"Ich weiß von
einem jungen Mann, der die Hauptwerke der
Weltliteratur deswegen so gut kennt, weil sein kluger Vater
sie in einem Schrank einsperrte, zu dem ihm der Zugang
verwehrt war." (Vittorio Giovanni Hösle).
"Lesen bildet"
(Volksweisheit), "Lesen ist Abenteuer
im Kopf" (Slogan des ORF), "Lesen meint: man muss zuerst
einmal bequem sitzen." (Verlagswerbung Wagenbach)
"Buch.Zeit"
gibt es seit rund 15 Jahren. So lange ist es her, dass die Sorge um die
Lesekultur von Kindern und Jugendlichen ambitionierte Pädagogen in die
Gründung des Vereins getrieben hat. Unterstützt werden nicht nur
Volksschulen sondern auch Kindergärten, denn, so Dipl.Päd. Hermann Pitzer
von Buch.Zeit: "Die Entscheidung zwischen einem gutem und einem schlechten
Leser fällt bereits lange vor dem Eintritt in die Schule. Sprachkompetenz
wird schon im Alter von 10 Monaten gelegt, die Ausbildung der zumindest
grundlegenden grammatikalischen Strukturen ist bereits bei einem
Zweieinhalbjährigen abgeschlossen." Das heißt, Schulen müssen mit jenem
Vermögen jonglieren, das Eltern und Großeltern für sie aufbereitet haben.
Und diese Vermögensbildung passiert über das Vor-Bild lesender Eltern und
die Vertrautheit des Beieinandersitzens beim Vorgelesen-Bekommen.
Nach jahrzehntelangem
Bemühen um gleichgeschlechtliche Erziehung, in der Buben auch mit Puppen
spielen sollten und Mädchen mit Autos, hat die Pädagogik neuerdings wieder
akzeptiert: Buben denken anders als Mädchen. Mädchen lesen Geschichten,
Buben Informationen. Dieser pädagogischen Kapitulation im Sinne der
68er-Bewegung trägt man heute wieder insofern Rechnung, als neben
Belletristik Kindern wieder vermehrt Sach- und Fachbücher angeboten werden.
Um aus Bibliotheken, den "Paradiesen des Lesens" keine bloßen "Supermärkte
des Lesens" zu machen, versucht Buch.Zeit die Angebote an die Kinder
gut zu sortieren. Pitzer: "Gute Sortierung lässt eine Differenzierung des
Lesers zu".
Das
alles sind Bemühungen, die am Grundsätzlichen bestenfalls rühren und nicht
rütteln können: wenn jemand partout nicht lesen will, ist es kaum möglich,
ihn dafür zu begeistern. Auch Fragen jenseits elementarer Ansprüche wie: Wie
kommt man über die Befriedigung kindlicher Neugier an Information zur
reinen, ästhetischen Leselust, hat im Alltagsbetrieb der Schule, die ohnehin
permanent damit kämpft, dass der an sich individuelle Prozess des Lernens im
Kollektiv stattfinden muss, kaum Platz.
Der Verein trägt viele
gute Ideen in die Schulen. So schickt man etwa Volksschüler zum Vorlesen in
Kindergärten. Andere Ideen funktionieren wie Maßnahmen, um auf Strömungen
und dem Zeitgeist entsprechend zu reagieren: Das Anbieten von Themenlexika
etwa, der die viel zitierte, um sich greifende Reizüberflutung eine
pädagogisch sinnvolle Form der Lesemotivation gegenüberstellen soll.
Vielleicht ist ja gerade das lexikalische Lesen der kürzeste Weg zum reinen
Lustlesen. Das Lesen von Schlagwörtern führt zum Lesen von Definitionen, die
wiederum selbst aus Wörtern bestehen, aus denen sich weitere Schlagwörter
ergeben, und dies bis ins Unendliche. Das macht ein Lexikon zu einem
paradoxen, schwindelerregenden Zustand, der gleichzeitig strukturiert und
unbestimmt ist. In dieser alphabetischen Ordnung ohne Zentrum sollte es sich
endlos lang lesen lassen.
Von
der Endlosigkeit zurück zum Startpunkt: 200 Wörter/min muss man lesen
können, unter diesem Wert ist’s nicht lustig. Es gibt Trainingsmethoden, die
talentierte Leser sogar auf beachtliche 1000 Wörter/min treiben. Diese
Zahlen helfen der Pädagogik und ihrer Klientel beim angestrebten Ziel
– die
Lesekompetenz zur Sprachkompetenz zu entwickeln, also dem Verstehen von
Sinn, nur bedingt auf die Sprünge. Es gibt in der westlichen Kultur zwar
kaum mehr Menschen, die nicht lesen können. Allerdings zählen Untersuchungen
in Amerika 12 Prozent sekundäre Analphabeten, in Österreich immerhin 3-4
Prozent, Tendenz steigend, so Pitzer.
Mit solchen Daten sehen
sich Staaten auch in ihrer wirtschaftlichen Kompetenz bedroht, siehe die
jedes dritte Jahr ausbrechende Hysterie um die Ergebnisse der Pisa-Studie.
Ein Arbeiter, der die Betriebsanleitung der Maschine, die er bedient, nicht
sinnerfassend lesen kann, ist ein potenzieller Schwachpunkt im
Wirtschaftsgefüge.
Hermann
Pitzer konstatiert: "Das Lesen hat sich mit dem Computer verändert." Das
Lesen im Internet kann sich zum lexikalischen Lesen hochschaukeln, muss aber
nicht. Gerade bei jungen Lesern versandet es oft im Patchwork, bleibt
fragmentarisch und ohne inhaltliche Konsistenz. Darum ist das Buch auch nach
wie vor erstes pädagogisches Mittel beim Lesenlernen: "Das Lesen im Internet
verlangt eine von vornherein höhere Lesekompetenz, weil es ein
hypertextgeleitetes Lesen ist. Ohne Fähigkeit zum Sinnverständnis wird man
am Problem des Stichwortfindens scheitern und Google, Wikipedia usw. spuckt
alles auf einmal aus und am Ende gar nichts."
"Der springende Punkt",
meint Pitzer, "ist die Assoziation, also die sprachliche Vorstellung, die in
eine bildliche umgewandelt wird. Diese Transkription funktioniert nicht ohne
Erfahrung. Buch.Zeit schließt alle Möglichkeiten und somit alle Medien in
seine Überlegungen mit ein. Trotzdem und gerade deshalb bleibt die
althergebrachte Kritik am Fernsehen bestehen. Was über die letzten
Jahrzehnte konsequent abgebaut wurde, ist Erfahrung. Es ist ein maßgeblicher
Unterschied, ob ein Kind eine Katze nur über den Fernseher kennt oder die
Möglichkeit hat, eine Katze zu streicheln. Die Technisierung der
Sinnlichkeit führt dazu, dass man selbst nicht mehr sehen muss. Wer keine
Erfahrungen macht, kann sich auch nicht erinnern. Und wer sich nicht
erinnern kann, für den bleibt die Tür von der standardisierten Sprache zum
subjektiven Bild im Kopf verschlossen." |