Als
die unterdrückten Arbeiter auf dem Planeten Urras aufbegehren, lassen sie
sich mit ihren Herrschern auf einen Handel ein: Sie dürften die
anarchistische Staatsidee ihrer Vordenkerin Odo ausleben, aber nur,
wenn sie die urrastische Gesellschaft damit in Ruhe lassen. Die Folge ist
ein Exodus der Idealisten auf den kargen Mond Anarres, der bisher lediglich
als Bergbaukolonie genutzt wurde.
200 Jahre später sind alle
Verbindungen zwischen Urras und Anarres unterbrochen. Die Anarresti meinen,
die perfekte Gesellschaftsform gefunden zu haben und wollen diese durch
Isolation vor allen äußeren Einflüssen schützen. Die Forschungen des
genialen Physikers Shevek, der an einer großen Theorie arbeitet, die
Kommunikation ohne Zeitverlust ermöglichen würde, treffen daher in seiner
Heimat auf wenig Begeisterung. An Sheveks Traum, dem freien Austausch von
Wissen und Ideen unter allen Völkern des Universums, ist man auf Anarres
nicht interessiert. Ressourcen will man auf dem ärmlichen Planeten dafür
nicht verschwenden.
Shevek
zieht die Konsequenz und bricht ein Tabu: Nicht nur, dass er Kontakt zu den
wesentlich fortschrittlicheren Physikern auf Urras aufnimmt, er besteigt
auch eines der Handelsschiffe, die gelegentlich zwischen den Planeten
verkehren. Auf Urras erwartet ihn eine Gesellschaft, die er bisher nur aus
den düsteren Beschreibungen seiner Schulzeit über die "Propetarier" oder
"Besitzler" kannte. In der Propaganda der Anarresti ist der Mutterplanet
eine kapitalistische Hölle, in der jeder auf Kosten des anderen lebt und der
Eigennutz alles beherrscht. "Egoisiere nicht", werden Anarresti-Kinder
zurechtgewiesen, wenn sie Besitzansprüche stellen.
Anfangs erscheint Shevek
der natürliche Überfluss auf Urras – er sieht zum ersten Mal Vögel und
Säugetiere – wie das Paradies. Später erkennt er allerdings, warum seine
Vorfahren damals auswanderten. In der Konfrontation mit den
Ungerechtigkeiten der urrastischen Konsumgesellschaft beginnt er, über die
beiden unterschiedlichen Gesellschaftsmodelle zu reflektieren.
Eher ein soziologischer Essay als ein
actionlastiger Sci-Fi-Roman
Im
Mittelpunkt von "Planet der Habenichtse" steht nicht die Handlung, sondern
die Ideen, die den beiden verschiedenen Gesellschaften, insbesondere der von
Anarres, zugrunde liegen. Anders als Stanislaw Lem in seinen
philosophischsten Romanen verzichtet Ursula K. Le Guin jedoch nicht auf das
personale Element. Das ist sicherlich eine Stärke des Romans, denn das
Privatleben Sheveks liefert nicht nur den emotionalen Grundton (der bei Lem
teilweise vollkommen fehlt), sondern auch eine Perspektive, die den Blick
auf Mängel und Probleme der anarchistischen Gesellschaft von Anarres lenkt,
welche bei einer verallgemeinernden Betrachtung kaum auffallen würden.
Und diesen gelegentlich
kritischen Blick hat "Planet der Habenichtse" bitter nötig, denn Autorin und
Protagonist drohen nicht selten in idealistische Schwärmerei abzudriften. So
zum Beispiel, wenn sich Shevek, nachdem er die Niederträchtigkeit der
Herrschenden auf Urras erkannt hat, den Unterdrückten zuwendet:
"Ich kam hierher, weil
sie über die unteren Klassen, die Arbeiterklassen redeten, und ich
dachte, das klingt genau wie meine Leute. Menschen, die einander
helfen."
In dieser Romantisierung
der Arbeiterklasse begegnet die reflexartige Solidarisierung mit dem
Schwächeren, die noch heute typisch ist für einen großen Teil derjenigen,
die sich links nennen und die das Opfer grundsätzlich zu einem besseren
Menschen erklären. Dass dies nicht immer der Fall ist, haben die
Revolutionen in der Geschichte der Menschheit immer wieder gezeigt. Ganz im
Geiste des Pazifismus lässt Le Guin das Treffen Sheveks mit den
unterdrückten urrastischen Anarchisten mit einem weiteren Klischee
ausklingen: Der Anführer der Gruppe lehnt gewalttätige Maßnahmen ab und
zitiert die wie eine Heilige verehrte Odo: "Nur der Friede bringt den
Frieden". Als Deutscher kann man nur froh sein, dass vor 60 Jahren diese
Meinung nicht innerhalb der US-Regierung vorherrschte.
Auf
Anarres herrscht ein anarchistischer Kommunismus. Es gibt keine staatlichen
Strukturen, keine Regierung, keine Gesetze und somit auch keine Verbrecher,
keinerlei Formen von Herrschaft, lediglich eine Behörde zur Verwaltung der
gemeinschaftlich erwirtschafteten Güter. In diese Produktions- und
Distributionskoordination (PDK) kann sich jeder Bürger versetzen lassen,
sofern ihn das Los dazu bestimmt. Der Dienst dauert maximal vier Jahre –
nicht lange genug, um dauerhafte Machtstrukturen aufzubauen.
Der Roman erschien 1974.
Der Vietnamkrieg war gerade beendet (zumindest für die USA), im Nahen Osten waren im Jahr zuvor von
den Sowjets unterstützte Araber auf von den USA unterstützte Israelis
losgegangen, und in Afrika rangen die beiden Machtblöcke um die
Vorherrschaft. Vor diesem Hintergrund entwirft Le Guin eine
Gegenüberstellung zweier verfeindeter ideologischer Systeme.
Zwar sind die beiden
Gesellschaften nicht identisch mit denen auf der Erde, aber dass hier
Kommunismus und Kapitalismus gegeneinander antreten, ist offensichtlich.
Doch der Vergleich und die damit verbundene Kritik am Kapitalismus aus der
Sicht der pazifistischen, ökologischen und feministischen Bewegungen der
60er und 70er Jahre – wie sie immer wieder in Rezensionen zu "Planet der
Habenichtse" betont wird – hinkt. Denn die Geschichte funktioniert nur in
der Übertreibung. Während die Odonier auf unrealistische Weise aufgepeppt
werden, hegen die Urrasti grundsätzlich finstere Hintergedanken. Auf Urras
begegnen wir einer wesentlich ungerechteren Gesellschaftsform als in den
westlichen Staaten der Erde, einer Gesellschaft ohne geschlechtliche
Gleichberechtigung, mit verhungernden Arbeitern auf der einen und
schlemmenden Adligen auf der anderen Seite, mit einem Staat, der Anspruch
auf sämtliche wissenschaftliche Errungenschaften seiner Forscher erhebt.
Auf
Anarres hingegen haben es die Menschen innerhalb von 200 Jahren geschafft,
ihre kulturellen und biologischen Wurzeln völlig abzustreifen. Es gibt keine
Religion – tatsächlich wird kein einziger religiöser Anarresti erwähnt.
Trotz der Armut, ja sogar gelegentlicher Unterversorgung, sehnt sich keiner
nach dem reichen Urras; niemand stiehlt, niemand versucht, sich an den
zentral verwalteten Gütern der Gesellschaft zu bereichern.
Auf Anarres scheint man
erreicht zu haben, woran Che Guevara gescheitert ist: den neuen Menschen zu
schaffen – und anders als Che hat Odo dafür nicht einmal Gewalt gebraucht.
Dadurch verliert der Roman leider einen Teil seines Reizes. Denn welchen
Sinn hat der Vergleich einer Gesellschaftsform, die niemand will (wer sehnt
sich schon nach einem feudalistisch-unmenschlichen Staat wie A-Io auf Urras?), mit
einer, die völlig unrealistisch ist?
Die Darstellung von
Anarres blendet viele unumgängliche Probleme aus. So wird die völlige
Autarkie der Gesellschaft einfach vorausgesetzt. Das System befindet sich in
keinerlei Konkurrenz zu alternativen Modellen, weder innerhalb noch
außerhalb. Auch Faulheit existiert scheinbar nicht, weil alle aus eigenem
Antrieb arbeiten:
Ein Kind, das frei von
der Schuld des Besitzertums und der Last wirtschaftlichen Wettbewerbs
aufwächst, besitzt den Willen, das zu tun, was notwendig ist, und die
Fähigkeit, Freude darin zu finden. Nur nutzlose Arbeit verdunkelt das
Herz. Die Freude der stillenden Mutter, des Gelehrten, des erfolgreichen
Jägers, der guten Köchin, des geschickten Handwerkers, jedes Einzelnen,
der notwendige Arbeiten verrichtet, und sie gut verrichtet – diese
bleibende Freude ist vielleicht die unerschöpflichste Quelle
menschlicher Zuneigung und des Lebens in der Gemeinschaft überhaupt."
Kurzum:
Eigentlich muss man alle nur machen lassen, dann klappt es schon. Die für
das Funktionieren einer arbeitsteiligen Gesellschaft notwenige
Ausbalancierung der verschiedenen Tätigkeiten scheint sich ganz automatisch
von selbst zu ergeben.
Die Arbeitsbereitschaft aller Anarresti wird auch mit der
Kargheit des Planeten erklärt, die jedem Einzelnen die Notwendigkeit
einsichtig macht, sein Bestes für das Überleben des Ganzen zu geben.
Gleichzeitig ist es jedoch diese Armut, welche als Ursache für das
gelegentliche Abweichen von Odos Idealen herhalten muss. Es stellt sich
die Frage, wie ohne die existentielle Bedrohung die extreme
Arbeitsbereitschaft aufrecht erhalten werden sollte. Funktioniert das Modell
also nur in Armut – und führt die Armut wiederum dazu, dass das Modell nur
teilweise funktioniert?
Ein ähnliches Prinzip wie bei der Arbeit herrscht auch in
der Justiz vor – es gibt schlichtweg keine. Als einziges Tabu wird allein
die Vergewaltigung von Frauen und Kindern erwähnt (Männer zu vergewaltigen,
findet man anscheinend nicht so schlimm). Doch auch dafür gibt es keine
festgelegte Strafe. Dem Täter wird lediglich nahegelegt, sich schnell
freiwillig in eine Anstalt zu begeben, weil er sich ansonsten dem Zorn der
Betroffenen ausgesetzt sehen wird. Es fragt sich, wie einzelne Anarresti vor einer
überhasteten und vielleicht gar ungerechtfertigten Selbstjustiz von
Angehörigen der Opfer geschützt werden können, wenn es kein juristisches
Verfahren gibt, in dem einem Angeklagten seine Schuld nachgewiesen wird.
Dass ein solches Laissez-faire bei der Strafverfolgung funktionieren kann,
erscheint unmöglich. Le Guin setzt voraus, dass bei den immerhin noch
vorkommenden Gewaltverbrechen der Täter unmissverständlich feststeht.
Anarres – eine ambivalente
anarchistische Utopie
Trotz
der eindeutigen Stellungnahme zugunsten des anarchistischen Systems ist
"Planet der Habenichtse" jedoch keinesfalls unkritisch. Und das macht eine
große Stärke des Romans aus. Einen ersten Knacks bekommt die Fassade dieses
gesellschaftlichen Paradieses in den Augen Sheveks, als im Zuge einer Dürre
eine Hungersnot ausbricht. Angesichts der spürbaren Bedrohung beginnt die
Solidarität unter den Anarresti in Teilen zu zerbrechen, Versorgungszüge
werden überfallen, Hungernde vor den Toren einer Stadt im Stich gelassen.
Noch stellt Shevek das System selbst aber nicht in Frage. Im Gegenteil, er
fühlt sich in seinen Überzeugungen bestätigt. In der rückwärtigen
Betrachtung der positiven Folgen der Dürre legt Le Guin ihm gar Worte in den
Mund, die den historisch bewanderten Leser unweigerlich zusammenzucken
lassen:
"Jetzt, da er satt war,
hatte er mit einem Mal das Gefühl, dass die Dürre möglicherweise dem
Gesellschaftsorganismus zum Vorteil gereichte. Die Prioritäten wurden
wieder klar. Schwächen, weiche Stellen, kranke Stellen würden
ausgebrannt, träge Organe wieder voll funktionsfähig gemacht, die
Körperpolitik von überflüssigem Fett befreit."
Beim deutschen Leser
wecken das organische Modell der anarrestischen Gesellschaft und das
dazugehörige Vokabular düstere Assoziationen.
Echte Zweifel kommen
Shevek jedoch erst, nachdem er – was eher ungewöhnlich für die Anarresti ist
– eine feste Bindung zu seiner Partnerin eingeht. Er muss erkennen, dass das
Private, anders als auf Urras, in einer kommunistischen Gesellschaft keinen
Wert darstellt, ja sogar abgelehnt wird. Obwohl die Anarchie eigentlich das
Individuum und seine freie Entfaltung in den Mittelpunkt stellen sollte, ist
es doch die Gemeinschaft, die auf Anarres das Leben beherrscht. Alle sind
gleich, dieses Credo ist nicht nur ein ungeschriebenes Gesetz, es ist auch
in der Homogenität der Architektur in Stein gemeißelt und drückt sich im
immer gleichen "zellularen" Aufbau sämtlicher Siedlungen auf dem Planeten
aus.
Die
zerstörerische Kraft dieser Gemeinschaft wird erst im Dissens offenbar, in
dem Moment, wo man sich für sich selbst und gegen die Gemeinschaft
entscheidet, wo man "egoisiert" – ein Recht, das eigentlich allen zusteht.
Auch Shevek sagt sich, er gehe freiwillig, als ihn die PDK an eine
Arbeitsstelle fernab seiner Partnerin und seiner neugeborenen Tochter
vermittelt. Tatsächlich muss er aber erkennen, dass niemand von dem Recht,
Nein zu sagen, Gebrauch macht. Auf Anarres gibt es zwar keine staatliche
Macht, wohl aber sozialen Druck, einen gesellschaftlichen Zwang, sich an die
Regeln zu halten, der ihn von seiner Familie trennt und seine physikalischen
Forschungen unterbindet. Shevek erkennt diese Zwänge im Schicksal des mit
ihm befreundeten Dramatikers Tirin, laut Shevek ein "geborener Künstler
[...], Erfinder-Zerstörer, von der Art, der alles auf den Kopf stellen und
von innen nach außen kehren muss. Ein Satiriker, ein Mensch, der durch
Verhöhnung lobt". Ein solcher Egozentriker hat keinen Platz in der
Gesellschaft. Als er ein Stück schreibt, das nicht zur politischen Moral der
Anarresti passt, stößt er auf derartige Ablehnung, dass er daran zerbricht.
Aus Angst vor dem "Gesellschaftsorganismus" lässt er sich selbst völlig
zerrüttet in eine Anstalt einweisen.
Shevek begreift, "dass das
individuelle Bewusstsein ganz und gar vom sozialen Bewusstsein beherrscht
wird, anstatt sich damit im Gleichgewicht zu befinden. Wir kooperieren nicht
– wir gehorchen. Wir haben mehr Angst vor der Meinung unserer Mitmenschen
als Achtung vor unserer eigenen Freiheit zur Wahl."
In der Betonung
des Individuums, dem Aufruf, die Revolution niemals enden zu lassen und der
gleichzeitigen Kritik an der Macht sozialer Konventionen erinnert Sheveks
Skepsis an Nietzsches Philosophie des Übermenschen. Doch anders als
Nietzsche bleibt Shevek – und mit ihm Le Guin – auf halbem Wege stehen. Denn
die notwendige permanente Kritik am System, die Shevek am Ende des Romans
vehement einfordert, bezieht sich immer nur auf die konkreten Verfehlungen
als eine Art Perversion des Ideals. Die Idee selbst aber und ihre Gründerin
sind sakrosankt – das Wort Odos ist gleichbedeutend mit der Wahrheit.
Nietzsche lässt seinen Zarathustra einmal sagen: "Wahrlich, ich rathe euch:
geht fort von mir und wehrt euch gegen Zarathustra! Und besser noch: schämt
euch seiner! Vielleicht betrog er euch. [...] Man vergilt einem Lehrer
schlecht, wenn man immer nur der Schüler bleibt. Und warum wollt ihr nicht
an meinem Kranze rupfen?" Zu diesem letzten Schritt und damit zur Grundlage
von Nietzsches Selbstüberwindung ist Shevek nicht bereit, die Kritik bleibt
oberflächlich, die Revolution halbherzig.
Fazit
Gute
Bücher verdienen ernsthafte Kritik. Und "Planet der Habenichtse" ist ein
gutes Buch, auch wenn ein Teil dieser Rezension vermutlich wie ein Verriss
klingen mag. Le Guin entwirft ein faszinierendes Szenario voller
interessanter Figuren und fruchtbarer Denkanstöße. Zwar wirkt Urras alles in
allem wenig glaubwürdig und bleibt in seiner Beschreibung eher oberflächlich
und klischeehaft. Doch dafür ist die Darstellung von Anarres umso
überzeugender. Trotz allem Zweifel am Realismus dieser Utopie gelingt es der
Autorin, ein vielschichtiges und plastisches Bild dieser Gesellschaftsform
zu erzeugen. Allein diese Tiefe macht es ja erst möglich, eine detaillierte
Kritik anzusetzen.
Darüber hinaus überzeugt
"Planet der Habenichtse" durch einen unkomplizierten und dennoch
schwungvollen Stil, der dem gewichtigen Thema einen Teil seiner Schwere zu
nehmen vermag.
Das Buch ist geballte politische Utopie und Gesellschaftskritik, liest sich
aber trotzdem flüssig wie ein Unterhaltungsroman. Zwar gibt es wenig
Handlung, doch dafür sorgt das Privatleben Sheveks, die Liebesbeziehung zu seiner Partnerin, für ein
emotionales Moment, das den Leser packt, ohne den politischen Ansatz zu
überdecken. Im Gegenteil, über das Private lenkt die Autorin den Blick
zurück auf die Gesellschaft; es gelingt ihr, diese beiden Sphären
miteinander zu verbinden. In dieser Hinsicht ist der Roman meisterlich
komponiert. Er bietet somit nicht nur Stoff zum Nachdenken, sondern
zusätzlich noch ganz "schnödes" Lesevergnügen. |