
Dr. Günther Stocker
guenther.stocker
[at] univie.ac.at
geboren 1966 in
Salzburg,
Studium der Germanistik
und Publizistik in Salzburg
und Zürich, Sponsion 1993,
Promotion 1996. Seit Jan.
2004 Universitätsassistent
am Institut für Germanistik
der Universität Wien.
Buchtipps

Günther Stocker.
Vom Bücherlesen.
Zur Darstellung des Lesens
in der deutschsprachigen
Literatur seit 1945.
Universitätsverlag Winter,
2007, 401 S.
ISBN: 9783825353865

Botho Strauß.
Die Widmung.
Dtv, 1984.
ISBN: 3423102489
Erst durch die Spannung
zwischen emotionaler Er-
regung und medialer Distanz
wird es möglich, an Erleb-
nissen teilzuhaben, die weit
vor der eigenen Lebenszeit
liegen, erst dadurch wird es
möglich, Vergangenes als
Fremdes zu verstehen, sich
dem
"Angriff der Gegenwart
auf die übrige Zeit" (A.
Kluge) zu widersetzen.

Peter Handke.
Der Bildverlust oder Durch
die Sierra de Gredos.
Suhrkamp, 2002, 759 S.
ISBN: 3518413104
Die lesende Heldin in
Handkes Roman ist nicht
in ihr Buch versunken,
sondern kann sich reflek-
tierend von ihm lösen, es
mit ihrer Umwelt, ihrer
Situation, ihrem Leben
in Beziehung setzen.

Corinna Soria.
Leben zwischen den Seiten.
Suhrkamp, 2002, 154 S.
ISBN: 3518398210
"Ohne Bücher kann ich
nicht schlafen, atmen,
sein, ohne Bücher ersticke
ich, gehe verloren, verliere
mich, ohne Bücher verhun-
gere, verdurste, ver-
schwinde ich."
|
M it
einiger Distanz betrachtet ist das Lesen von Büchern eine merkwürdige
Tätigkeit. Was bringt Menschen dazu, stundenlang still zu sitzen oder zu
liegen und auf einen gebundenen Stapel bedruckten Papiers zu schauen? Welche
Vorstellungen, Gedanken und Gefühle sind damit verbunden, welche Bedeutung
hat das Lesen von Büchern für die Einzelnen und für die Gesellschaft und wie
verändert sich all das im Laufe der Geschichte? Nicht nur Psychologie und
Literaturwissenschaft sondern auch Romane und Erzählungen setzen sich immer
wieder mit diesen Fragen auseinander, besonders intensiv in Zeiten
kultureller Umwälzungen. Die Literatur wirft freilich einen ganz
spezifischen Blick auf das Bücherlesen und seine Geschichte, eröffnet einen
Zugang zu Dimensionen der Lektüre, die der traditionellen Leseforschung
verborgen bleiben. Das sollen einige Schlaglichter auf Lesedarstellungen in
der Gegenwartsliteratur zeigen.
Zugang zur fremden Vergangenheit
" Es
gibt Emotionen, die existieren nur mehr durch das Buch. Was zum Beispiel
'Ehre' bedeutet, in einem glaubwürdigen Sinn und Pathos des Wortes, können
wir in unseren Verhältnissen nicht mehr erfahren. Aber im Medium der
Erregungen, in die uns etwa die Lektüre von Kleists 'Marquise
von O …' versetzt, füllt sich das leere, entfallene
Wort plötzlich mit seinem ganzen sozialen und lebensgefährlichen Ernst (…).
Einen solchen abrupten Zuwachs von Gedächtnis kann letztlich nur das Buch
ermöglichen. Es setzt das strikte, ungestörte Alleinsein mit dem abwesenden
Autor und die stimmlose Ein-Mann-Sprache des Erzählens voraus. Es setzt
voraus, dass wir den Text als etwas Übriggebliebenes, als Originalfundstück,
als Rest auflesen." Botho Strauß' Erzählung
"Die Widmung" (1977) bringt eine Funktion des
Bücherlesens zur Sprache, die für unser Verhältnis zur Geschichte
grundlegenden Charakter hat und die in der neuen Medienwelt zu verschwinden
droht. Das Lesen von Literatur aus früheren Zeiten ermöglicht laut Strauß
nämlich einen privilegierten Zugang zum kulturellen Gedächtnis, zu
historischen Denk- und Handlungsweisen, zu Wertmaßstäben
und kulturellen Erfahrungen, die im Akt des Lesens noch einmal durchlebt und
damit verstanden werden können. Dieser Zugang wird freilich nicht durch das
Vermitteln von geschichtlichen Informationen bewerkstelligt, sondern auf der
Ebene des Gefühls.
Um den alten Begriffen wieder Bedeutung zu verleihen,
müssen die Lesenden in "Erregung" versetzt werden.
Dafür seien aber weder Theateraufführungen noch Filme geeignet, sondern nur
Bücher. Das Bücherlesen lässt nämlich die Distanz, die uns von den
historischen Lebens- und Wahrnehmungsweisen trennt, nicht verschwinden, wie
dramatische und audiovisuelle Darstellungen das tun. Bereits der antiquierte
Sprachstil älterer Literatur erschwert eine platte Vergegenwärtigung. Dazu
kommen die medialen Charakteristika der Lektüre. Die sinnliche Kargheit und
der Abstraktionsgrad des schriftlichen Codes laufen einer Präsenz der
Vergangenheit zuwider, präsent ist allein das Gefühl. Erst durch diese
Spannung zwischen emotionaler Erregung und medialer Distanz wird es möglich,
an Erlebnissen teilzuhaben, die weit vor der eigenen Lebenszeit liegen, erst
dadurch wird es möglich, Vergangenes als Fremdes zu verstehen, sich dem
"Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit" (A.
Kluge) zu widersetzen.
Lesen und Weltwahrnehmung
E inen
besonders vielschichtigen poetischen Diskurs über das Lesen entwickelt das
Werk Peter Handkes. Die zentrale Funktion der Lektüre liegt für ihn in der
Erweiterung und Intensivierung der Wahrnehmung. Lesen bedeutet nicht, wie
erwartbar wäre, eine Abkehr von der Wirklichkeit, sondern im Gegenteil eine
explizite Hinwendung zu ihr. Handkes Protagonistinnen und Protagonisten
entfliehen der Welt nicht, sondern praktizieren ein "Sich-in-die-Welt-hinaus-Lesen",
das die Sinne schärft, die eingefahrenen Muster durchbricht und die Erde mit
neuen Augen sehen lehrt. Diese gesteigerte Wahrnehmung ist allerdings nicht
mit jeder Leseweise zu haben, sondern sie erfordert eine besonders intensive
Form der Lektüre, die von Handke in seinem Roman "Der
Bildverlust" (2002) als "studierendes" bzw.
"buchstabierendes" Lesen bezeichnet wird und die nur
langsam vor sich gehen kann. "Ein Lesen wie nur je
eines: buchstabierend, lautlos die Lippen bewegend, hier und da einen
Wort-Laut ausstoßend, und noch einmal, und noch
einmal, innehaltend, die Augen vom Buch hebend und dem gerade Gelesenen
nachgehend, im Umfeld, dem näheren und dem weiteren."
In diesen Zeilen sind alle Elemente versammelt, die
Handkes Vorstellung eines idealen Lesens ausmachen. Lippenbewegung und
Stimme zeugen von höchster Intensität, wie sie auch das vormoderne, laute
Lesen auszeichnete. Gleichzeitig zeigen sich Momente einer emanzipatorischen
Lektüre. Die lesende Heldin in Handkes Roman ist nicht in ihr Buch
versunken, sondern kann sich reflektierend von ihm lösen, es mit ihrer
Umwelt, ihrer Situation, ihrem Leben in Beziehung setzen. Dazu kommt die
Bedachtsamkeit, mit der mit dem Text umgegangen wird und die sich diametral
von den Formen des Lesens unterscheidet, wie sie sich gegenwärtig
verbreiten. Laut aktuellen empirischen Studien wandeln sich die
Lesestrategien in Richtung überfliegendes Lesen, Heraussuchen kleiner
Informationsbrocken, paralleler und partieller Lektüre mehrerer Bücher.
Solch oberflächliche Lektüre ist als Reaktion auf die wachsende
Informationsflut verständlich, intensive Leseerfahrungen können so freilich
nicht mehr gemacht werden.
Handkes Lesekonzept propagiert demgegenüber das genaue
Gegenteil. Er hält dem "Durchschnüffeln" der Texte
eine Exaktheit und Langsamkeit der Lektüre entgegen, die beinahe rituellen
Charakter annimmt: Der Lesesessel wird ans Fenster gerückt, dann heißt
es: "Jetzt wird gelesen!", beim Aufschlagen des
Buches ertönt "ein Laut von sich öffnenden Lippen,
sehr leise und sanft", der Finger folgt den Zeilen, "das
Umblättern geradezu eine Zeremonie". Ein weiterer Bestandteil der im
"Bildverlust" so pathetisch in Szene gesetzten
Lektüre ist der stete Hinweis auf den Akt des Buchstabierens und
Entzifferns. Darin drückt sich ein Bewusstsein aus, für das die Materialität
der Zeichen im Akt des Lesens noch präsent ist. All das konvergiert in einem
poetischen Programm der Verlangsamung und der Erhöhung der Intensität, das
sich der Logik der herrschenden Medien entgegenstellt und dem letztlich auch
die Form von Handkes Texten entspricht.
Die existentielle Dimension des Lesens
Der
Zusammenhang zwischen der Verbreitung des stillen, einsamen Bücherlesen im
18. Jahrhundert und der Herausbildung des bürgerlichen Individuums ist
historisch evident. Aber auch heute kann die Lektüre noch eine zentrale
Rolle in der Ich-Entwicklung spielen, darauf verweisen die literarischen
Lesedarstellungen nachdrücklich, etwa die im Jahr 2000 erschienene Erzählung
Leben zwischen den Seiten der österreichischen Autorin Corinna Soria.
Die Protagonistin, ein kleines Mädchen, wächst bei ihrer psychisch kranken
Mutter auf. Das Lesen dient ihr zur Aufrechterhaltung ihrer psychischen
Integrität, als Trost nach traumatisierenden Erlebnissen und als einzige
Quelle einer wenigstens temporären Geborgenheit. Sie fühlt sich
"aufgehoben im Rhythmus der Sprache", kann durch
Gedichtzeilen ihre Seelennot benennen, sie damit bannen und sich ihrer
Existenz versichern.
Die fiktiven Welten ihrer Indianerbücher sind der einzige
Rückzugsraum, die auswendig rezitierten Verse von Schiller, Rückert und
anderen der einzige Halt, wenn das Mädchen die Wahnschübe seiner Mutter, die
Strafen der Pflegemutter oder das Eingreifen von Psychiatrie und Jugendamt
nicht mehr zu ertragen vermag. "Ohne Bücher kann ich
nicht schlafen, atmen, sein, ohne Bücher ersticke ich, gehe verloren,
verliere mich, ohne Bücher verhungere, verdurste, verschwinde ich." Die
Besonderheit von Sorias Erzählung ist die Verbindung von poetischer
Intensität und psychologischer Authentizität, der scharfe Blick für die
existentielle Dimension des kindlichen Leseerlebnisses, für die Fähigkeit,
bei der Lektüre alles rundherum wegzublenden und sich in einem tiefen
Lustempfinden zu verlieren.
Sorias Erzählung lenkt darüber hinaus die Aufmerksamkeit
auf die medialen Grundlagen der Leselust. Sie macht deutlich, wie Kinder
Bücher als Partituren nutzen, nach denen sie ihre Phantasien ausbreiten,
aber auch wie karg im Vergleich zu den audiovisuellen Medien die Basis für
diese Phantasien ist. Um die schwarzen Lettern auf dem weißen
Papier zu spannenden Geschichten bzw. imaginären Räumen zu beleben, ist eine
wesentlich größere Einbildungskraft vonnöten, als bei
der Rezeption von Audiovisuellem, das ja unmittelbar mit den Sinnen
wahrgenommen werden kann. Doch gerade die geforderte Einbildungskraft ist
für die Intensität des Leseerlebnisses verantwortlich. Da der Text erst
imaginiert und vervollständigt werden muss, werden wesentlich größere
affektive Energien frei als beim Film- oder TV-Konsum. Dazu kommen
spezifische Entgrenzungserfahrungen, denn dadurch, dass die fiktiven Welten
von den Lesenden selbst geschaffen werden, lösen sich für das Ich die
Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt auf, während
bei den audiovisuellen Medien – zumindest in den derzeit verbreiteten
Artefakten – die Trennung zwischen Ich und Medium, zwischen Instanz der
Wahrnehmung und wahrgenommenen Bildern und Tönen aufrecht bleibt. Die
Rezipientinnen und Rezipienten verharren in ihrer Rolle als Zuschauerinnen
und Zuschauer. Vor dem Bildschirm ist eben nicht "zwischen
den Seiten".
Die Medialität des Lesens
W ie
gelesen wird und welche Folgen die Lektüre zeitigt, hat also nicht nur mit
dem jeweiligen Text zu tun, sondern hängt ganz wesentlich vom Lesemedium ab.
Die Lektüre am Bildschirm und das Lesen gedruckter Bücher unterscheiden sich
daher grundlegend, darauf verweist auch eine utopische Erzählung des
DDR-Autors Franz Fühmann mit dem Titel Pavlos Papierbuch (1982). Im
Jahr 3456 sind Papierbücher rare Sammlerstücke geworden, üblicherweise
werden "Mikrofilme oder Lesekarten" mit Hilfe von
"Leseschirmen" oder "Leselupen"
zur Lektüre benützt. Diese Form der "Informationsübermittlung"
entbehrt allerdings jeder sinnlichen Qualität. Sie ist "unfühlbar,
unhörbar, unriechbar, unschmeckbar, und in keinem natürlichen Größenverhältnis
zu einem menschlichen Organ." Dem wird die "sinnliche
Selbstoffenbarung" der Papierbücher gegenübergesetzt, die schon
"prinzipiell etwas Anderes waren" und
deren Charakteristika dem Leser der Zukunft sofort deutlich werden, weil sie
ihm nicht durch Gewöhnung selbstverständlich geworden sind wie uns.
Ein Papierbuch lässt sich im wahrsten Sinne des Wortes
begreifen ("Dass man es anfassen konnte wie einen
Leib!"), es hat einen besonderen Geruch, einen Klang, spürbare Konturen und
Materialeigenschaften. "Jede seiner Seiten war ein
Gebilde, das ringsum mit Blicken abschreitbar war, ein Maß
an Raum, in sich geschlossen, und damit auch ein Maß
für die Zeit. Dieses Maß war menschlich, weil
überschaubar." Dem stehen die Unüberschaubarkeit und Immaterialität der
Bildschirmtexte gegenüber, die alle menschliche Kapazität übersteigen und
die Orientierung schwierig machen. "Was beim
Papierbuch ein geistiger Raum war, wurde im Lesegerät ein Fließband,
auf Knöpfchendruck von Ort zu Ort ruckend, dass die Akte der Rezipierung
geschähen, mechanische Zugriffe des Hirnes; und wenn der Benutzer dieses
Band auch auf dem Gesamtweg begleiten konnte, erschien ihm dieser doch
niemals fassbar. (…) Einem Mikrofilmröllchen entnahm man nicht sinnenhaft,
wie viel Lesezeit es in sich barg; beim Papierbuch wog man mit Hand und
Auge, man sah, wen man da vor sich hatte".
M it
poetischer Anschaulichkeit und medientheoretischer Präzision führt Fühmanns
Text schon kurz nach der Erfindung des PCs vor, welche Folgen das jeweilige
Medium für den Akt des Lesens hat. Während man beim Buch in einen Denk- und
Vorstellungsraum eintritt, legt der Bildschirm eine überfliegende Leseweise
nahe, die einzelne Informationseinheiten aus dem Textfluss herauspickt, ohne
ihre Position im Gesamttext verorten zu können. Beim Buch haben wir es immer
mit einem bestimmten, abgeschlossenen Text zu tun, am Bildschirm liegt uns
bloß ein Ausschnitt aus der gesamten digitalen
Bibliothek vor Augen.
So zeigen bereits diese wenigen Beispiele, wie
eindringlich und genau sich die moderne Literatur mit dem Bücherlesen
beschäftigt. Über dessen Zukunft erlauben sie freilich keine verlässlichen
Aussagen. Wohl aber ermöglichen sie einen neuen Blick darauf, welche
Funktionen des Lesens auch in Zukunft von Bedeutung wären bzw. was verloren
ginge, sollte diese Kulturtechnik tatsächlich in die Marginalität gedrängt
werden, wie ihr das schon seit Jahrzehnten prophezeit wird.
Der Artikel ist zuerst erschienen in:
Neue Zürcher Zeitung,
25.8.2007, S.
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