Einer
nach dem anderen betritt die leere, mit weißem Staub bedeckte
und in Schräglage befindliche Bühne. Ein kleines Bündel über die
Schulter geworfen, irren sie kurz herum, bevor sie in einem Loch, das sich
plötzlich im Boden auftut, verschwinden. Dazu ertönt russische Marschmusik.
Benannt nach der berühmten Studentenhymne, besticht
"Gaudeamus", eine Produktion des Maly Drama Theater aus Sankt Petersburg,
von Anfang an durch ihr schnelles Tempo und durch außergewöhnliche Ideen.
Die im Théâtre Gérard Philipe im Pariser Vorort Saint-Denis gezeigte
Vorstellung war Teil der zehnten Auflage des Festivals Le Standard Idéal.
Organisiert vom Kulturhaus MC93, fanden die Festspiele des heuer
wegen Renovierung geschlossenen Gebäudes auf fünf befreundeten Bühnen "außerhalb der Mauern" statt.
"Ziel ist es, dem Publikum Theater zu zeigen, wie es anderswo gemacht
wird. Was verlangt man vom Theater in Moskau oder Shanghai? Ob klassisch
oder zeitgenössisch spielt keine so wichtige Rolle, beides ist
unzertrennlich", so Patrick Sommier, scheidender Direktor des MC93.
Die Spielfassung,
ausgeführt vom bekannten russischen Regisseur Lev
Dodin, ist eine Adaption des Romans Bataillon de construction (Bautruppe)
von Serguei Kaledine und geht auf das Jahr 1990 zurück. Ursprünglich als
Abschlussarbeit von Dodins Studentenklasse beim Leningrader Theaterinstitut
konzipiert, wurde "Gaudeamus" anschließend in den Spielplan des Maly Theaters
aufgenommen. Zahlreiche internationale Auszeichnungen zeugen vom Erfolg des
Projektes, mit dem der Regisseur und seine Absolventen auf Welttournee
gingen. "Jedoch hatten die Schauspieler nach zwölf Aufführungsjahren einige
Kilos zugelegt, Familien gegründet oder Rheuma bekommen. So bat ich Anfang
dieses Jahrhunderts Lev Dodin, die Produktion neu aufzusetzen", erklärt
Patrick Sommier, "und diese Überzeugungsarbeit hat zehn Jahre gedauert." Es
hat sich aber gelohnt! Denn die inzwischen zum Mythos gewordene Inszenierung
löst nach wie vor große Begeisterung beim Publikum aus.
In neunzehn packenden Szenen wird die Geschichte einer
Gruppe Wehrpflichtiger in der ehemaligen UdSSR erzählt. Dodin versteht es
meisterhaft, die Absurdität und Abgründe des Militärdienstes darzustellen.
Sadistische Offiziere, die Übungen aus einem Buch vorgeben, zwingen zu einer
sichtbar unmöglichen Körperhaltung. Stabschef-Grüße werden trainiert,
Latrinendienst wird angeordnet. Trotz Kameradschaft mangelt es nicht an
rassistischen Beschimpfungen. Juden, Zigeuner, Homosexuelle, alle werden
gedemütigt und misshandelt. Ein brutales, unerbittliches Universum entfaltet
sich auf der Bühne. Um dem zu entkommen, suchen die Jugendlichen Zuflucht
bei Alkohol und Mädchen. In einem Bordell treiben es zwei auf einem vom
Schnürboden wundersam herabschwebenden Klavier. Eine überdimensionierte
Babuschka, die nasse Unterwäsche der Soldaten aufhängt, wird hart umworben.
Doch die Euphorie gerät außer Kontrolle. Nach einer Trinkorgie lässt die
Vergewaltigung nur noch Blutflecke auf dem Schnee zurück. Es ist eine
desillusionierte Welt, eine Unbehagen verursachende Armee, vor allem aber
Frauen und Männer, die mit einer abstrusen ideologischen Realität
konfrontiert werden. Die Handlung von "Gaudeamus" ist schwarzer Humor vom
Feinsten.
Und doch ist das Gefühl der Traurigkeit nur
vorübergehend. Lev Dodin verzerrt die harte Realität und schafft
erstaunliche Bilder. Ein Wachkorps verwandelt sich bei Kerzenlicht in eine
ausgelassene Ballettnummer. Es wird geflirtet, gelacht, getanzt, gesungen,
sogar mit den Zehen Klavier gespielt. Die fünfzehn Schauspieler liefern eine
großartige Leistung. In einer fesselnden Achterbahnfahrt nimmt der russische
Meister die Zuschauer mit in eine Welt zwischen Burlesque, Varieté und
poetischer Lyrik und verbindet dies auf unvergleichlich charmante Art mit
internationalen Liedern und russischer Volksmusik. Dodins intelligente
Produktion hat 25 Jahre nach ihrer Premiere nichts an Energie und Aktualität
verloren und bietet nach Aufführungsschluss im Shuttlebus auf der Rückreise
nach Paris Gelegenheit zum ausgiebigen Austausch mit anderen Zuschauern.