliche reduziert und durch aktuelle Berichte türkischer Frauen ergänzt.

Eine der ersten Szenen präsentiert uns den Privatier Jason, einen molligen Teddybär (Sebastian Nakajew ist sehr überzeugend in dieser Rolle), der mit seinen Söhnen Fußball spielt. In der Folge wird er mal von Medea auf Türkisch angeschrieen, mal klammert sich diese an ihn fest, mal bettelt sie. Mal gibt er seines Gewissens wegen vor, ihr helfen zu wollen. Kreon (Florian von Manteuffel), der Staatsmann mit Aktenkoffer, hält Diskurse über Freiheitskämpfer und Terroristen, führt Einbürgerungstests durch. Er repräsentiert die Öffentlichkeit. Medea ist sein Opfer. Ein Opfer, das bald zum Täter wird, indem es zum Schluss seine Söhne umbringt – aus Wut, aus Eifersucht, aus Verzweiflung.

   Medea wird von insgesamt neunzehn Frauen gespielt – die Hauptgestalt ist bei Lösch ein neunzehnköpfiger Chor, gebildet aus drei Schauspielerinnen (die sich der Reihe nach von der Gruppe lösen, zu Protagonistinnen in direkten Auseinandersetzungen mit Kreon oder mit Jason werden, um sich dann wieder im Chor aufzulösen) und sechzehn Laien – Frauen, die in Stuttgart und Umgebung wohnen und türkischen Ursprungs sind. Frauen, die ihre eigenen Lebenserfahrungen auf die Bühne bringen: "Ich bin Muslimin, bin ich deshalb auch Terroristin?" Solche Fragen werden laut in den Saal gebrüllt. Souverän alternieren Stille und Schreie der Verzweiflung.

Der Regisseur nimmt den Puls der Gesellschaft in seine Inszenierung hinein. Sie polarisiert und hat in den Medien heftige Kontroversen ausgelöst. Die Gründe sind vermutlich darin zu suchen, dass viele Theatergänger die Institution Theater mit einem Museum verwechseln. Und eben dieses Museale vermeidet Volker Lösch. Darin besteht die Stärke der Inszenierung.

   Aktualität, Brisanz, Unmittelbarkeit prägen Löschs "Medea". Ob man sich empört oder begeistert, man kommt nicht umhin, Stellung zu beziehen, weil der Spielleiter die Achillesferse der Gesellschaft trifft, die Stelle, an der die Bürger mit einem blasierten "Das kenn ich schon seit zwanzig Jahren" wegzuschauen versuchen. Doch das Wegschauen funktioniert hier nicht. Was macht Lösch? Er zeigt, dass bei einer solchen Strategie die Katastrophe heranreift. Eine Katastrophe, die immer dort fruchtbaren Boden findet, wo zwei Kulturen mit unterschiedlichen Überzeugungen und Wertesystemen aufeinanderprallen – heute genau so wie vor zweieinhalb Jahrtausenden. "Medea" ist kein spezifisch antiker Stoff, zumal das Motiv der Kindermörderin immer wieder in der Literatur (man denke nur an die Dramen des Sturm und Drang) und periodisch auch in den Tageszeitungen auftaucht.

Unbeholfen wohnen wir der Tragödie bei. Medea wird von der Gesellschaft als Andersdenkende stigmatisiert. Zerrissen zwischen zwei Kulturen, zwischen Hier und Dort, zwischen Bleiben und Gehen, ist sie nirgendwo zu Hause. Ab einem gewissen Punkt weiß sie selber nicht mehr, wer sie ist, oder mit wem sie sich überhaupt identifizieren kann. Wenn Medea von ihrem Mann betrogen und verlassen wird und sie zusammen mit ihren Söhnen aus Deutschland verbannt wird, dann bricht für sie eine Welt zusammen und es gibt plötzlich nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnt.

   Durch seinen kollektiven Charakter legt der Chor nahe: Medea ist kein Einzelschicksal, keine Ausnahme, nicht die von der Norm Abschweifende. In einem bestimmten Kontext, wenn zwei Kulturen unter schwierigen Voraussetzungen miteinander umgehen müssen, könnte ein jeder von uns zu einer Medea werden.

Löschs "Medea" ist Teil einer Bewegung im internationalen Theaterbetrieb, die eine Kongruenz zwischen der Ebene des Realen und der Ebene des Imaginären anstrebt. So lässt der Regisseur Andrei Şerban in seiner Hermannstädter "Möwe"-Inszenierung Arkadina und Treplev von Mutter und Sohn spielen (Maia Morgenstern und Tudor Aaron Istodor), Alexander Hausvater inszeniert den "König Lear" mit einem krebskranken Hauptdarsteller (Joe Cazalet) und Volker Lösch bringt für seinen Chor Bürgerinnen mit türkischem Hintergrund auf die Bühne. In diesen Fällen ist Theater mehr als Unterhaltung – panem et circenses –, dann ist es (zumindest für die am Projekt Beteiligten, und das ist auch nicht wenig) eine authentische Lebenserfahrung.

   Durch den Einsatz des Laienchors demonstriert Lösch auch, dass Theater die Möglichkeit eröffnet, sich künstlerisch auszudrücken, Gefühle und Emotionen zu vermitteln, das Leben zu zelebrieren, auch wenn man kein Bühnenprofi ist. Die Grenzen des Theaters werden überschritten oder für Augenblicke aufgehoben, und das Resultat ist in diesem Fall ein aufreizendes, sehenswertes Regietheater. Warum Lösch "Medea" inszeniert hat? Weil die Gesellschaft, in der er lebt, eine starke Auseinandersetzung mit der Alterität nötig hat.

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