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Lasst uns also fröhlich sein!

Der über die Grenzen seiner Heimat Russland hinaus bekannte
Theaterregisseur Lev Dodin inszeniert im Stück "Gaudeamus" die Geschichte
einer Gruppe Wehrpflichtiger in der ehemaligen UdSSR. Über neunzehn packende Szenen
bietet das Stück schwarzen Humor vom Feinsten und hat auch 25 Jahre nach
seiner Premiere nichts an Energie und Aktualität verloren.

Von Irina Wolf
(28. 05. 2015)

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Irina Wolf
irinawolf10 [at] gmail.com

Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren
Jobs im Telekommunikations- und Forschungsbereich
wechselte sie 1993 in den
Außenhandelsdienst. Seit
2007 schreibt sie freiberuflich
für mehrere rumänische und
deutschsprachige Kultur-
zeitschriften.

 

 


(c) Viktor Vassiliev

 

 

Linktipp
www.mc93.com

 

 

   Einer nach dem anderen betritt die leere, mit weißem Staub bedeckte und in Schräglage befindliche Bühne. Ein kleines Bündel über die Schulter geworfen, irren sie kurz herum, bevor sie in einem Loch, das sich plötzlich im Boden auftut, verschwinden. Dazu ertönt russische Marschmusik.

Benannt nach der berühmten Studentenhymne, besticht "Gaudeamus", eine Produktion des Maly Drama Theater aus Sankt Petersburg, von Anfang an durch ihr schnelles Tempo und durch außergewöhnliche Ideen. Die im Théâtre Gérard Philipe im Pariser Vorort Saint-Denis gezeigte Vorstellung war Teil der zehnten Auflage des Festivals Le Standard Idéal. Organisiert vom Kulturhaus MC93, fanden die Festspiele des heuer wegen Renovierung geschlossenen Gebäudes auf fünf befreundeten Bühnen "außerhalb der Mauern" statt. "Ziel ist es, dem Publikum Theater zu zeigen, wie es anderswo gemacht wird. Was verlangt man vom Theater in Moskau oder Shanghai? Ob klassisch oder zeitgenössisch spielt keine so wichtige Rolle, beides ist unzertrennlich", so Patrick Sommier, scheidender Direktor des MC93.

   Die Spielfassung, ausgeführt vom bekannten russischen Regisseur Lev Dodin, ist eine Adaption des Romans Bataillon de construction (Bautruppe) von Serguei Kaledine und geht auf das Jahr 1990 zurück. Ursprünglich als Abschlussarbeit von Dodins Studentenklasse beim Leningrader Theaterinstitut konzipiert, wurde "Gaudeamus" anschließend in den Spielplan des Maly Theaters aufgenommen. Zahlreiche internationale Auszeichnungen zeugen vom Erfolg des Projektes, mit dem der Regisseur und seine Absolventen auf Welttournee gingen. "Jedoch hatten die Schauspieler nach zwölf Aufführungsjahren einige Kilos zugelegt, Familien gegründet oder Rheuma bekommen. So bat ich Anfang dieses Jahrhunderts Lev Dodin, die Produktion neu aufzusetzen", erklärt Patrick Sommier, "und diese Überzeugungsarbeit hat zehn Jahre gedauert." Es hat sich aber gelohnt! Denn die inzwischen zum Mythos gewordene Inszenierung löst nach wie vor große Begeisterung beim Publikum aus.

In neunzehn packenden Szenen wird die Geschichte einer Gruppe Wehrpflichtiger in der ehemaligen UdSSR erzählt. Dodin versteht es meisterhaft, die Absurdität und Abgründe des Militärdienstes darzustellen. Sadistische Offiziere, die Übungen aus einem Buch vorgeben, zwingen zu einer sichtbar unmöglichen Körperhaltung. Stabschef-Grüße werden trainiert, Latrinendienst wird angeordnet. Trotz Kameradschaft mangelt es nicht an rassistischen Beschimpfungen. Juden, Zigeuner, Homosexuelle, alle werden gedemütigt und misshandelt. Ein brutales, unerbittliches Universum entfaltet sich auf der Bühne. Um dem zu entkommen, suchen die Jugendlichen Zuflucht bei Alkohol und Mädchen. In einem Bordell treiben es zwei auf einem vom Schnürboden wundersam herabschwebenden Klavier. Eine überdimensionierte Babuschka, die nasse Unterwäsche der Soldaten aufhängt, wird hart umworben. Doch die Euphorie gerät außer Kontrolle. Nach einer Trinkorgie lässt die Vergewaltigung nur noch Blutflecke auf dem Schnee zurück. Es ist eine desillusionierte Welt, eine Unbehagen verursachende Armee, vor allem aber Frauen und Männer, die mit einer abstrusen ideologischen Realität konfrontiert werden. Die Handlung von "Gaudeamus" ist schwarzer Humor vom Feinsten.

   Und doch ist das Gefühl der Traurigkeit nur vorübergehend. Lev Dodin verzerrt die harte Realität und schafft erstaunliche Bilder. Ein Wachkorps verwandelt sich bei Kerzenlicht in eine ausgelassene Ballettnummer. Es wird geflirtet, gelacht, getanzt, gesungen, sogar mit den Zehen Klavier gespielt. Die fünfzehn Schauspieler liefern eine großartige Leistung. In einer fesselnden Achterbahnfahrt nimmt der russische Meister die Zuschauer mit in eine Welt zwischen Burlesque, Varieté und poetischer Lyrik und verbindet dies auf unvergleichlich charmante Art mit internationalen Liedern und russischer Volksmusik. Dodins intelligente Produktion hat 25 Jahre nach ihrer Premiere nichts an Energie und Aktualität verloren und bietet nach Aufführungsschluss im Shuttlebus auf der Rückreise nach Paris Gelegenheit zum ausgiebigen Austausch mit anderen Zuschauern.

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