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Moribunde Synästhesien
...

Sinnlichkeit und Sinnverwirrung im Liebestod Tristans und Isoldes

Es ist ein altes Klischee, dass Liebe und Tod, Eros und Thanatos wesensverwandt seien.
Die Wahrheit ist, dass sie von der Poesie zusammengedacht und -gereimt werden.
Um synästhetische Exzesse geht es in beiden Fällen.

Von Manfred Kern
(01. 09. 2007)

...



Dr. Manfred Kern
manfred.kern [at] sbg.ac.at

geboren 1968, ist
Universitäts-
dozent
am Fachbereich
Germanistik der Universität
Salzburg (Teilfach Ältere deutsche Sprache und
Literatur).


 


Literaturhinweis

Zweisprachige Ausgaben des Tristanromans Gottfrieds von
Straßburg sind im Reclam-Ver-
lag (3 Bde., € 34,30; Über-
setzung von Rüdiger Krohn)
und im Verlag de Gruyter (2
Bde., € 46,30; Übersetzung von
Peter Knecht) erhältlich. Die
Übersetzung von Peter Knecht
kann auch als Einzelband bezo-
gen werden (€ 27,80), ferner
bietet der Fischer Verlag die (etwas gezierte) Versüber-
setzung von Dieter Kühn an (€
25,60). Eine Hörbuch-Edition (9
CDs, € 115,-; gelesen von Peter
Wapnewski) liegt im DHV
(Der HörVerlag) vor.

 


Gottfried von Straßburg.
Tristan.
Gruyter, 2004. 2 Bde. 690 S.
ISBN:
3110180456

 

 

Der Tristan des
Gottfried von Straßburg.
Audiobook. 9 CDs.
Der HÖR Verlag DHV, 1998.
ISBN:
3895845612



 

Wolfgang Malischeswski.
Tristan und Isolde - Wer
weiß schon, was Liebe ist.
Frankfurter Literaturverlag,
2007, 124 S.
ISBN: 3865488943

 

 

 

 

 

 

 

 

In dem einen großen Tod
spiegeln sich die vielen
kleinen Tode, die Tristan
und Isolde schon gestor-
ben sind.

 

 

 

 

 

 

Es ist der weibliche Körper,
der die Beweislast des
Liebestodes zu tragen hat.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

"Und wenn man ein Bild-
werk aus Erz oder Gold
gießen wollte, es ließe
sich nicht besser fügen"

 

 

 

 

 

 

 

Der Tod ist im Tristanroman
der ständige Begleiter
der Liebe.

 

 

 

 

 

 

In dieser Liebe manifestiert
sich die Fülle der Existenz
und deshalb kostet sie
das Leben.

 

 

 

 

 

 

 

Der theologischen Auffas-
sung nach sind die Sinne
Instrumente des Trugs und
der Sünde und im Tode
werden sie ihrer Hinfälligkeit
und Wertlosigkeit überführt.

 

 

 

 

 

 

 

Wenn wir lesen, betasten
und riechen wir das Buch,
wir sehen die Zeichen und
hören die Worte. Sie zer-
gehen uns bittersüß auf
der Zunge.

   Denkt man den Tod auf das Phänomen der Synästhesie hin, so kann dies nur im Modus eines tragischen Zynismus geschehen: Der Tod beschreibt in zweierlei Hinsicht einen finalen synästhetischen Exzess. Er ereignet sich als Kollaps der Sinne und als Kollaps der Vorstellungen. Er lässt sich nicht erfahren, sondern nur imaginieren. Gerade deshalb ist er aber ein liebstes Kind der Poesie. Gegen das Unsagbare schlechthin, gegen die absolute Leere des Todes setzt sie die Fülle des poetischen Geschwätzes; auf den Kollaps der Sinne und des Sinns, auf die Bitternis der absoluten Frage antwortet sie mit einem süßen Strudel von Metaphern, mit wirren wie wilden Beschwörungen des Sinnlichen und mit radikalen Verschiebungen von Sinnebenen. Mit ihren lügnerischen Simulationen bändigt sie den einen, wahren Tod. Terror wird Spiel, um eine Formel von Hans Blumenberg abzuwandeln.

Im Folgenden soll von der poetischsten Todesart die Rede sein – vom Liebestod. Und es soll einem der wichtigsten und viel zu selten gelesenen Romane der mittelalterlichen Literatur das Wort gegeben werden, dem Tristanroman Gottfrieds von Straßburg, der um 1210 entstanden ist. Es handelt sich nicht um die erste, wohl aber um die bedeutendste Bearbeitung des Sujets. Der Roman ist allerdings Fragment geblieben und bricht an einer entscheidenden Stelle ab: Tristan und Isolde sind von König Marke von Cornwall, Isoldes Ehemann und Tristans Onkel, beim Ehebruch ertappt worden. Tristan flieht nach Arundel, lernt dort eine zweite Isolde, Isolde Weißhand, kennen und gerät in einen Zweispalt. Soll er seine "echte" Isolde, Isolde die Blonde, mit der er den Liebestrank getrunken hat, verraten und diese neue Isolde zur Frau nehmen? Genau hier endet Gottfrieds Text. Die weitere Geschichte, Tristans Heirat mit Isolde Weißhand, seine andauernde Liebe zur blonden Isolde, seine Fahrten zurück zu ihr nach Cornwall, die neuen Ränkespiele der Ehebrecher – von all dem berichtet erst die Fortsetzung von Gottfrieds Roman durch Heinrich von Freiberg aus den Jahren um 1280. Und hier erst gehen die beiden Liebenden in den Liebestod.

   Was ist geschehen? Tristan ist im Kampf von einem vergifteten Speer verwundet worden. Nur die blonde Isolde kann ihn heilen. Man schickt deshalb ein Schiff nach Cornwall. Es soll weiße Segel setzen, wenn es mit Isolde zurückkehrt, im anderen Fall aber schwarze. Isolde zögert natürlich keine Sekunde und begibt sich sofort nach Arundel. Ausschau nach dem Schiff hält pikanterweise Tristans Frau, die andere Isolde, Isolde Weißhand. Und was macht sie, als sie das Schiff sieht? Sie lügt! Sie meldet dem todkranken Tristan, es habe schwarze Segel gesetzt. Tristan stirbt augenblicklich und wird im Münster aufgebahrt. Als die blonde Isolde erfährt, dass sie zu spät gekommen sei, tritt sie leichenblass und mit versteinertem Herzen an die Bahre:

"Da nahm sie das Leichentuch von seinem Antlitz und blickte ihn an, tot wie er war, und fiel auf ihn und drückte im selben Moment ihren Mund auf seinen Mund, ihre Wange an seine Wange, und ihre blanken, zarten Arme umfingen den Toten. Die Schläge des Todes trafen hart auf ihr Herz; sein Tod fügte ihr tödliche Schmerzen zu, weil auch er den Tod, die Not des Todes, ihretwegen erlitten hatte; der Tod brach ihr Herz entzwei. Weder Ach noch Weh, weder Weh noch Ach sprach die Königin. Tot lag sie auf dem Toten. Der liebestoten Frau begann im Sterben das Herz krachend zu brechen, gerade so als ob tausend Späne im Feuer knistern. So lagen die Liebenden tot darnieder: Isolde, die Königin, sie starb in seiner Liebe, Tristans, da auch er zugrunde gegangen und in ihrer glühenden Liebe gestorben war. Er starb ihretwegen und sie seinetwegen."

Meine Prosaübersetzung der mittelhochdeutschen Reimpaarverse kann natürlich nur einen ungefähren Eindruck davon geben, was hier sprachlich und poetisch abläuft. Dass es sich um einen synästhetischen Tod, um einen Tod handelt, der alle Sinne bedient, mag aber deutlich werden. Dies gilt zunächst auf der rhetorisch-ästhetischen Ebene: Der Text operiert mit sprachlichen Parallelismen, mit Wiederholungen und Variationen, die eine eindringliche Atmosphäre des Klangsinns und des Sinnklangs, der Wortkörper und der Bedeutungen, erzeugen. Und vor dem inneren Auge der Lesenden gerinnt die Szene zu einem schönen Bild, das leicht zu malen wäre, wie schon die mittelalterlichen Darstellungen zeigen (Abb. 1):
 

Abb. 1: Tristan und Isoldes Liebestod. Miniatur aus einer im
15. Jahrhundert entstandenen Handschrift der französischen Prosa-
fassung des Tristanstoffes ("Tristan de Léonois", um 1250).


   In der Erzählung selbst vereinigen, verdichten und vermengen sich alle Sinne zu einer sensuellen Totale: Isolde enthüllt und betrachtet Tristans Gesicht, sie umarmt ihn und legt ihre an seine Wange, über der Leiche liegt der süße Geruch des Balsams. Isolde küsst Tristan auf den Mund und spürt den Geschmack des Todes. Und dieser Tod bricht ihr nicht nur hörbar das Herz, sondern entfacht in ihr das letale Feuer der Liebe. Isolde stirbt einen heißen, keinen kalten Tod. Die hohen Temperaturen dieses Todes aber verweisen auf seine erotische Dimension. In dem einen großen Tod spiegeln sich die vielen kleinen Tode, die Tristan und Isolde schon gestorben sind. In ihm spiegeln sich Liebe und Leben, in ihm finden Liebe und Leben gerade kein Ende, sondern ihren Höhepunkt.

Ins schwülstige Bild ist dies von Rogelio de Egusquiza (1845-1915) gebracht worden (Abb. 2). Eine entblößte Isolde wird hier dem (männlichen) Blick als Augenschmaus serviert, angerichtet auf Tristans Leiche als dem Tablett. Damit wird zur Kenntlichkeit gebracht, was schon für den mittelalterlichen Roman gilt: Es ist der weibliche Körper, der die Beweislast des Liebestodes zu tragen hat. Denn strenggenommen stirbt nur die kerngesunde Isolde diesen physiologisch unmöglichen Tod und nicht der ohnehin sterbenskranke Tristan. Die große Idee verrät sich damit zugleich als männliche Sinnstiftung, die die Geschlechtersymmetrie, die der Roman annähernd herzustellen weiß, wieder zum Kippen bringt.


Abb. 2: Rogelio de Egusquiza (1845-1915): Tristan und Isolde


  
T
rotz dieser "Gender troubles" bleibt die Umkehrung – die Spiegelung des Lebens im Tode – bemerkenswert und sie ist keineswegs bloß in einem sekundären, interpretativen Sinn gegeben. Kunst und Literatur des Mittelalters denken und gestalten nämlich ganz dezidiert in Entsprechungen, und um eine bewusst hergestellte, strategische Entsprechung handelt es sich auch hier: Die Szene vom Liebestod bei Heinrich von Freiberg ist hinkomponiert auf die erwähnte letzte Liebesbegegnung im Tristanroman Gottfrieds von Straßburg, vor Tristans Abschied von Cornwall. Dort liegen die Liebenden im Baumgarten der königlichen Burg, schlafend nach dem Liebesakt. Die sinnliche Dichte der Szene manifestiert sich in der engen Umarmung, im Verschlungensein der Körper. "Und wenn man ein Bildwerk aus Erz oder Gold gießen wollte, es ließe sich nicht besser fügen", so lautet der Kommentar des Erzählers. Es sind im Wesentlichen zwei Sinne, die in diesem Vergleich kollidieren und verschoben werden: Tastsinn und Gesichtssinn. Die körperliche Berührung der Liebenden gerät zum anrührenden Bild, der Ehebruch wird zum Kunstwerk. Der Vergleich ermöglicht die visuelle Beteiligung von Dritten am körperlichen Vollzug. Im Text selbst ist der erste Betrachter sinnigerweise der betrogene Ehemann, König Marke. Auf der Ebene der Rezeption aber sind diese Dritten die, die die Geschichte lesen.

Der Vergleich des Liebesaktes mit dem schönen Kunstwerk bedeutet zudem ein Stillstellen der Handlung, ein Einfrieren der Szene. Insofern verweist nicht nur der Liebestod bei Heinrich von Freiberg zurück auf die letzte Liebesszene bei Gottfried von Straßburg, sondern lässt sich diese Liebesszene als eine Vorwegnahme der letzten, letalen Vereinigung lesen.

   Der Tod ist im Tristanroman der ständige Begleiter der Liebe. Die synästhetische Totalität der Liebeserfahrung färbt dabei auf den Tod ab, sie macht den Tod zum Ereignis einer sensuellen Konfusion. Synästhesie, Verwirrung der Sinne und Todesnähe kennzeichnen folgerichtig auch den Beginn dieser Liebe. Als Tristan und Isolde den Liebestrank trinken, verfangen sich die Blicke der beiden, verwunden sich die Herzen, verschränken sich die Worte zu einem Liebesgeständnis, dessen Klangsinn in Geruch und Geschmack des ersten Kusses übergeht. Schon hier stellt der Text klar, dass es sich um eine Sinnverwirrung zum Tode hin, um eine moribunde Synästhesie handelt. Denn diese Liebe ist illegitim, sie ist eine Ehebruchsliebe, sie steht gegen das Gesetz.

Der fortwährende Verweis auf den Tod sichert zum einen die Ernsthaftigkeit des Textes, der mit seinen Szenen von Trug und Intrige hart am Komischen entlang gedichtet ist. Die Todesbedrohung verweist aber auch auf den hohen Einsatz, den Tristan und Isolde leisten. In dieser Liebe manifestiert sich die Fülle der Existenz und deshalb kostet sie das Leben.

   Es ist ein altes Klischee, dass Liebe und Tod, Eros und Thanatos wesensverwandt seien. Die Wahrheit ist, dass sie von der Poesie zusammengedacht und -gereimt werden. Um synästhetische Exzesse geht es in beiden Fällen, dies mag ein wesentlicher Konvergenzpunkt sein. Freilich handelt es sich um eine Konvergenz der Gegensätze, um eine paradoxe Symmetrie: hier die absolute Positivität der Synästhesie, dort ihre absolute Negativität. Im Tristanroman weiß nun nicht der Tod die Liebe, sondern die Liebe den Tod zu löschen. Nicht ist Eros eine Maske des Thanatos, sondern umgekehrt. Der Tod verweist zurück auf Leben und Liebe. Und unter dieser Perspektive entpuppt sich Richard Wagners Tristan als ein fundamentales Missverständnis.

Über die Einmaligkeit des großen Todes triumphiert die Vielmaligkeit der kleinen Tode, die Tristan und Isolde im Roman durchleben. Ihr Liebestod ist nicht die Vernichtung, sondern eine paradoxe Apotheose der Sinne und des Sinns. Diese Verschiebung ist gerade in Anbetracht der mittelalterlichen Jenseitsfixierung prekär. Denn der theologischen Auffassung nach sind die Sinne Instrumente des Trugs und der Sünde und im Tode werden sie ihrer Hinfälligkeit und Wertlosigkeit überführt. Der Tristanroman behauptet dagegen vor der Zeit die Würde diesseitiger Sinnlichkeit. Dem Absolutismus der Transzendenz und der apokalyptischen Drohung hält er ein genuin literarisches wie sinnliches Prinzip entgegen: das Prinzip der Wiederholung.

   Dieses Prinzip der Wiederholung manifestiert sich nicht zuletzt im Akt des Lesens, in der Lektüre, die das eine singuläre Leben fortwährend neu erfahrbar macht, die es in einer unendlichen Schleife verfügbar hält. In der Vorrede von Gottfrieds Tristanroman erklärt uns die Erzählerstimme, dass der Liebestod Tristans und Isoldes für die Lesenden das lebende Brot sei. In der Lektüre leben und sterben die großen Liebenden immer wieder, in der Lektüre wird ihr Tod zur Feier des Lebens, in der Lektüre erweist sich die moribunde Synästhesie als Lebens- und Leseelixier. Der erzählte Tod ist das lebende Brot der Lesenden. Wenn wir lesen, betasten und riechen wir das Buch, wir sehen die Zeichen und hören die Worte. Sie zergehen uns bittersüß auf der Zunge. Auch dies ein synästhetischer Exzess.

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