Ich glaube, ich bin ein
undankbarer Leser. Als Leser weiß ich nicht, was sich gehört. Das macht
nichts, solange ich mit einem gekauften Buch alleine bin. Wenn ich für ein
Buch bezahlt habe, kenne ich keine Lesehemmungen. Dann lese ich im Gefühl,
mir die Anstrengung des Schriftstellers erkauft zu haben, dann gehört der
Text mir, und demzufolge mache ich mit dem Text, was ich will. Erst einmal
heißt das: ich lese ihn oder ich lese ihn nicht. Manchmal kaufe ich mir
Bücher, nur um sie nicht zu lesen. Manchmal kaufe ich mir so ein nicht
lesenswertes Buch gerade deshalb, um es in eine Ecke stellen zu können, wo
es dann steht, ungelesen und eben: für nichts gut.
Böll,
zum Beispiel. Schon die Titel seiner Bücher sind eine einzige Aufforderung
an den schlechten Geschmack, doch endlich wieder einmal zuzuschlagen. Wenn
ich in einem Buchgeschäft über Böll stolpere, dann macht sich in mir ein
wunderbar arrogantes Gefühl breit: Das Gefühl der Ignoranz. Oder genauer:
der berechtigten Ignoranz. Böll wird ja heute nur mehr von
Unterstufengymnasiasten gelesen, die von sogenannten Deutschprofessoren zum
Bölllesen genötigt werden. Mehr hat sich dieser Schriftsteller auch nicht
verdient, denk ich mir nicht ohne Genuss, wenn ich
vor meinem Bücherregal stehe und meinen Kopf schiefhalte, um die
Weinerlichkeit der aufgestellten Titel Bölls über mich ergehen zu lassen.
Wenn ich aber erst einmal
ins Lesen gekommen bin und den Schriftsteller als lesenswert erkenne, dann
lese ich. Allerdings lese ich ohne Lesemanieren. Manchmal fange ich mit dem
letzten Satz auf der letzten Seite an, und wenn mir der Satz entgegenkommt,
kann es passieren, dass ich zurückblättere und irgendwo in der Mitte
weiterlese, oft sogar mehrere Seiten am Stück, wenn auch selten mehr als
zehn auf einmal.
Nichts
gegen Menschen, die Bücher von vorne nach hinten lesen, immer von links nach
rechts und von oben nach unten, Seite für Seite und Satz für Satz, aber ich
stelle mir solche Menschen gern händewaschend vor und eselsohrenausbügelnd
und es sich in einer bestimmten Lesestellung gemütlich zurechtmachend und
dann vielleicht auch noch zeigefingerableckend im Fünfminutentakt, dem
Umblättern wegen. Das sind die Leser, die das Wort "Buch", oder, schlimmer
noch, das Wort "Bücher" so saftlos aussprechen, als hätten sie gerade den
zur staubtrockenen Waffel gewordenen Leib Christi im Mund.
Im Vergleich zu solchen
Menschen lässt mein Leseverhalten zu wünschen übrig. Ich benehme mich so,
als gehörte die Literatur, die ich lese, mir. Ich kaufe mit dem Buch den
Geist des Buches. Ich kaufe mir den Schriftsteller und mache ihn mir zu
eigen. Wenn ich ihn lese, gehört er mir, als stünde er mir zur Verfügung.
Ich bestimme, was gut und was schlecht geschrieben ist. Und ich befinde
ausschließlich jene Sätze für gut, die ich genau so geschrieben hätte. Habe
ich bei einem gelesenen Satz nicht das zwingende Gefühl: Warum ist das mir
nicht eingefallen? - Das hätte mir einfallen müssen, genaugenommen! -
dann ist der Satz nicht gut genug, dann ist dem Schriftsteller der Satz misslungen,
und sofort stelle ich an das Buch die Frage: Was bildest Du dir eigentlich
ein?
Wenn
ich mich aber in den Sätzen selbst – wie man so schön sagt –
wiederfinde, dann beschäftigt mich das Buch. Dann lese ich das Buch nicht
aus, dann lese ich darin herum, immer wieder und überall. Ich lese das Buch
im Zug, bei der Arbeit, am Klo, in Wartezimmern und Warteschlangen, im Bett,
in der Badewanne, hin und wieder sogar beim Gehen – bei jeder Gelegenheit.
Dabei ist mein Lesen ist ein ständiges Herumkritzeln, ich lese nie ohne
Kugelschreiber, schreibe mit dem Kugelschreiber Wörter dazu, streiche Wörter
weg, male Rufzeichen oder Fragezeichen an den Textrand usw. und schrecke
letztendlich nicht einmal davor zurück, den Text gnadenlos auszuschlachten,
indem ich in Gesprächen mit Freunden oder beim Schreiben von Briefen
gelesene Sätze zitiere, selbstverständlich ohne mich dabei an die üblichen
Zitierregeln zu halten. Selten habe ich dabei das Gefühl, etwas vorzugeben.
Ich nehme mir nur Sätze heraus, die mir gehören. Ich habe diese Sätze ja
nicht nur gekauft, ich habe sie auch gefunden, habe sie mir durch redliche
Arbeit verdient. Das ist Lesen nämlich: Arbeit. Und ich verwende gelesene
Sätze nur dann, wenn ich sie auch geschrieben hätte, und zwar: genauso gut
schreiben hätte können, aber nur eben nicht genau so gut schreiben kann.
Soweit das Lesen von Büchern.
Das schlimmste Lesen aber
ist das Vorgelesen-Bekommen. Literarische Leseveranstaltungen sind das
größte Übel. So eine literarische Lesung ist die vollkommene Entmündigung
des Lesers. Nein. Solche Veranstaltungen sind nicht vom größten Übel, sie
sind nur einfach lächerlich. Der Gockel möchte alle Hühner gleichzeitig
ficken. Der Dichter beglückt ein ganzes Leserkollektiv in einem Aufwaschen:
Während
der Dichter sich abmüht in seinem
Selbstinszenierungswahn, während der, der doch
schreiben sollte, liest, auch noch laut liest und zu
allem Überfluss auch noch sein eigenes Geschriebenes
liest,
sitzt unten der Lesekörper und hält still. Oder hält er inne? Egal.
Er ist jedenfalls sprachlos, nach Möglichkeit in sich gekehrt, praktisch
gesehen also unsichtbar. Als Teil des Publikums sollte man nicht weiter
auffallen. Reizhusten ist strengstens untersagt. Man stelle sich so einen
Lümmel wie mich in einem Lesesaal vor: Alle Sätze lang Fragelaute ausrufend
("hä?") oder spontane Begeisterungsvokabel ausstoßend ("super!"), und
natürlich ständiges Bitten um Wiederholung des gerade eben gelesenen Satzes,
sei es, weil ich ihn nicht verstanden habe oder auch, weil ich ihn einfach
noch einmal hören will. Alle paar Seiten lang würde ich mir eine Pause
erbitten, um ungestört verdauen zu können.
Natürlich weiß ich, dass
solche Veranstaltungen vor allem einmal dem Zweck dienen, Reklame für ein
Buch zu machen, das gekauft werden will. Das macht mir den Genuss
auch nicht leichter, im Gegenteil. Literarische Leseveranstaltungen sind so
ernst zu nehmen wie Werbespots für ein Produkt: flüchtig, effektheischend
wie ein Blitzlicht und im Gehaben letztlich nur anbiedernd. Literatur ist
ein Geschäft, nichts weiter. Lesereisen gehören zum Alltag jedes
erfolgreichen Schriftstellers. Der Verleger zwingt seine Hure auf die
Straße, der Leser freit den Dichter, und das einzige, was an diesem
geschmacklosen Vergleich hinkt, ist der Umstand, dass bei literarischen
Veranstaltungen die Kundschaft stillhält, während die Prostituierte
einzudringen versucht. Oder, um Böll ein klein wenig zu rehabilitieren, ein
Zitat aus "Ansichten eines Clowns":