Über die Aurora

Aktuelle Ausgabe

Frühere Ausgaben

Suche

   Schwerpunkte    Theater     Kulturphilosophie     Belletristik      Literatur     Film     Forschung    Atelier     Musik  

......
Wozu lesen?

Lektüre in Zeiten der Herrschaft der Ökonomie

Lesen erfordert Zeit und die Bereitschaft zuzuhören. Das Gehörte macht vielleicht
nicht materiell, aber doch um eine Erfahrung reicher. So bedeutet Literatur in
jedem Falle einen Gewinn: einen Gewinn an Sein.

 
 ...
V
on Wolfgang Wenger
(01. 11. 2000)

...



Wolfgang Wenger

wenger.wolfgang [at] aon.at

geb. 1962, BHS-Lehrer,
Lehrbeauftragter am
Germanistischen Institut
der Universität Salzburg,
Schriftsteller.

Veröffentlichungen

"weit weg in den filmen"
(1990), "die gleichgültigkeit
der wüstenbewohner" (1991),
"Die Manhattan-Maschine"
(1992), "Die Geschichte des
Augenblicks" (1996), alle im
Residenz-Verlag Salzburg/
Wien.

 

 

 

Dichtung hält auf, treibt
Keile der Zeit in den Alltag.

 

 

 

 

 


Vertrödelt man mit dem
Lesen von Literatur
seine Zeit?

 

 

 

 

 

 

Wer nach dem Nutzen des
Lesens fragt, will verkaufen.

 

 

 

 

 

Der Leser ist zuallererst
ein Zuhörer

 

 

 

 

 

Das Zuhören wird in
Verruf gebracht.

 

 

 

 

 

 


Menschen, die nicht mehr
zuhören können, sind zur
Einsamkeit verdammt.

 

 

 

 

 


Der Verlust von Literatur ist ein Verlust an Haben, aber ein Gewinn an Sein


 

   Eine immense Menge ist schon über den Nutzen der Literatur geschrieben worden, und wenn ich dem Vielen noch etwas hinzufüge, so ist es zunächst ein Zögern, ein Innehalten, eine Pause. Statt zu sagen:"Sitz nicht einfach nur da, tu´ irgend etwas", sollten wir das Gegenteil fordern: "Tu´ nicht irgend etwas; sitz nur da." Wer das sagt, ist ein Zen-Meister und heißt Thich Nhat Hanh. Und ein Dichter, Rainer Maria Rilke, bekennt: Ich glaube an Alles noch nie gesagte. "Alles" schreibt er tatsächlich groß! Aus dem Zögern, dem Innehalten könnte nun der Wunsch entstehen, zum Bücherregal zu gehen und zu suchen, wonach der Augenblick verlangt: Worte. Jetzt Celan und sein Satz: Dein Aug, dem Nichts stehts entgegen. Oder eine andere Gedichtzeile von Paul Celan: ....es sind noch Lieder zu singen jenseits der Menschen.

Rätselhaft diese Worte, Botschaften, die einen nur dann erreichen, wenn Zeit zur Verfügung steht. Zeit, nachzudenken, nachzuhorchen, was anklingt in einem. Literatur, die sich als Kunst versteht, treibt Keile der Zeit in den Alltag, verlangsamt das Lebenstempo. In einer Gesellschaft allerdings, die sich der Effizienz verschrieben hat, ist ein Gedicht fehl am Platz. Kein unmittelbarer Nutzen lässt sich daraus ziehen, im Gegenteil, die Sprache der Dichter hält auf, ist vielfach unlogisch, unpraktisch, nicht anwendbar, ja wofür eigentlich? Ich glaube an Alles noch nie gesagte, schreibt Rilke in seinem "Buch vom mönchischen Leben". Das ist ein Schlag ins Weltbild der westlichen Gesellschaft.

   Unser theoretisches Glaubensbekenntnis lautet: Ich glaube an das Wort, an die Ratio, an die Überprüfbarkeit der Aussagen und unser praktisches Credo bekennt: Ich glaube an die Ökonomie. Nur, was verwertbar ist, zählt. Ist Lesen verwertbar? Vertrödelt man damit nicht seine Zeit, vor allem mit Sätzen wie den eingangs zitierten? Jede Frage lässt Rückschlüsse auf den Fragenden zu. Der also hat Angst, Zeit zu verlieren, keinen Nutzen aus etwas ziehen zu können, der Fragende ist somit ein Knecht von Anforderungen, die an ihn gestellt werden oder die er sich selbst auferlegt. Was ist der Nutzen meiner Handlungen? Was ist der Nutzen des Lesens? Was ist der Nutzen der Welt? Wer so fragt, will verkaufen. Die Frage "Wofür brauche ich das?" richtet sich nach verwenden und verwerten, nach haben und nicht nach sein.

Kunst jedoch ist. Die Welt ist. Jeder und jede Einzelne ist. Warum? Diese Frage erfordert Geduld und jede Menge Erfahrung an Leben und Lesen. (Die beiden Wörter unterscheiden sich im Deutschen vielleicht nicht nur zufällig in einem Buchstaben.) Und das ist wohl auch der Sinn und nicht der Nutzen der epischen, lyrischen und dramatischen Literatur: Dass sie dieses "Warum?" ausdehnt und illustriert, mit einem Kosmos an Sprache versorgt, ohne jemals eine Antwort zu geben, die sich nutzbringend anwenden und somit als des Rätsels Lösung auf die Frage "Warum ist Welt?" verkaufen ließe.

   Wer liest, ist mit sich allein und hört auf das Geschriebene. Er nimmt es hin, nicht eingreifen zu können in den Text. Er kann sich seine Gedanken machen, die aber ändern nichts an dem, was da steht. Lesen besteht also zunächst einmal in einem Annehmen, einem Zuhören. Erst dann kann Kritik erfolgen. Zuhören gehört allerdings heute zu den unerwünschten Tätigkeiten, wie die Werbung einer Bank eindrucksvoll illustriert:

Hört nicht auf die Professoren!
Hört nicht auf die beste Freundin!
Hört nicht auf die Streber!
Hört, was ihr wollt:

(Name der Bank) Konto eröffnen und MP3-Player von (Name der Firma) gewinnen.

Es gilt also, nicht mehr zuzuhören, sich nichts mehr sagen zu lassen, sondern stur dem eigenen Willen zu folgen. Hier kann im Kontext der Wirtschaft weiterphantasiert werden. Was ist der eigene Wille? Zu kaufen wonach einem ist? Vielleicht könnten die Professoren fragen: Wozu brauchst du das? Daraus könnte ein Zögern entstehen und das Produkt könnte nicht gekauft werden, zumindest nicht sofort. Die ewig hinterfragenden Professoren, die Streber, die vielleicht sogar etwas von der Freiheit des Verzichts wissen, die beste Freundin, die einem sagt, dass einem die begehrten Klamotten nicht stehen, sie alle sind Wirtschaftsschädlinge und man sollte besser nicht auf sie hören. Das alles ist mitgesagt mit diesem lakonischen "Hört nicht". Die Aufforderung "Hört, was ihr wollt" bezieht sich auf den MP3-Player, den es bei Kontoeröffnung zu gewinnen gibt. Dennoch Eye-Catcher sind vor allem die "Hört nicht..."-Sätze. Was neben der Reklame für ein Konto vermittelt wird, sind Aufrufe nicht zuzuhören, also Appelle, nicht zu kommunizieren. Von dem Konto, für das geworben wird, heißt es: Vorteile, die sich gut anhören. Das bedeutet rein sprachlich betrachtet, dass die Vorteile nicht wirklich gut sein müssen, sondern vor allem gut klingen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Bank diese Aussage tatsächlich will. Aber wer nicht auf die Sprache hört, bekommt es nicht mit.

   Menschen, die nicht mehr zuhören können, sind zur Einsamkeit verdammt. Und wer einsam ist, braucht Ersatzbefriedigungen: Waren, Waren, Waren. Joachim-Ernst Berendt, der "Apostel des Hörens", bekannt geworden mit seinem Buch und den Hörfunk-Sendungen "Nada Brahma, die Welt ist Klang", schreibt in seinem letzen Buch "Kraft aus der Stille":

Ökonomie will nicht die Weiter- und Höherentwicklung des Menschen. Denn die zielt auf einen autonomen, in sich ruhenden, nicht instrumentierbaren, freien Menschen. Der stört Wirtschaft.

Lesen ist eine Form des Hörens und braucht Zeit und Stille. Beides sind kostbare Güter geworden in unserer durch und durch ökonomisierten Welt. In der Barockzeit betrug der Geldwert eines Romanes zirka dem von 130 Kilo Rindfleisch. Heute kostet ein Buch um vieles weniger. Sein tatsächlicher Wert ist eventuell in nicht geleisteten Überstunden zu messen, in nicht getätigten Einkäufen, versäumten Restaurant- und Freizeitparkbesuchen etc. Der Wert einer Erzählung, eines Dramas, eines Gedichtes ist ein Verlust an Haben, aber ein Gewinn an Sein.

Ausdrucken?

....

Zurück zur Übersicht