Im Zentrum des
phantastischen Romans BRO des Russen Vladimir Sorokin, der
Vorgeschichte zu seinem Bestseller LJOD. Das Eis (2002), steht ein
monumentaler Schöpfungsmythos, der nichts Geringeres als das Projekt
Menschheit für gescheitert erklärt:
"Zeit
ihrer Geschichte kannten die Menschen im Grunde nur dreierlei
Verrichtungen: Menschen zu gebären und Menschen zu töten sowie ihre
Umwelt zu missbrauchen. Menschen, die anderes zu tun vorschlugen, wurden
gekreuzigt und gesteinigt. Aus dem unsteten, disharmonischen Wasser
hervorgegangen, gebaren die Menschen und töteten, was sie geboren
hatten. Denn der Mensch war der große Fehler. Und mit ihm alles Übrige,
was auf der Erde kreucht und fleucht. Und die Erde wurde zum
hässlichsten Ort im ganzen Universum."
Noch schwerer wiegt, dass
die Menschheit die Erzeuger des Universums, nicht weniger als 23000
'Lichtwesen', in sich
absorbiert hat. Die "göttliche Balance" ist
gestört, das Universum droht zu sterben, solange die Erde existiert. Und so
wird ein Meteor auf die Erde herabgesandt, der am 30. Juni 1908 mit einem
lauten (Ur?)Knall in der ostsibirischen Tunguska-Region zerschellt. Dieses Datum
ist nicht zufällig von Sorokin gewählt, sondern von außerliterarischer
Bedeutung: Die als
'Tunguska-Ereignis' in
die Geschichtsbücher eingegangene Explosion über Sibirien
–
mit einer Sprengkraft von mehreren hundert Hiroshima-Bomben
–
bis heute unaufgeklärt.
Alexander Snegirjow, ein
junger Träumer, Naturschwärmer und Studienabbrecher, der zum Zeitpunkt des
Meteroiteneinschlags auf die Welt gekommen ist, gehört der
wissenschaftlichen Expedition zum Einschlagsort des Meteors
an. Er erreicht als Einziger die Einschlagstelle und fühlt sich
sogleich auf symbiotische Weise zu dem Eismeteoriten hingezogen. Ist
Snegirjow in den russischen Revolutionswirren ohnehin seiner bourgeoisen
Vergangenheit verlustig gegangen, wird schließlich im Kontakt mit dem Eis ("Ljod")
des Meteoriten das Lichtwesen "Bro" in ihm
wiedergeboren. Er erfährt, dass er mit Hilfe des Ljods die anderen
'Lichtstrahlen' aus
ihrem menschlichen Kokon befreien kann, die Rettung des sterbenden
Universums scheint nicht unmöglich:
"Und
wird einmal der Letzte der Dreiundzwanzigtausend gefunden sein, so
werdet ihr euch im Kreis aufstellen und bei den Händen fassen, und eure
Herzen sprechen die dreiundzwanzig Herzensworte in der Sprache des
Lichtes dreiundzwanzigmal im Chor. Dann erwacht das Ursprüngliche Licht
in euch zu neuem Leben und wird sich in der Mitte des Kreises vereinen
und entflammen. Und der Große Weltfehler wird ausgemerzt sein: die
Erdwelt verschwunden, aufgelöst im Licht."
Sodann macht sich Bro auf
die gefahrvolle Suche nach seinen 23000
Geschwistern, die weltweit verstreut sind und (ausgerechnet!) allesamt blond
und blauäugig sind. Zur Erweckung ihrer Herzen bedient sich Bro einer
brutalen, an archaische Kultrituale erinnernden 'Herzmassage':
Ein aus dem Ljod gefertigter Eishammer wird mit aller Wucht auf den
Brustkorb geschlagen, bis das Herz den wahren Namen des neuen Bruders
"verkündet" oder für immer schweigt
... Bro ist dabei nicht nur Gründungsvater, sondern auch
messianischer Vordenker der Ljod-Sekte. In seinen Visionen entwickelt der
zum Vegetarismus Konvertierte die Lehre von dem Wesen des Menschen als einem
Fleisch gewordenen Alptraum und der Sterblichkeit als seinem Kainsmal:
"Sie
bildeten keine Gemeinschaft, konnten es nicht. Sie waren ja unser
Fehler. Wir hatten sie geschaffen vor Milliarden Jahren, da wir noch
Lichtstrahlen gewesen waren. Fleischmaschinen, bestehend aus den
gleichen Atomen wie andere von uns geschaffene Welten auch. Nur leider
in fehlerhafter Kombination. Dies war der Grund, weshalb die
Fleischmaschinen sterblich waren."
Bald versteht Bro, dass
seine 'Erweckungsbewegung'
nur erfolgreich sein wird, wenn es ihm gelingt,
eine schlagkräftige Geheimorganisation aufzubauen: "Um
in Russland zum Ziel zu gelangen, mussten wir Teil des Staatsapparats
werden; unter seinem Deckmantel, in der Montur seiner Bediensteten, konnten
wir unser Werk vollbringen; einen anderen Weg gab es nicht." Sehr hilfreich
bei der Geschwistersuche ist Terenti Deribas, ein leitender Beamter des
Geheimdienstes GPU, der sich ihnen nach seiner Erweckung als Bruder Ig
angeschlossen hat. So kann Bro bei der Suche nach seinen Brüdern und
Schwestern, die offiziell als sofort zu verhaftende Konterrevolutionäre
ausgegeben werden, die Infrastruktur der GPU nutzen. Dabei wird das gesamte
Ausmaß der Kaltblütigkeit und Irrationalität der GPU deutlich, mit der sie
in der UdSSR wütet, die permanente Angst der Macht vor Kontrollverlust:
"Das
Prinzip, dem Vorgesetzten nur ja keine überflüssigen Fragen zu stellen,
war zur Tradition geworden. Der Strafverfolgungsapparat der GPU hatte
sich landesweit in eine einzige große, vor unbefugten Blicken
gepanzerte, ausschließlich nach eigenen Gesetzen funktionierende
Maschine verwandelt."
Dem steht jedoch die
Unbarmherzigkeit der Sektierer kaum nach, die jeden zur "Fleischmaschine"
abstrahierten Menschen, der sich ihnen in den Weg stellt, eliminieren.
Obwohl die Sektierer auf
spezielle, durch das Ljod gewonnene Fähigkeiten zurückgreifen können – etwa
auf besondere körperliche Selbstheilungskräfte und telepathische Begabungen
–, merkt Bro schließlich, dass sich die Geschwistersuche in die Länge ziehen
wird, weil sie einem samsarischen Katz- und Maus-Spiel gleicht. Da immer
wieder Erweckte sterben und dann in anderen Körpern neugeboren werden,
müssen diese wiederum aufs Neue gefunden und erweckt werden. Der rasch
alternde Bro findet schließlich trotz der erschwerten Bedingungen im 2.
Weltkrieg zwischen dem bolschewistischen "Ljodland",
dem faschistischen "Ordnungsland" und dem
amerikanischen "Freiheitsland" eine Nachfolgerin
in Chram, die – davon erzählt Sorokins vorhergehender Roman LJOD. Das Eis
– nach seinem Tod die weitere Suche und die Unterwanderung der
gesellschaftlichen Machtzirkel koordinieren wird.
BRO
ist mehr als ein abenteuerliterarisches Konglomerat aus
Religionsparodie, Elementen der Fantasy Fiction und Science Fiction und dem
Tunguska-Rätsel vor dem Hintergrund der düstersten historischen Epochen der
Sowjetunion. Auf einer abstrakteren Ebene wird von Sorokin die menschliche
Sehnsucht nach Mythen einer Kritik unterzogen. In Bros vampiresk-abgründiger
Sekte, die so hervorragend die totalitäre Logistik der Tscheka, des GPU und
der Nazis für ihre eigenen Zwecke zu gebrauchen versteht, versinnbildlichen
sich hinter nicht selten ekelerregenden und
brutalen Formulierungen die Anschließbarkeit der scheinbar zivilisierten
Mythenproduktion an totalitäre Herrschaftsformen und die enttäuschte
Hoffnung auf eine transzendente Fortentwicklung des Menschen, kurz: die
Naivität des "menschlichen Anspruchs auf
kosmischen Universalismus" (Stanislaw Lem).
Sorokin lag es fern, einen
trivialen Genreroman zu schreiben. Eine Lektüre von BRO als reiner
Fantasy läuft ins Leere. Jenseits platter Genrekonventionen folgt Sorokin
vielmehr der Traditionslinie der erkenntnisbezogenen Phantastik aus
Osteuropa, wie sie etwa von den Gebrüdern Arkadi und Boris N. Strugazki
vertreten wird. Besonders augenfällig ist Sorokins Bearbeitung des
Science-Fiction-Motivs des homo superior, die an das Werk von Olaf
Stapledon (u.a. Odd John, 1935, Star Maker, 1937) und
seine darin ins Kosmische ausgeweiteten
Reflexionen über das zukünftige Schicksal des Menschen erinnert. Ebenso
Sorokin, der nicht weniger meisterlich die Phantastik als einen
literarischen Brennspiegel zu nutzen weiß, mit dem sich Zeitkritik und
Gesellschaftsanalyse noch leichter entzünden lassen. Sein Roman ist
eine Autopsie des Menschengeschlechts und trifft den Leser
in seinem Evolutionspessimismus mitten ins Herz. |