Über die Aurora

Aktuelle Ausgabe

Frühere Ausgaben

Suche

   Schwerpunkte    Theater     Kulturphilosophie     Belletristik      Literatur     Film     Forschung    Atelier     Musik  

......
Nicht fürs Ohr allein
...

Wahrnehmung von Musik im historischen Wandel

Hören – von Musik wie von Sprache – wird in unserem mechanistischen Weltbild allzu
voreilig auf das Ohr bezogen. Dabei ist die Wahrnehmung von Musik im Wesentlichen eine
– bisher kaum erforschte – Leistung des Intellekts. Beispiele aus der europäischen
Kunstmusik der letzten 200 Jahre können demonstrieren, wie sehr uns hoch
spezialisierte intellektuelle Leistungen als "natürlich“ erscheinen.

Von Anselm Gerhard
(01. 09. 2007)

...





Prof. Dr. Anselm Gerhard

anselm.gerhard [at]
musik.unibe.ch

geboren 1958 in Heidelberg,
studierte Musikwissenschaft,
Germanistik und Geschichte
in Frankfurt am Main, Berlin,
Parma und Paris. Nach Tätig-
keiten in Münster (Westfalen)
und Augsburg seit 1994 ordent-
licher Professor für Musikwis-
senschaft an der Universität
Bern. Gast-Professuren in Fri-
bourg, Genf, Pavia und an der
Ecole Normale Supérieure
Paris.

Homepage
www.musik.unibe.ch

 

 

Ernst Kurth
(1886–1946), Begründer
der Musikwissenschaft
an der Universität Bern.

 

 

 

Ob bei der Wahrnehmung
von Musik in den verschie-
densten Kulturen und
Epochen von anthropo-
logischen Konstanten
ausgegangen werden
kann, scheint weniger
sicher denn je.

 

 

 

 

 

 

 

 

Dass wir die ersten beiden
Takte von Beethovens
Fünfter Symphonie nicht
mehr ohne den Gedanken
an die Fortsetzung in c-moll
hören können, zeigt, in
welchem Maße das Hören
von historischen Erfah-
rungen konditioniert ist.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Man stelle sich einmal vor,
der Besucher des Pariser
Louvre sähe zunächst nur
das linke Auge, dann nur
das rechte, dann nur die
zugehörigen Augenbrauen,
nur die Nase, nur den Mund,
nur das Haar, den leeren
Bildhintergrund, und ginge
begeistert vom Eindruck der
"Mona Lisa" in den
nächsten Saal ...

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Seit dem 18. Jahrhundert
hat sich die Tonkunst immer
mehr aus funktionellen Zu-
sammenhängen wie fürst-
licher Repräsentation oder
kirchlicher Liturgie gelöst
und ästhetische Autonomie
eingefordert.

 

 

 

 

 

 

 

Um und nach 1800
beginnen Kompositionen
nicht mehr mit einem leicht
zu begreifenden, forte
gespielten und melodisch
unmissverständlichen Thema,
sondern gleichsam auf der
Suche nach einem
solchen Thema.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das erstmals in der Pariser
Oper der 1780er Jahre
eingeführte Verfahren,
präzisen dramatischen
Situationen oder einzelnen
Bühnenfiguren musikalische
Chiffren zuzuordnen, die
dann in ähnlichen Situa-
tionen oder beim erneuten
Auftreten dieser Figuren
von Neuem erklingen,
appelliert an das Vermögen
eines Hörers, den zeitlichen
Ablauf einer Theatermusik
nachschaffend zu
analysieren.

 

 

 

 

 

 

 

 

Offensichtlich ist, dass Leit-
wie Erinnerungsmotive mit
einem Hörer, einer Hörerin
rechnen, die sich von der
Zeitlichkeit der gehörten
Musik nicht, jedenfalls nicht
primär zu selbstversunkener
Meditation oder emotionaler
Extase bewegen lassen,
sondern bereit sind, durch
intellektuelle Abstraktion
die gehörten Klänge auf-
einander zu beziehen und
dabei ständig neu
zu ordnen.

 

   Das Ohr unterscheidet sich auf erhebliche Weise von anderen Sinnesorganen. Im Gegensatz zum Auge können wir es nicht schließen, im Gegensatz zur Nase können wir seine Wahrnehmungsintensität nur in sehr geringem Maße steuern. Embryologische Forschungen zeigen, dass das dem Willen nicht zugängliche Hören zu den frühesten Erfahrungen des menschlichen Lebens im – wahrscheinlich unvorstellbar lärmigen – Mutterleib gehört.

Hören lässt sich aber nicht umstandslos auf das Ohr beschränken. Wer etwa bei populären Fasnachtsritualen nur einen Schlag auf die große Trommel gehört hat, weiß darum, wie Schall zur überwältigenden elementaren körperlichen Erfahrung werden kann. Der menschliche Körper ist gewollt und ungewollt Resonanzkörper von Schallereignissen, was sich Sänger mit großer Virtuosität zu Nutze machen. Gleichzeitig zeigt das Singen aber auch, dass der Mensch selbst ohne jedes weitere Hilfsmittel Töne produzieren kann. Das ist alles andere als banal, denkt man daran, dass die Produktion von Farben nur auf dem Umweg über Hilfsmittel möglich ist.

"Jenes innere Universum"

   Physiologische und psychologische Forschung hat in ständig wachsender Präzision versucht, die Mechanik des Hörens zu entschlüsseln. Was jenseits der Übertragung von Schallereignissen mit dem Menschen geschieht, ist einem psychoakustischen Ansatz freilich nicht zugänglich. "Nirgends in der äußeren Welt ist [...] etwas von jenem innern Universum nachweisbar, in das wir das tönende Universum aufbereiten." Das komplizierte "Spiegelverhältnis" zwischen tönender Außenwelt und innerer Wahrnehmung "täuscht im Grunde auf höchst seltsame Weise über die äußeren Geschehnisse (die akustischen Schwingungen usw.), die völlig verlarvt in unser Inneres dringen".

Der Gedanke, den Ernst Kurth in seiner "Musikpsychologie" von 1931 niedergeschrieben hat, blieb für die weitere wissenschaftliche Diskussion praktisch folgenlos.

Die Bücher des Gründers des Berner Instituts für Musikwissenschaft wurden 1933 aus den Bibliotheken Deutschlands verbannt, das damals fast alleine die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Musik bestimmte, nach 1945 schien der ambitionierte Versuch einer ganzheitlichen Tonpsychologie wenig zeitgemäß. Die zu eigenen disziplinären Ehren erhobene Psychologie konzentrierte sich auf quantifizierbare Strukturen der Wahrnehmung, die Musikwissenschaft sah in einer Rückkehr zum Historismus den sichersten Schutz vor jeglicher Anfechtung durch ideologische Beeinflussungen.

Zwar werden Ernst Kurths Thesen in den letzten Jahren wieder stärker diskutiert. Ob das Interesse an diesem führenden Fachvertreter aus der Gründerzeit der universitären Musikwissenschaft die Forschung über wissenschaftshistorische Aspekte hinaus beeinflussen kann, ist aber derzeit nicht absehbar. So bleibt als desillusioniertes Fazit, dass eine primär historisch orientierte Musikwissenschaft heute wenig mehr sagen kann, als dass das Hören jenseits der Psychoakustik in hohem Maß kulturell geprägt und ent-sprechenden Wandlungen ausgesetzt ist.

Es-Dur oder c-moll?

   Der vom Historismus geprägte Blick auf das Hören mag unangemessen eng sein: Ob bei der Wahrnehmung von Musik in den verschiedensten Kulturen und Epochen von anthropologischen Konstanten ausgegangen werden kann, scheint weniger sicher denn je. In der begrenzten Anwendung auf die Musik unserer eigenen Kultur vermag historische Forschung aber durchaus zu bedenkenswerten Resultaten gelangen, insbesondere wenn man sie mit einer rezeptionsästhetischen Fragestellung verknüpft, also nach der Wechselwirkung zwischen dem Kunstwerk einerseits und dem Erwartungshorizont sowie der Aufnahmefähigkeit der Zuhörer andererseits fragt. Für die unvorbereiteten Hörer von 1808 musste das berühmte "Schicksals-Motiv" am Beginn  zwanglos als Terz und Grundton eines Es-Dur-Dreiklangs gehört werden. Eine Symphonie stand in aller Regel in Dur und der Beginn ließ eine weitere Brechung dieses Dur-Dreiklangs in plakativen Fanfaren erwarten. Dass wir diese ersten beiden Takte nicht mehr ohne den Gedanken an die Fortsetzung in c-moll hören können, zeigt, in welchem Maße das Hören von historischen Erfahrungen konditioniert ist. Und doch ist der – von vornherein zum Scheitern verurteilte – Versuch, das "Schicksals-Motiv" zunächst in Es-Dur zu hören, um sich dann von der Wendung nach c-moll überraschen zu lassen, für uns die einzige Chance, dem provokativen Charakter von Beethovens kompositorischer Idee gerecht zu werden.


Die Anfangstakte aus Beethovens Fünfter Symphonie
mit dem berühmten "Schicksals-Motiv“.


Der berühmte Beginn von Beethovens Fünfter beleuchtet aber auch eine weitere Besonderheit, die das Hören so kompliziert macht. Wir hören den Beginn ja nicht nur deswegen in c-moll, weil wir die erfolgreiche Symphonie schon so oft gehört haben. Nein, wir setzen beim Hören von Sprache oder Musik immer erst im Nachhinein die flüchtigen Schallereignisse zu einer Struktur zusammen, und ordnen das spontane Hören der ersten Takte spätestens dann neu, wenn wir den siebenten Takt mit seinem c-moll-Dreiklang gehört haben. Wie ungewöhnlich diese Differenz zwischen akustischer Wahrnehmung des Ohrs und synthetischer Leistung des Gehirns ist, zeigt sich wieder beim Vergleich mit dem Sehen: Man stelle sich einmal vor, der Besucher des Pariser Louvre sähe zunächst nur das linke Auge, dann nur das rechte, dann nur die zugehörigen Augenbrauen, nur die Nase, nur den Mund, nur das Haar, den leeren Bildhintergrund, und ginge begeistert vom Eindruck der "Mona Lisa" in den nächsten Saal ...

Hören im emphatischen Sinn, wirklich aufmerksames Hören mit höchster Konzentrationsbereitschaft also, ist – in den Worten von Hugo Riemann, einem Zeitgenossen Ernst Kurths, – eben weit mehr als nur Wahrnehmung durch das Ohr, es ist "aktives Auffassen von Tonfolgen und Zusammenklängen, ein logisches Verknüpfen von Tonvorstellungen".

Musik als Zeitkunst

   Dabei geht es freilich in weit stärkerem Maße als in jeder anderen Kunst um Zeit, alles in Musik ist vergänglich, und die Entscheidung unserer Schriftlichkeitskultur, Musik auch jenseits des einmaligen Klangereignisses verfügbar zu machen, ist nur um den Preis einer extremen Abstraktion möglich: Darüber, ob und inwieweit die Partitur von Beethovens Fünfter Symphonie ein musikalisches Werk ist, ließe sich lange streiten, und es ist offensichtlich, dass dieses schriftliche Substrat nicht erlaubt, die Musik 200 Jahre später in einer Weise hörbar zu machen, die auch nur annähernd dem entspricht, was zu Beethovens Lebzeiten erklungen war.

Diese Verschriftlichung von flüchtigen Klangereignissen zeigt aber auch, welcher Stellenwert Musik in unserer von der "Aufklärung" geprägten Kultur zukommt. Seit dem 18. Jahrhundert hat sich die Tonkunst immer mehr aus funktionellen Zusammenhängen wie fürstlicher Repräsentation oder kirchlicher Liturgie gelöst und ästhetische Autonomie eingefordert: Die gedruckte, gleichsam die Essenz des Kunstwerks repräsentierende Partitur wirkt wie ein Symbol für diese endgültige Emanzipation aus selbstverständlichen Bedingungen einer ständisch geordneten Gesellschaft.

Solcherart verstandene autonome Musik – deren Vorgeschichte natürlich schon weit früher, spätestens im 15. Jahrhundert beginnt –, gestaltet die Abhängigkeit von Zeit in revolutionär neuer Weise. Ist nicht mehr das Ritual oder der repräsentative Anlass bestimmend für die Disposition musikalischer Abläufe, kann die Zeitlichkeit von Musik selbst zum Objekt künstlerischer Gestaltung gemacht werden.

   Es fällt auf, wie oft um und nach 1800, also genau in der Epoche, in der sich die ästhetische Leitidee einer autonomen Instrumentalmusik als neues Paradigma durchsetzte, musikalischen Kompositionen eine Einleitung vorangestellt wird. Kompositionen beginnen nicht mehr mit einem leicht zu begreifenden, forte gespielten und melodisch unmissverständlichen Thema, sondern gleichsam auf der Suche nach einem solchen Thema: Um 1820 kann kein Variationenzyklus ohne eine aufwendige "Introduction", kaum eine Symphonie mehr ohne langsame Einleitung vor dem schnellen Eröffnungssatz bestehen. Und immer häufiger inszenieren Komponisten diese Suche nach musikalischer Substanz, indem sie solche Einleitungen als amorphe Folge von Klängen gestalten, die scheinbar noch nicht künstlerisch geformt sind. Die leeren Quintklänge am Beginn des ersten Satzes von Beethovens Neunter Symphonie (1824) oder die scheinbar bewegungslose Wiederholung eines Es-Dur-Dreiklangs am Beginn von Richard Wagners "Rheingold" (1854) sind Beispiele dafür, wie Komponisten den Anschein erwecken wollten, ihre Musik sei zunächst noch einer strukturierten Gestaltung der Zeit enthoben.

Leitmotive und "minimal music"

   Dabei rechnet solche Musik natürlich genau mit einem Hörer, der nun auch über größere Strecken das zeitliche Nacheinander einer einstündigen Symphonie oder einer mehrstündigen Oper durch konzentrierte Wahrnehmung zu einer intellektuellen Synthese zu führen vermag. Wenn Beethoven in einer weniger bekannten Klaviersonate (Es-Dur, opus 31 Nr. 3) die Musik gleichsam mit der Überleitung zur Kadenz in einem Solokonzert-Satz beginnen lässt, wird mit der Hörerwartung des zeitgenössischen Publikums gespielt, dem hier musikspezifische intellektuelle Leistungen abgefordert werden, von denen ein Vivaldi, Händel oder Bach noch nicht einmal geträumt hatten.
 

So beginnt Beethovens Sonate in Es-Dur (opus 31 Nr . 3).
 

Aber auch die Vorliebe für wiederkehrende Motive in abendfüllenden Opern gehört in diesen Zusammenhang: Das erstmals in der Pariser Oper der 1780er Jahre eingeführte Verfahren, präzisen dramatischen Situationen oder einzelnen Bühnenfiguren musikalische Chiffren zuzuordnen, die dann in ähnlichen Situationen oder beim erneuten Auftreten dieser Figuren von Neuem erklingen, appelliert an das Vermögen eines Hörers, den zeitlichen Ablauf einer Theatermusik nachschaffend zu analysieren – eine nur dem Musiktheater zugängliche faszinierende Möglichkeit dramatischer Gestaltung.

   Im Zusammenhang mit Richard Wagners Musikdramen, die aus einem dichten Gewebe solcher wiederkehrender Motive bestehen, wurde ein Fachausdruck geprägt, der nicht nur im Deutschen längst auch in übertragener Bedeutung verwendet wird: Leitmotiv. Zwar zieht musikhistorische Forschung für die Verwendung wiederkehrender Melodien vor und neben Wagner – etwa in Webers "Der Freischütz" (1821) oder in Verdis "Don Carlos" (1867) – heute den Begriff "Erinnerungsmotiv" vor. Offensichtlich ist aber, dass Leit- wie Erinnerungsmotive mit einem Hörer, einer Hörerin rechnen, die sich von der Zeitlichkeit der gehörten Musik nicht, jedenfalls nicht primär zu selbstversunkener Meditation oder emotionaler Extase bewegen lassen, sondern bereit sind, durch intellektuelle Abstraktion die gehörten Klänge aufeinander zu beziehen und dabei ständig neu zu ordnen.

Wie selbstverständlich uns dieses gerade 200 Jahre alte Verfahren geworden ist, zeigt die Allgegenwart von "Erinnerungsmotiven" in der modernen Mediengesellschaft – von subtileren Verwendungen in Filmmusiken über Erkennungsmelodien in Rundfunk und Fernsehen bis hin zur musikalischen Kulisse von Werbespots. Gleichzeitig zeigen die letzten Jahrzehnte aber auch, dass das einer zielgerichteten Entwicklung verpflichtete, auf die intellektuelle Leistung eines Komponisten bezogene und insofern säkularisierte Hören längst in eine Krise geraten ist: Dafür spricht nicht nur das wachsende Interesse an Musik außereuropäischer Kulturen, die anderen Gestaltungsmustern folgt, sondern auch die Verweigerung linearer Zeitlichkeit in avantgardistischer Kunstmusik (wie der "minimal music") und die Inszenierung unwandelbarer rhythmischer Muster in neuen Formen der Pop-Musik. Mag sein, dass solche Musik direkter auf die "Seele" und den Körper der Zuhörer einwirkt als die komponierte Musik der europäischen Tradition, aber so sehr hier auch andere Voraussetzungen wirksam sind: Auf das Ohr allein lässt sich auch die Wahrnehmung dieser Musik nicht reduzieren.
 

Dieser Artikel ist zuerst erschienen in: "UniPress" (Universität Bern).
www.kommunikation.unibe.ch/publikationen/unipress.html

Ausdrucken?


Zurück zur Übersicht