Eine
immense Menge ist schon über den Nutzen der Literatur geschrieben worden,
und wenn ich dem Vielen noch etwas hinzufüge, so ist es zunächst ein Zögern,
ein Innehalten, eine Pause. Statt zu sagen:"Sitz nicht einfach nur da,
tu´ irgend etwas", sollten wir das Gegenteil fordern: "Tu´ nicht
irgend etwas; sitz nur da." Wer das sagt, ist
ein Zen-Meister und heißt Thich Nhat Hanh. Und ein Dichter, Rainer Maria
Rilke, bekennt: Ich glaube an Alles noch nie
gesagte. "Alles" schreibt er tatsächlich groß! Aus dem Zögern, dem
Innehalten könnte nun der Wunsch entstehen, zum Bücherregal zu gehen und zu
suchen, wonach der Augenblick verlangt: Worte. Jetzt Celan und sein Satz:
Dein Aug, dem Nichts stehts entgegen. Oder eine andere Gedichtzeile
von Paul Celan:
....es sind noch Lieder zu
singen jenseits der Menschen.
Rätselhaft diese Worte,
Botschaften, die einen nur dann erreichen, wenn Zeit zur Verfügung steht.
Zeit, nachzudenken, nachzuhorchen, was anklingt in einem. Literatur, die
sich als Kunst versteht, treibt Keile der Zeit in den Alltag, verlangsamt
das Lebenstempo. In einer Gesellschaft allerdings, die sich der Effizienz
verschrieben hat, ist ein Gedicht fehl am Platz. Kein unmittelbarer Nutzen
lässt sich daraus ziehen, im Gegenteil, die Sprache der Dichter hält auf,
ist vielfach unlogisch, unpraktisch, nicht anwendbar, ja wofür eigentlich?
Ich glaube an Alles noch nie gesagte, schreibt Rilke in seinem "Buch
vom mönchischen Leben". Das ist ein Schlag ins Weltbild der westlichen
Gesellschaft.
Unser
theoretisches Glaubensbekenntnis lautet: Ich glaube an das Wort, an die
Ratio, an die Überprüfbarkeit der Aussagen und unser praktisches Credo
bekennt: Ich glaube an die Ökonomie. Nur, was verwertbar ist, zählt. Ist
Lesen verwertbar? Vertrödelt man damit nicht seine Zeit, vor allem mit
Sätzen wie den eingangs zitierten? Jede Frage lässt Rückschlüsse auf den
Fragenden zu. Der also hat Angst, Zeit zu verlieren, keinen Nutzen aus etwas
ziehen zu können, der Fragende ist somit ein Knecht von Anforderungen, die
an ihn gestellt werden oder die er sich selbst auferlegt. Was ist der Nutzen
meiner Handlungen? Was ist der Nutzen des Lesens? Was ist der Nutzen der
Welt? Wer so fragt, will verkaufen. Die Frage "Wofür brauche ich das?"
richtet sich nach verwenden und verwerten, nach haben und nicht nach sein.
Kunst jedoch ist. Die Welt
ist. Jeder und jede Einzelne ist. Warum? Diese Frage erfordert Geduld und
jede Menge Erfahrung an Leben und Lesen. (Die beiden Wörter unterscheiden
sich im Deutschen vielleicht nicht nur zufällig in einem Buchstaben.) Und
das ist wohl auch der Sinn und nicht der Nutzen der epischen, lyrischen und
dramatischen Literatur: Dass sie dieses "Warum?" ausdehnt und illustriert,
mit einem Kosmos an Sprache versorgt, ohne jemals eine Antwort zu geben, die
sich nutzbringend anwenden und somit als des Rätsels Lösung auf die Frage
"Warum ist Welt?" verkaufen ließe.
Wer
liest, ist mit sich allein und hört auf das Geschriebene. Er nimmt es hin,
nicht eingreifen zu können in den Text. Er kann sich seine Gedanken machen,
die aber ändern nichts an dem, was da steht. Lesen besteht also zunächst
einmal in einem Annehmen, einem Zuhören. Erst dann kann Kritik erfolgen.
Zuhören gehört allerdings heute zu den unerwünschten Tätigkeiten, wie die
Werbung einer Bank eindrucksvoll illustriert:
Hört nicht auf die Professoren!
Hört
nicht auf die beste Freundin!
Hört nicht auf die Streber!
Hört, was ihr wollt:
(Name
der Bank)
Konto eröffnen und MP3-Player von
(Name der Firma)
gewinnen.
Es gilt also, nicht mehr
zuzuhören, sich nichts mehr sagen zu lassen, sondern stur dem eigenen Willen
zu folgen. Hier kann im Kontext der Wirtschaft weiterphantasiert werden. Was
ist der eigene Wille? Zu kaufen wonach einem ist? Vielleicht könnten die
Professoren fragen: Wozu brauchst du das? Daraus könnte ein Zögern entstehen
und das Produkt könnte nicht gekauft werden, zumindest nicht sofort. Die
ewig hinterfragenden Professoren, die Streber, die vielleicht sogar etwas
von der Freiheit des Verzichts wissen, die beste Freundin, die einem sagt,
dass einem die begehrten Klamotten nicht stehen, sie alle sind
Wirtschaftsschädlinge und man sollte besser nicht auf sie hören. Das alles
ist mitgesagt mit diesem lakonischen "Hört nicht". Die Aufforderung "Hört,
was ihr wollt" bezieht sich auf den MP3-Player, den es bei Kontoeröffnung zu
gewinnen gibt. Dennoch Eye-Catcher sind vor allem die "Hört nicht..."-Sätze.
Was neben der Reklame für ein Konto vermittelt wird, sind Aufrufe nicht
zuzuhören, also Appelle, nicht zu kommunizieren. Von dem Konto, für das
geworben wird, heißt es: Vorteile, die sich gut anhören.
Das bedeutet rein sprachlich betrachtet, dass die Vorteile nicht
wirklich gut sein müssen, sondern vor allem gut klingen. Ich kann mir nicht
vorstellen, dass eine Bank diese Aussage tatsächlich will. Aber wer nicht
auf die Sprache hört, bekommt es nicht mit.
Menschen,
die nicht mehr zuhören können, sind zur Einsamkeit verdammt. Und wer einsam
ist, braucht Ersatzbefriedigungen: Waren, Waren, Waren. Joachim-Ernst
Berendt, der "Apostel des Hörens", bekannt geworden mit seinem Buch und den
Hörfunk-Sendungen "Nada Brahma, die Welt ist Klang", schreibt in seinem
letzen Buch "Kraft aus der Stille":