Das Ohr
unterscheidet sich auf erhebliche Weise von anderen Sinnesorganen. Im
Gegensatz zum Auge können wir es nicht schließen, im
Gegensatz zur Nase können wir seine Wahrnehmungsintensität nur in sehr
geringem Maße steuern. Embryologische Forschungen
zeigen, dass das dem Willen nicht zugängliche Hören zu den frühesten
Erfahrungen des menschlichen Lebens im – wahrscheinlich unvorstellbar
lärmigen – Mutterleib gehört.
Hören lässt
sich aber nicht umstandslos auf das Ohr beschränken. Wer etwa bei populären
Fasnachtsritualen nur einen Schlag auf die große
Trommel gehört hat, weiß darum, wie Schall zur
überwältigenden elementaren körperlichen Erfahrung werden kann. Der
menschliche Körper ist gewollt und ungewollt Resonanzkörper von
Schallereignissen, was sich Sänger mit großer
Virtuosität zu Nutze machen. Gleichzeitig zeigt das Singen aber auch, dass
der Mensch selbst ohne jedes weitere Hilfsmittel Töne produzieren kann. Das
ist alles andere als banal, denkt man daran, dass die Produktion von Farben
nur auf dem Umweg über Hilfsmittel möglich ist.
"Jenes innere
Universum"
Physiologische
und psychologische Forschung hat in ständig wachsender Präzision versucht,
die Mechanik des Hörens zu entschlüsseln. Was jenseits der Übertragung von
Schallereignissen mit dem Menschen geschieht, ist einem psychoakustischen
Ansatz freilich nicht zugänglich. "Nirgends in der äußeren
Welt ist [...] etwas von jenem innern Universum nachweisbar, in das wir das
tönende Universum aufbereiten." Das komplizierte
"Spiegelverhältnis" zwischen
tönender Außenwelt und innerer Wahrnehmung
"täuscht im Grunde auf höchst seltsame Weise über die
äußeren Geschehnisse (die akustischen Schwingungen
usw.), die völlig verlarvt in unser Inneres dringen".
Der Gedanke,
den Ernst Kurth in seiner "Musikpsychologie"
von 1931 niedergeschrieben hat, blieb für die weitere wissenschaftliche
Diskussion praktisch folgenlos.
Die Bücher des Gründers des Berner Instituts für Musikwissenschaft wurden
1933 aus den Bibliotheken Deutschlands verbannt, das damals fast alleine die
wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Musik bestimmte, nach 1945 schien
der ambitionierte Versuch einer ganzheitlichen Tonpsychologie wenig zeitgemäß.
Die zu eigenen disziplinären Ehren erhobene Psychologie konzentrierte sich
auf quantifizierbare Strukturen der Wahrnehmung, die Musikwissenschaft sah
in einer Rückkehr zum Historismus den sichersten Schutz vor jeglicher
Anfechtung durch ideologische Beeinflussungen.
Zwar werden
Ernst Kurths Thesen in den letzten Jahren wieder stärker diskutiert. Ob das
Interesse an diesem führenden Fachvertreter aus der Gründerzeit der
universitären Musikwissenschaft die Forschung über wissenschaftshistorische
Aspekte hinaus beeinflussen kann, ist aber derzeit nicht absehbar. So bleibt
als desillusioniertes Fazit, dass eine primär historisch orientierte
Musikwissenschaft heute wenig mehr sagen kann, als dass das Hören jenseits
der Psychoakustik in hohem Maß kulturell geprägt und
ent-sprechenden Wandlungen ausgesetzt ist.
Es-Dur oder c-moll?
Der vom
Historismus geprägte Blick auf das Hören mag unangemessen eng sein: Ob bei
der Wahrnehmung von Musik in den verschiedensten Kulturen und Epochen von
anthropologischen Konstanten ausgegangen werden kann, scheint weniger sicher
denn je. In der begrenzten Anwendung auf die Musik unserer eigenen Kultur
vermag historische Forschung aber durchaus zu bedenkenswerten Resultaten
gelangen, insbesondere wenn man sie mit einer rezeptionsästhetischen
Fragestellung verknüpft, also nach der Wechselwirkung zwischen dem Kunstwerk
einerseits und dem Erwartungshorizont sowie der Aufnahmefähigkeit der
Zuhörer andererseits fragt. Für die unvorbereiteten Hörer von 1808 musste
das berühmte "Schicksals-Motiv"
am Beginn zwanglos als Terz und Grundton
eines Es-Dur-Dreiklangs gehört werden. Eine Symphonie stand in aller Regel
in Dur und der Beginn ließ eine weitere Brechung
dieses Dur-Dreiklangs in plakativen Fanfaren erwarten. Dass wir diese ersten
beiden Takte nicht mehr ohne den Gedanken an die Fortsetzung in c-moll hören
können, zeigt, in welchem Maße das Hören von
historischen Erfahrungen konditioniert ist. Und doch ist der – von
vornherein zum Scheitern verurteilte – Versuch, das
"Schicksals-Motiv" zunächst in
Es-Dur zu hören, um sich dann von der Wendung nach c-moll überraschen zu
lassen, für uns die einzige Chance, dem provokativen Charakter von
Beethovens kompositorischer Idee gerecht zu werden.

Die
Anfangstakte aus Beethovens Fünfter Symphonie
mit dem berühmten "Schicksals-Motiv“.
Der berühmte Beginn von Beethovens Fünfter beleuchtet aber auch eine weitere
Besonderheit, die das Hören so kompliziert macht. Wir hören den Beginn ja
nicht nur deswegen in c-moll, weil wir die erfolgreiche Symphonie schon so
oft gehört haben. Nein, wir setzen beim Hören von Sprache oder Musik immer
erst im Nachhinein die flüchtigen Schallereignisse zu einer Struktur
zusammen, und ordnen das spontane Hören der ersten Takte spätestens dann
neu, wenn wir den siebenten Takt mit seinem c-moll-Dreiklang gehört haben.
Wie ungewöhnlich diese Differenz zwischen akustischer Wahrnehmung des Ohrs
und synthetischer Leistung des Gehirns ist, zeigt sich wieder beim Vergleich
mit dem Sehen: Man stelle sich einmal vor, der Besucher des Pariser Louvre
sähe zunächst nur das linke Auge, dann nur das rechte, dann nur die
zugehörigen Augenbrauen, nur die Nase, nur den Mund, nur das Haar, den
leeren Bildhintergrund, und ginge begeistert vom Eindruck der
"Mona Lisa" in den nächsten
Saal ...
Hören im emphatischen Sinn, wirklich aufmerksames
Hören mit höchster Konzentrationsbereitschaft also, ist – in den Worten von
Hugo Riemann, einem Zeitgenossen Ernst Kurths, – eben weit mehr als nur
Wahrnehmung durch das Ohr, es ist "aktives Auffassen
von Tonfolgen und Zusammenklängen, ein logisches Verknüpfen von
Tonvorstellungen".
Musik als Zeitkunst
Dabei geht es
freilich in weit stärkerem Maße als in jeder anderen
Kunst um Zeit, alles in Musik ist vergänglich, und die Entscheidung unserer
Schriftlichkeitskultur, Musik auch jenseits des einmaligen Klangereignisses
verfügbar zu machen, ist nur um den Preis einer extremen Abstraktion
möglich: Darüber, ob und inwieweit die Partitur von Beethovens Fünfter
Symphonie ein musikalisches Werk ist, ließe sich
lange streiten, und es ist offensichtlich, dass dieses schriftliche Substrat
nicht erlaubt, die Musik 200 Jahre später in einer Weise hörbar zu machen,
die auch nur annähernd dem entspricht, was zu Beethovens Lebzeiten erklungen
war.
Diese Verschriftlichung von flüchtigen Klangereignissen zeigt aber auch,
welcher Stellenwert Musik in unserer von der "Aufklärung"
geprägten Kultur zukommt. Seit dem 18. Jahrhundert hat sich die Tonkunst
immer mehr aus funktionellen Zusammenhängen wie fürstlicher Repräsentation
oder kirchlicher Liturgie gelöst und ästhetische Autonomie eingefordert: Die
gedruckte, gleichsam die Essenz des Kunstwerks repräsentierende Partitur
wirkt wie ein Symbol für diese endgültige Emanzipation aus
selbstverständlichen Bedingungen einer ständisch geordneten Gesellschaft.
Solcherart verstandene autonome Musik – deren Vorgeschichte natürlich schon
weit früher, spätestens im 15. Jahrhundert beginnt –,
gestaltet die Abhängigkeit von Zeit in revolutionär neuer Weise. Ist nicht
mehr das Ritual oder der repräsentative Anlass bestimmend für die
Disposition musikalischer Abläufe, kann die Zeitlichkeit von Musik selbst
zum Objekt künstlerischer Gestaltung gemacht werden.
Es
fällt auf, wie oft um und nach 1800, also genau in der Epoche, in der sich
die ästhetische Leitidee einer autonomen Instrumentalmusik als neues
Paradigma durchsetzte, musikalischen Kompositionen eine Einleitung
vorangestellt wird. Kompositionen beginnen nicht mehr mit einem leicht zu
begreifenden, forte gespielten und melodisch unmissverständlichen Thema,
sondern gleichsam auf der Suche nach einem solchen Thema: Um 1820 kann kein
Variationenzyklus ohne eine aufwendige "Introduction",
kaum eine Symphonie mehr ohne langsame Einleitung vor dem schnellen
Eröffnungssatz bestehen. Und immer häufiger inszenieren Komponisten diese
Suche nach musikalischer Substanz, indem sie solche Einleitungen als amorphe
Folge von Klängen gestalten, die scheinbar noch nicht künstlerisch geformt
sind. Die leeren Quintklänge am Beginn des ersten Satzes von Beethovens
Neunter Symphonie (1824) oder die scheinbar bewegungslose Wiederholung eines
Es-Dur-Dreiklangs am Beginn von Richard Wagners "Rheingold"
(1854) sind Beispiele dafür, wie Komponisten den Anschein erwecken wollten,
ihre Musik sei zunächst noch einer strukturierten Gestaltung der Zeit
enthoben.
Leitmotive und "minimal
music"
Dabei rechnet
solche Musik natürlich genau mit einem Hörer, der nun auch über größere
Strecken das zeitliche Nacheinander einer einstündigen Symphonie oder einer
mehrstündigen Oper durch konzentrierte Wahrnehmung zu einer intellektuellen
Synthese zu führen vermag. Wenn Beethoven in einer weniger bekannten
Klaviersonate (Es-Dur, opus 31 Nr. 3) die Musik gleichsam mit der
Überleitung zur Kadenz in einem Solokonzert-Satz beginnen lässt, wird mit
der Hörerwartung des zeitgenössischen Publikums gespielt, dem hier
musikspezifische intellektuelle Leistungen abgefordert werden, von denen ein
Vivaldi, Händel oder Bach noch nicht einmal geträumt hatten.

So
beginnt Beethovens Sonate in Es-Dur (opus 31 Nr . 3).
Aber auch
die Vorliebe für wiederkehrende Motive in abendfüllenden Opern gehört in
diesen Zusammenhang: Das erstmals in der Pariser Oper der 1780er
Jahre eingeführte Verfahren, präzisen dramatischen Situationen oder
einzelnen Bühnenfiguren musikalische Chiffren zuzuordnen, die dann in
ähnlichen Situationen oder beim erneuten Auftreten dieser Figuren von Neuem
erklingen, appelliert an das Vermögen eines Hörers, den zeitlichen Ablauf
einer Theatermusik nachschaffend zu analysieren – eine nur dem Musiktheater
zugängliche faszinierende Möglichkeit dramatischer Gestaltung.
Im
Zusammenhang mit Richard Wagners Musikdramen, die aus einem dichten Gewebe
solcher wiederkehrender Motive bestehen, wurde ein Fachausdruck geprägt, der
nicht nur im Deutschen längst auch in übertragener Bedeutung verwendet wird:
Leitmotiv. Zwar zieht musikhistorische Forschung für die Verwendung
wiederkehrender Melodien vor und neben Wagner – etwa in Webers
"Der Freischütz" (1821) oder
in Verdis "Don Carlos" (1867)
– heute den Begriff "Erinnerungsmotiv"
vor. Offensichtlich ist aber, dass Leit- wie Erinnerungsmotive mit einem
Hörer, einer Hörerin rechnen, die sich von der Zeitlichkeit der gehörten
Musik nicht, jedenfalls nicht primär zu selbstversunkener Meditation oder
emotionaler Extase bewegen lassen, sondern bereit sind, durch intellektuelle
Abstraktion die gehörten Klänge aufeinander zu beziehen und dabei ständig
neu zu ordnen.
Wie selbstverständlich uns dieses gerade 200 Jahre alte Verfahren geworden
ist, zeigt die Allgegenwart von "Erinnerungsmotiven"
in der modernen Mediengesellschaft – von subtileren Verwendungen in
Filmmusiken über Erkennungsmelodien in Rundfunk und Fernsehen bis hin zur
musikalischen Kulisse von Werbespots. Gleichzeitig zeigen die letzten
Jahrzehnte aber auch, dass das einer zielgerichteten Entwicklung
verpflichtete, auf die intellektuelle Leistung eines Komponisten bezogene
und insofern säkularisierte Hören längst in eine Krise geraten ist: Dafür
spricht nicht nur das wachsende Interesse an Musik außereuropäischer
Kulturen, die anderen Gestaltungsmustern folgt, sondern auch die
Verweigerung linearer Zeitlichkeit in avantgardistischer Kunstmusik (wie der
"minimal music") und die
Inszenierung unwandelbarer rhythmischer Muster in neuen Formen der
Pop-Musik. Mag sein, dass solche Musik direkter auf
die "Seele" und den Körper der
Zuhörer einwirkt als die komponierte Musik der europäischen Tradition, aber
so sehr hier auch andere Voraussetzungen wirksam sind: Auf das Ohr allein
lässt sich auch die Wahrnehmung dieser Musik nicht reduzieren.
Dieser Artikel ist zuerst erschienen in: "UniPress" (Universität Bern).
www.kommunikation.unibe.ch/publikationen/unipress.html
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