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Die
Mythen vom reinen Kind und vom edlen Wilden sind stark. Allzu verlockend ist
die Vorstellung, wir "armen Kulturmenschen" müssten nur allen
Zivilisationsschutt aus unseren Köpfen und Herzen kippen, um zu jener
erfüllenden Ursprünglichkeit und beglückenden Unmittelbarkeit
zurückzufinden, die es angeblich einmal gegeben hat. Große Mythen machen
bekanntlich vor keinem Lebensbereich Halt, auch nicht vor der Lesepädagogik.
Allzu verlockend ist die Vorstellung, das Vergnügen am Lesen beruhe auf
einem Einswerden von Romanheldin und Leserin, auf der Verschmelzung von
Kunst und Leben. Dieser Zugang zur Literatur ist meist nur für Kinder im
vorpubertären Alter möglich und für Menschen, die sich um den Preis ihrer
geistigen Weiterentwicklung lebenslänglich in jenem Urzustand der Naivität
halten können, in dem wir ein berührendes Ach hinseufzen, wenn die
tugendreiche Kammerzofe Agathe den jungen Graf Humbert von
Waldstatt-Rittersau endlich den Ihren nennen darf. Wer meint, er könne auf der Basis der Reflexionsverweigerung zum begeisterten Leser werden, weil doch die Poesie etwas Emotionales ist, der schrammt garantiert an der interessantesten Literatur vorbei, liest entweder dauernd Botschaften, die nirgendwo stehen (außer im eigenen Herzen) oder legt ermüdet das Buch beiseite. Die sinnreiche Beschäftigung mit so genannter schöner Literatur ist eine Denkarbeit. Daher trete ich auch mit aller Entschiedenheit jenen Spontaneitätspredigern entgegen, deren Lebensinhalt darin besteht, die wissenschaftliche Philologie und eine auf ihr beruhende Lesepädagogik zu diffamieren, weil diese angeblich Trockenheit und "Verkopfung" (was für ein Wort!) verbreite, wo sonst das erfüllende Leben als solches erblühen könnte. Natürlich kann und soll
nicht jeder Leser Philologe sein. Aber eine Volksausgabe philologischer
Methodik sollten die Schulen ihren Absolventen allemal mit ins Leben geben.
Wozu sind die Deutschlehrerinnen und -lehrer sonst gut? Spontan und
unmittelbar können wir auch ohne den großen Meister hinter dem Katheder
sein. Methodisches Denken als Voraussetzung für verstehendes Lesen stellt
sich aber nicht von selbst ein. Dazu bedarf es einer fachkundigen Anleitung.
Nehmen wir an, dieser Text würde naiv und mit jener einfühlenden Haltung gelesen, deren Grundlage die Identifikation mit dem Helden ist. Wozu taugte dann Kleists Anekdote noch? Sie taugte zum seelischen Kräftigungsmittel für die Buberlpartien unseres politisch verwahrlosten Landes. Sie könnten sich an diesem preußischen Haudegen aufbauen, bevor sie in Bräunungsstudios ihre Muskeln spielen oder in nicht weniger braunen Bierzelten ihre beherzten Ausritte gegen alles Fremde und Ungewohnte machen. Mit heilbringender Nüchternheit hingegen begegnet der geistig erwachsene Leser dieser historisch gewordenen Seltsamkeit aus dem Jahr 1810. Die förderlichen Haltungen der Auseinandersetzung sind hier (wie so oft): Distanz, Genauigkeit, ästhetische Kompetenz, Bildungswissen. Wie äußern sich derlei Tugenden im Umgang mit diesem Stück Literatur? Wer sich (auch als Laie) ernsthaft mit Literatur beschäftigt, darf nicht nur die Frage stellen Was wird mir erzählt?, sondern muss auch fragen: Wie wird es mir erzählt? Ich persönlich lehne zum Beispiel völlig ab, was uns Kleist hier erzählt, aber ich bewundere die Professionalität seiner Erzählverfahrens und seiner Sprache. Schon über die Syntax des ersten Satzes gerate ich in Verzückung. Wer sich der schönen Anstrengung unterzieht, die Struktur dieses syntaktischen Gebildes zu analysieren, für den oder die wird sich ein filigranes Sprachkunstwerk aus Unterbrechung und Wiederaufnahme auftun. Als ich einmal vor einer Schulklasse diese Satzstruktur in einer Textpartitur visualisierte und anmerkte, solch eine Analyse sei für mich ein erotisches Erlebnis, meinte eine Schülerin: Das ist aber schon eine schwere Form der Perversion! – Gewiss, aber das macht die Analyse eines Kleistschen Satzes nicht weniger reizvoll. Ganz im Gegenteil! Auch Kleists Umgang mit Erzählperspektiven und Darstellungsformen überzeugt mich völlig. Das Autoren-Ich gibt nach einer knappen Einleitung seiner Ezählerrolle an den Augenzeugen ab, den Wirt, der im Stil von Brechts epischem Theater in halbdramatischer Form das Geschehen vergegenwärtigt, teils in die Rolle des Helden schlüpft, teils seinen eigenen Gesprächsbeitrag zitiert und so eine knappe, dichte Skizze des Vorfalls zu Stande bringt. Immer wieder lese ich (vor allem in gut gemeinten pädagogischen Publikationen) den abgrundtief dummen Satz, dass die formale Analyse eines Kunstwerks dieses zerstöre. Quatsch! Erstens ist die Bewusstmachung von Form und Sprache manchmal die Voraussetzung des Verstehens, zweitens ist sie die Bedingung jeder seriösen Literaturkritik, und drittens ermöglicht sie ein ästhetisches Erkennen, das uns jene Bewunderung ermöglicht, die der große Künstler verdient. Und Kleist war solch ein großer Künstler. Wenig Bewunderung hege ich freilich für die Botschaft der "Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege". Was für ein Klischeeheld da konstruiert wird! Ein so genannter "Kerl", in derselben machistischen Kuchenform gebacken wie Rambo, also ein starker Einzelkämpfer, unerschrocken und siegreich. Ich will aber nicht nur meiner Abneigung freien Lauf lassen, sondern eine methodische Heldendekonstruktion vornehmen. Nicht genug damit, dass der namenlose Kerl drei zaudernde Franzosen aus dem Sattel haut, nein, er muss natürlich auch noch die standardisierten Begleiter des echten Mannes zu sich nehmen: Tabak und Branntwein. Man stelle sich vor, der Kerl verlange Wasser und einen kohlehydratreichen Imbiss, was ja vom Standpunkt der militärischen Fitness zuträglicher wäre als Pfeifentabak und Schnaps. Aber mit Kartoffelauflauf und Leitungswasser ist eben kein Männermythos zu errichten. Das ist auch bei anderen Autoren nachweisbar. Man vergleiche mit Kleists "Kerl" Carl Zuckmayers General Harras, der sich vorwiegend von Zigarre und Cognac ernährt, aber auch der junge Brecht war nicht frei von derlei Inszenierungen des Männlichen, berichtet er uns doch im berühmten Gedicht "Vom armen B.B.", dieser sei versehen mit "Tabak und Branntwein", trinke in der Früh sein Glas aus und hoffe, dass er bei den Erdbeben, die kommen werden, seine Virginier nicht ausgehen lasse vor Bitterkeit. Die dritte Kraft in der Dreifaltigkeit des Machismo ist – neben Tabak und Branntwein – der beiläufige Gebrauch von Frauen, die zwar genommen, aber nicht mitgenommen werden. Der Fliegergeneral Harras lebt uns diese bezaubernde Seite des Mannes ebenso genussreich vor wie der Genosse Brecht: In meine leeren Schaukelstühle vormittags, da setz ich mir mitunter ein paar Frauen, heißt es. Tja, so ist das eben bei uns Kerls. Kämen die schlappen Franzosen ein wenig später ins Dörfchen nahe Jena geritten, ich wette, der Kleistsche Kerl würde auch noch die gute Liese beglücken, die ja in der Anekdote eine undankbare Rolle hat, weil sie dem Kerl zwei Attribute der Männlichkeit reichen darf, aber auf des Kerls Hauptattribut, seinen zweifellos emsigen Schniedl, keinen Anspruch erheben kann. Das erst machte aber das Kerl-Bild rund, wenn er Lieses sehnsüchtigen Stutenblick aufnehmen würde und – den Franzosen zurufend: wartet noch drei Minuten, Kollegen, denn hier wird rasch noch naturaliter bezahlt – sein Gemächt hervorholte, um es der verzückten Liese zu besorgen. Soweit zum Thema "Des Lesers Distanz zur Hauptfigur".
So,
und jetzt noch ein bisschen was von jenem historischen Bildungswissen, das
in den ach so fortgeschrittenen Bildungsdiskursen der Gegenwart gern zum
"Ballast" erklärt wird. Im gegeben Fall scheint der Ballast, der uns am
geistigen Aufstieg hindern könnte, freilich eher das Unwissen zu sein als
das Wissen. Kleists "Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege" erschien
in den "Berliner Abendblättern" (1810). Die Bezugnahme auf Jena hat sehr
reale Hintergründe. In der Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt am
14.Oktober 1806 erlitt Preußen eine vernichtende Niederlage im Kampf gegen
die napoleonischen Truppen. Als ein schwaches Jahr später auch Russland
besiegt wurde, war der europäische Kontinent fest in französischer Hand. Nur
zögerlich besann man sich in Preußen auf den Wiederaufbau des Landes zur
Großmacht. 1809 wurde Napoleon erstmals in einer Landschlacht besiegt,
bekanntlich von "unserem" tüchtigen Erzherzog Karl (Schlacht bei Aspern).
Napoleon blieb zwar vorläufig noch auf dem Höhepunkt seiner Macht, aber der
Mythos der Unbesiegbarkeit verblasste. In dieser Zeit publizierte Kleist
seine fragwürdige Anekdote, diesen ideologischen Ausdruck eines schwer
beschädigten preußischen Selbstbewusstseins, das in machistischen Posen die
Niederlagen seiner großen Männer kompensierte und daraus die Hoffnung bezog,
den großen Kaiser Napoleon eines Tages doch noch auf jenes Maß zurückstutzen
zu können, das seiner Körpergröße angemessen schien. |