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Dem Leser sind ja die Hände gebunden

Seite für Seite, Absatz für Absatz, immer brav ein Gedanke nach dem anderen
so müssen Bücher gelesen werden. Der Leser kann einfach nicht anders.
Wie? Der Leser kann nicht anders?!? Reinhard Winkler
will das nicht so recht glauben ...

Von Reinhard Winkler
(01. 11. 2000)

...


...

Reinhard Winkler

winkler.hawelka [at] aon.at

geboren 1965, Studium der
Germanistik und Geschichte
in Salzburg. Lebt und arbeitet
als Pressefotograf in Linz.
Freier Mitarbeiter der Ober-
österreichischen Nachrichten
und des Spotz-Magazins. Redaktionsmitglied der
Aurora.

 

 

 

Manchmal kaufe ich mir
Bücher, nur um sie dann
nicht zu lesen.

 

 

 

 

Böll wird nicht
einmal ignoriert.
 

 

 

 

 

Lesen kann heißen

wild durcheinander
kreuz und quer

 

 

 

 

 


Der gewöhnliche Leser

eselsohrenausbügelnd
zeigefingerableckend

 

 

 

 

 

 

Lesen kann auch heißen

vereinnahmen
auswählen
bestätigen
wieder finden
herumkritzeln
ausschlachten
zitieren
arbeiten
schreiben

  

 

 

 

 


Die literarische Vor-
Lesung als Entmündigung
des Lesers

 

 

 

 

 

Lesen heißt außerdem

Fragen stellen
Begeisterung ausdrücken
Nach-Denklichkeit einfordern
 

 

 

 

 


Die Literatur als Geschäft:

flüchtig
effektheischend
anbiedernd

 

   Ich habe wieder einmal ein "Werk" fertiggelesen, war also nicht mehr und nicht weniger als ein aufmerksamer Zuhörer. Nicht weniger, als ich "gelesen" habe, so gut ich eben kann, aber eben auch nicht mehr, weil das Lesen ein für mich zeitraubendes Tun ist, ein Nichtstun, das mich in jeder Hinsicht ungeduldig macht.

Ich glaube, ich bin ein undankbarer Leser. Als Leser weiß ich nicht, was sich gehört. Das macht nichts, solange ich mit einem gekauften Buch alleine bin. Wenn ich für ein Buch bezahlt habe, kenne ich keine Lesehemmungen. Dann lese ich im Gefühl, mir die Anstrengung des Schriftstellers erkauft zu haben, dann gehört der Text mir, und demzufolge mache ich mit dem Text, was ich will. Erst einmal heißt das: ich lese ihn oder ich lese ihn nicht. Manchmal kaufe ich mir Bücher, nur um sie nicht zu lesen. Manchmal kaufe ich mir so ein nicht lesenswertes Buch gerade deshalb, um es in eine Ecke stellen zu können, wo es dann steht, ungelesen und eben: für nichts gut.

   Böll, zum Beispiel. Schon die Titel seiner Bücher sind eine einzige Aufforderung an den schlechten Geschmack, doch endlich wieder einmal zuzuschlagen. Wenn ich in einem Buchgeschäft über Böll stolpere, dann macht sich in mir ein wunderbar arrogantes Gefühl breit: Das Gefühl der Ignoranz. Oder genauer: der berechtigten Ignoranz. Böll wird ja heute nur mehr von Unterstufengymnasiasten gelesen, die von sogenannten Deutschprofessoren zum Bölllesen genötigt werden. Mehr hat sich dieser Schriftsteller auch nicht verdient, denk ich mir nicht ohne Genuss, wenn ich vor meinem Bücherregal stehe und meinen Kopf schiefhalte, um die Weinerlichkeit der aufgestellten Titel Bölls über mich ergehen zu lassen.

Wenn ich aber erst einmal ins Lesen gekommen bin und den Schriftsteller als lesenswert erkenne, dann lese ich. Allerdings lese ich ohne Lesemanieren. Manchmal fange ich mit dem letzten Satz auf der letzten Seite an, und wenn mir der Satz entgegenkommt, kann es passieren, dass ich zurückblättere und irgendwo in der Mitte weiterlese, oft sogar mehrere Seiten am Stück, wenn auch selten mehr als zehn auf einmal.

   Nichts gegen Menschen, die Bücher von vorne nach hinten lesen, immer von links nach rechts und von oben nach unten, Seite für Seite und Satz für Satz, aber ich stelle mir solche Menschen gern händewaschend vor und eselsohrenausbügelnd und es sich in einer bestimmten Lesestellung gemütlich zurechtmachend und dann vielleicht auch noch zeigefingerableckend im Fünfminutentakt, dem Umblättern wegen. Das sind die Leser, die das Wort "Buch", oder, schlimmer noch, das Wort "Bücher" so saftlos aussprechen, als hätten sie gerade den zur staubtrockenen Waffel gewordenen Leib Christi im Mund.

Im Vergleich zu solchen Menschen lässt mein Leseverhalten zu wünschen übrig. Ich benehme mich so, als gehörte die Literatur, die ich lese, mir. Ich kaufe mit dem Buch den Geist des Buches. Ich kaufe mir den Schriftsteller und mache ihn mir zu eigen. Wenn ich ihn lese, gehört er mir, als stünde er mir zur Verfügung. Ich bestimme, was gut und was schlecht geschrieben ist. Und ich befinde ausschließlich jene Sätze für gut, die ich genau so geschrieben hätte. Habe ich bei einem gelesenen Satz nicht das zwingende Gefühl: Warum ist das mir nicht eingefallen? - Das hätte mir einfallen müssen, genaugenommen! -  dann ist der Satz nicht gut genug, dann ist dem Schriftsteller der Satz misslungen, und sofort stelle ich an das Buch die Frage: Was bildest Du dir eigentlich ein?

   Wenn ich mich aber in den Sätzen selbst  – wie man so schön sagt – wiederfinde, dann beschäftigt mich das Buch. Dann lese ich das Buch nicht aus, dann lese ich darin herum, immer wieder und überall. Ich lese das Buch im Zug, bei der Arbeit, am Klo, in Wartezimmern und Warteschlangen, im Bett, in der Badewanne, hin und wieder sogar beim Gehen – bei jeder Gelegenheit. Dabei ist mein Lesen ist ein ständiges Herumkritzeln, ich lese nie ohne Kugelschreiber, schreibe mit dem Kugelschreiber Wörter dazu, streiche Wörter weg, male Rufzeichen oder Fragezeichen an den Textrand usw. und schrecke letztendlich nicht einmal davor zurück, den Text gnadenlos auszuschlachten, indem ich in Gesprächen mit Freunden oder beim Schreiben von Briefen gelesene Sätze zitiere, selbstverständlich ohne mich dabei an die üblichen Zitierregeln zu halten. Selten habe ich dabei das Gefühl, etwas vorzugeben. Ich nehme mir nur Sätze heraus, die mir gehören. Ich habe diese Sätze ja nicht nur gekauft, ich habe sie auch gefunden, habe sie mir durch redliche Arbeit verdient. Das ist Lesen nämlich: Arbeit. Und ich verwende gelesene Sätze nur dann, wenn ich sie auch geschrieben hätte, und zwar: genauso gut schreiben hätte können, aber nur eben nicht genau so gut schreiben kann.
Soweit das Lesen von Büchern.

Das schlimmste Lesen aber ist das Vorgelesen-Bekommen. Literarische Leseveranstaltungen sind das größte Übel. So eine literarische Lesung ist die vollkommene Entmündigung des Lesers. Nein. Solche Veranstaltungen sind nicht vom größten Übel, sie sind nur einfach lächerlich. Der Gockel möchte alle Hühner gleichzeitig ficken. Der Dichter beglückt ein ganzes Leserkollektiv in einem Aufwaschen:

  Während der Dichter sich abmüht in seinem Selbstinszenierungswahn, während der, der doch schreiben sollte, liest, auch noch laut liest und zu allem Überfluss auch noch sein eigenes Geschriebenes liest, sitzt unten der Lesekörper und hält still. Oder hält er inne? Egal. Er ist jedenfalls sprachlos, nach Möglichkeit in sich gekehrt, praktisch gesehen also unsichtbar. Als Teil des Publikums sollte man nicht weiter auffallen. Reizhusten ist strengstens untersagt. Man stelle sich so einen Lümmel wie mich in einem Lesesaal vor: Alle Sätze lang Fragelaute ausrufend ("hä?") oder spontane Begeisterungsvokabel ausstoßend ("super!"), und natürlich ständiges Bitten um Wiederholung des gerade eben gelesenen Satzes, sei es, weil ich ihn nicht verstanden habe oder auch, weil ich ihn einfach noch einmal hören will. Alle paar Seiten lang würde ich mir eine Pause erbitten, um ungestört verdauen zu können.

Natürlich weiß ich, dass solche Veranstaltungen vor allem einmal dem Zweck dienen, Reklame für ein Buch zu machen, das gekauft werden will. Das macht mir den Genuss auch nicht leichter, im Gegenteil. Literarische Leseveranstaltungen sind so ernst zu nehmen wie Werbespots für ein Produkt: flüchtig, effektheischend wie ein Blitzlicht und im Gehaben letztlich nur anbiedernd. Literatur ist ein Geschäft, nichts weiter. Lesereisen gehören zum Alltag jedes erfolgreichen Schriftstellers.  Der Verleger zwingt seine Hure auf die Straße, der Leser freit den Dichter, und das einzige, was an diesem geschmacklosen Vergleich hinkt, ist der Umstand, dass bei literarischen Veranstaltungen die Kundschaft stillhält, während die Prostituierte einzudringen versucht. Oder, um Böll ein klein wenig zu rehabilitieren, ein Zitat aus "Ansichten eines Clowns":

Es gibt merkwürdig unerkannte Formen der Prostitution, mit denen verglichen die eigentliche Prostitution ein redliches Gewerbe ist: da wird wenigstens fürs Geld was geboten.

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