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Heartbreaker
...

Vladimir Sorokins eisiger Abgesang auf die Menschheit.


Rezension v
on Bartholomäus Figatowski
(07. 04. 2008)

...



Bartholomäus Figatowski
figatowski [at] gmx.de

Jahrgang 1976, Studium
der Germanistik, Pädagogik
und der Sozialwissen-
schaften zum Lehramt an
den Universitäten Köln, Bonn
und Krakau. Promotions-
stipendiat der Hans-
Böckler-Stiftung.

 

Buchtipp

Bartholomäus Figatowski.
Sonne, Klon und Sterne.
Eine Science-
Fiction-Anthologie.
Ernst Klett Verlag, 2006,
158 S. ISBN:
 9783122626402

 

 

 

Ein aus dem Ljod gefertigter
Eishammer wird mit aller
Wucht auf den Brustkorb
geschlagen, bis das Herz
den wahren Namen des
neuen Bruders "verkündet"
oder für immer schweigt.

 


 

 

Vladimir Sorokin.
Bro.
Berliner Taschenbuch
Verlag, 2007, 352 S.
ISBN:
3833305037

 

 

Da immer wieder
Erweckte sterben und
dann in anderen Körpern
neugeboren werden, müssen
diese wiederum aufs Neue
gefunden und erweckt
werden.

 

 


(c) Berlin Verlag

Vladimir Sorokin
wurde 1955 in Moskau
geboren. Nach dem Studium
der Petrochemie arbeitete er
als Buchillustrator, bevor er
Ende der siebziger Jahre erste
literarische Anerkennung erfuhr.
Berühmt wurde er durch den
Roman "Die Schlange", der in
zehn Sprachen übersetzt
wurde. Zuletzt erschien auf
Deutsch sein Roman LJOD.
Das Eis
(Berlin Verlag), der
auch mehrfach für das Theater
inszeniert wurde. Im Frühjahr
2005 wurde das von ihm
geschriebene Libretto Rosen-
tal-Kinder
zum Politikum in
der Moskauer Duma und
festigte in Russland seinen
Ruf als literarisches
Enfant terrible.

 


Sorokin lag es fern,
einen trivialen Genreroman
zu schreiben. Eine Lektüre
von BRO als reiner Fantasy
läuft ins Leere.

 

 

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   Im Zentrum des phantastischen Romans BRO des Russen Vladimir Sorokin, der Vorgeschichte zu seinem Bestseller LJOD. Das Eis (2002), steht ein monumentaler Schöpfungsmythos, der nichts Geringeres als das Projekt Menschheit für gescheitert erklärt:

"Zeit ihrer Geschichte kannten die Menschen im Grunde nur dreierlei Verrichtungen: Menschen zu gebären und Menschen zu töten sowie ihre Umwelt zu missbrauchen. Menschen, die anderes zu tun vorschlugen, wurden gekreuzigt und gesteinigt. Aus dem unsteten, disharmonischen Wasser hervorgegangen, gebaren die Menschen und töteten, was sie geboren hatten. Denn der Mensch war der große Fehler. Und mit ihm alles Übrige, was auf der Erde kreucht und fleucht. Und die Erde wurde zum hässlichsten Ort im ganzen Universum."

Noch schwerer wiegt, dass die Menschheit die Erzeuger des Universums, nicht weniger als 23000 'Lichtwesen', in sich absorbiert hat. Die "göttliche Balance" ist gestört, das Universum droht zu sterben, solange die Erde existiert. Und so wird ein Meteor auf die Erde herabgesandt, der am 30. Juni 1908 mit einem lauten (Ur?)Knall in der ostsibirischen Tunguska-Region zerschellt. Dieses Datum ist nicht zufällig von Sorokin gewählt, sondern von außerliterarischer Bedeutung: Die als 'Tunguska-Ereignis' in die Geschichtsbücher eingegangene Explosion über Sibirien mit einer Sprengkraft von mehreren hundert Hiroshima-Bomben bis heute unaufgeklärt.

   Alexander Snegirjow, ein junger Träumer, Naturschwärmer und Studienabbrecher, der zum Zeitpunkt des Meteroiteneinschlags auf die Welt gekommen ist, gehört der wissenschaftlichen Expedition zum Einschlagsort des Meteors an. Er erreicht als Einziger die Einschlagstelle und fühlt sich sogleich auf symbiotische Weise zu dem Eismeteoriten hingezogen. Ist Snegirjow in den russischen Revolutionswirren ohnehin seiner bourgeoisen Vergangenheit verlustig gegangen, wird schließlich im Kontakt mit dem Eis ("Ljod") des Meteoriten das Lichtwesen "Bro" in ihm wiedergeboren. Er erfährt, dass er mit Hilfe des Ljods die anderen 'Lichtstrahlen' aus ihrem menschlichen Kokon befreien kann, die Rettung des sterbenden Universums scheint nicht unmöglich:

"Und wird einmal der Letzte der Dreiundzwanzigtausend gefunden sein, so werdet ihr euch im Kreis aufstellen und bei den Händen fassen, und eure Herzen sprechen die dreiundzwanzig Herzensworte in der Sprache des Lichtes dreiundzwanzigmal im Chor. Dann erwacht das Ursprüngliche Licht in euch zu neuem Leben und wird sich in der Mitte des Kreises vereinen und entflammen. Und der Große Weltfehler wird ausgemerzt sein: die Erdwelt verschwunden, aufgelöst im Licht."

Sodann macht sich Bro auf die gefahrvolle Suche nach seinen 23000 Geschwistern, die weltweit verstreut sind und (ausgerechnet!) allesamt blond und blauäugig sind. Zur Erweckung ihrer Herzen bedient sich Bro einer brutalen, an archaische Kultrituale erinnernden 'Herzmassage': Ein aus dem Ljod gefertigter Eishammer wird mit aller Wucht auf den Brustkorb geschlagen, bis das Herz den wahren Namen des neuen Bruders "verkündet" oder für immer schweigt ... Bro ist dabei nicht nur Gründungsvater, sondern auch messianischer Vordenker der Ljod-Sekte. In seinen Visionen entwickelt der zum Vegetarismus Konvertierte die Lehre von dem Wesen des Menschen als einem Fleisch gewordenen Alptraum und der Sterblichkeit als seinem Kainsmal:

"Sie bildeten keine Gemeinschaft, konnten es nicht. Sie waren ja unser Fehler. Wir hatten sie geschaffen vor Milliarden Jahren, da wir noch Lichtstrahlen gewesen waren. Fleischmaschinen, bestehend aus den gleichen Atomen wie andere von uns geschaffene Welten auch. Nur leider in fehlerhafter Kombination. Dies war der Grund, weshalb die Fleischmaschinen sterblich waren."

   Bald versteht Bro, dass seine 'Erweckungsbewegung' nur erfolgreich sein wird, wenn es ihm gelingt, eine schlagkräftige Geheimorganisation aufzubauen: "Um in Russland zum Ziel zu gelangen, mussten wir Teil des Staatsapparats werden; unter seinem Deckmantel, in der Montur seiner Bediensteten, konnten wir unser Werk vollbringen; einen anderen Weg gab es nicht." Sehr hilfreich bei der Geschwistersuche ist Terenti Deribas, ein leitender Beamter des Geheimdienstes GPU, der sich ihnen nach seiner Erweckung als Bruder Ig angeschlossen hat. So kann Bro bei der Suche nach seinen Brüdern und Schwestern, die offiziell als sofort zu verhaftende Konterrevolutionäre ausgegeben werden, die Infrastruktur der GPU nutzen. Dabei wird das gesamte Ausmaß der Kaltblütigkeit und Irrationalität der GPU deutlich, mit der sie in der UdSSR wütet, die permanente Angst der Macht vor Kontrollverlust:

"Das Prinzip, dem Vorgesetzten nur ja keine überflüssigen Fragen zu stellen, war zur Tradition geworden. Der Strafverfolgungsapparat der GPU hatte sich landesweit in eine einzige große, vor unbefugten Blicken gepanzerte, ausschließlich nach eigenen Gesetzen funktionierende Maschine verwandelt."

Dem steht jedoch die Unbarmherzigkeit der Sektierer kaum nach, die jeden zur "Fleischmaschine" abstrahierten Menschen, der sich ihnen in den Weg stellt, eliminieren.

   Obwohl die Sektierer auf spezielle, durch das Ljod gewonnene Fähigkeiten zurückgreifen können – etwa auf besondere körperliche Selbstheilungskräfte und telepathische Begabungen –, merkt Bro schließlich, dass sich die Geschwistersuche in die Länge ziehen wird, weil sie einem samsarischen Katz- und Maus-Spiel gleicht. Da immer wieder Erweckte sterben und dann in anderen Körpern neugeboren werden, müssen diese wiederum aufs Neue gefunden und erweckt werden. Der rasch alternde Bro findet schließlich trotz der erschwerten Bedingungen im 2. Weltkrieg zwischen dem bolschewistischen "Ljodland", dem faschistischen "Ordnungsland" und dem amerikanischen "Freiheitsland" eine Nachfolgerin in Chram, die – davon erzählt Sorokins vorhergehender Roman LJOD. Das Eis – nach seinem Tod die weitere Suche und die Unterwanderung der gesellschaftlichen Machtzirkel koordinieren wird.

BRO ist mehr als ein abenteuerliterarisches Konglomerat aus Religionsparodie, Elementen der Fantasy Fiction und Science Fiction und dem Tunguska-Rätsel vor dem Hintergrund der düstersten historischen Epochen der Sowjetunion. Auf einer abstrakteren Ebene wird von Sorokin die menschliche Sehnsucht nach Mythen einer Kritik unterzogen. In Bros vampiresk-abgründiger Sekte, die so hervorragend die totalitäre Logistik der Tscheka, des GPU und der Nazis für ihre eigenen Zwecke zu gebrauchen versteht, versinnbildlichen sich hinter nicht selten ekelerregenden und brutalen Formulierungen die Anschließbarkeit der scheinbar zivilisierten Mythenproduktion an totalitäre Herrschaftsformen und die enttäuschte Hoffnung auf eine transzendente Fortentwicklung des Menschen, kurz: die Naivität des "menschlichen Anspruchs auf kosmischen Universalismus" (Stanislaw Lem).

   Sorokin lag es fern, einen trivialen Genreroman zu schreiben. Eine Lektüre von BRO als reiner Fantasy läuft ins Leere. Jenseits platter Genrekonventionen folgt Sorokin vielmehr der Traditionslinie der erkenntnisbezogenen Phantastik aus Osteuropa, wie sie etwa von den Gebrüdern Arkadi und Boris N. Strugazki vertreten wird. Besonders augenfällig ist Sorokins Bearbeitung des Science-Fiction-Motivs des homo superior, die an das Werk von Olaf Stapledon (u.a. Odd John, 1935, Star Maker, 1937) und seine darin ins Kosmische ausgeweiteten Reflexionen über das zukünftige Schicksal des Menschen erinnert. Ebenso Sorokin, der nicht weniger meisterlich die Phantastik als einen literarischen Brennspiegel zu nutzen weiß, mit dem sich Zeitkritik und Gesellschaftsanalyse noch leichter entzünden lassen. Sein Roman ist eine Autopsie des Menschengeschlechts und trifft den Leser in seinem Evolutionspessimismus mitten ins Herz.

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