
Irina Wolf
wolfirina [at] yahoo.com
wurde in Bukarest
geboren.
Nach Abschluss ihres Infor-
matikstudiums kam sie 1988
durch ein Herder-Stipendium
nach Wien. Nach mehreren
Jobs im Telekommunikations-
und Forschungsbereich
wechselte
sie 1993 in den
Handelsbereich. Seitdem
arbeitet sie bei der
Friedrich
Wilhelm GmbH & Co.KG
und hält weiterhin
engen
Kontakt mit Rumänien.

(c) Irina Wolf
"Es sind nun zwanzig
Jahre vergangen, seitdem
die Länder Osteuropas,
darunter auch Rumänien,
ein neues Leben begonnen
haben. Es ist selbstver-
ständlich, dass wir uns
zahlreiche Fragen stellen:
Wer sind wir? Wohin
treiben wir? Was ist
unser Platz in der EU?
Nach welchen Werten
leben wir? Was ist die
Rolle des Künstlers in
einer Gesellschaft?"
(Constantin Chiriac)

(c) Irina Wolf
Mit mehr als 40 Ausstellern
und 3.000 Titeln auf einer
rund 700 Quadratmeter
großen Ausstellungsfläche
wurde heuer das Bookfest,
die erste Buchmesse des
Festivals, unter dem Motto
"Die Zeiten vergehen, die
Bücher bleiben" ins
Leben gerufen.

(c) Irina Wolf
Fünfundsiebzig Minuten
vom Feinsten bot der
Schauspieler Samuel Fintzi
vom Deutschen Staats-
theater Berlin in dem Ein-
Mann-Stück Tagebuch
eines Wahnsinnigen
von
Gogol und verlieh dem
zehntägigen Festival ein
besonderes Gewicht.
|
Der
Startschuss für ein ebenso spannendes wie innovatives Kulturprogramm fiel an einem
Freitagnachmittag: "Es war der fulminanteste Festivalstart aller bisherigen
siebzehn Auflagen", gestand Constantin Chiriac, Intendant des
Internationalen Theaterfestivals in Hermannstadt (Sibiu) am darauf folgenden
Tag auf der Pressekonferenz.
Zum Auftakt am
28. Mai gab es die Möglichkeit, gleich vier kontrastreiche Programmpunkte zu
sehen. Für Theaterkenner bildete das legendäre "Odin Theatret" aus Dänemark
mit der Vorstellung Ode to Progress unter der Regie von Eugenio Barba
eindeutig den Höhepunkt des Abends. In einem bis auf den letzten Platz
gefüllten Saal sorgte das britische Tanzensemble "Motion House" mit seiner
explosiven Performance Scattered (Tropfen) für ein
besonderes Erlebnis der Sinne. Ancient Art New Paths hieß das im
Anschluss vorgeführte Puppenspiel der traditionsreichen "Quanzhou
Marionettengruppe" aus China, das von minutenlangem Beifall und euphorischen
Bravo-Rufen belohnt wurde.
Schlusspunkt des
Abends bildete die französische Truppe "Transe Express" mit ihrer
spektakulären Straßenshow Mobilissimo. Über 40.000 Zuschauer
versammelten sich im Stadtzentrum, um die an Riesenkränen hängenden
Trommler, Bläser und Trapezkünstler, die in schwindelerregender Höhe neben
der Kirchturmspitze über den Großen Ring schwebten, zu bewundern.
Absolute Höhepunkte: die Theaterlegenden Peter Brook und Eugenio Barba
Unter
dem Motto "Fragen" ("Întrebări") rief das diesjährige Festival Publikum und
Künstler dazu auf, sich Gedanken über die bislang entstandenen Aufführungen zu
machen: "Es sind nun zwanzig Jahre vergangen, seitdem die Länder Osteuropas,
darunter auch Rumänien, ein neues Leben begonnen haben. Es ist
selbstverständlich, dass wir uns zahlreiche Fragen stellen: Wer sind wir?
Wohin treiben wir? Was ist unser Platz in der EU? Nach welchen Werten
leben wir? Was ist die Rolle des Künstlers in einer Gesellschaft?", zählte
Chiriac nur einige der vielen Fragen auf.
Nicht umsonst
hieß eines der am stärksten diskutierten Stücke der Festspiele Warum,
warum, eine Koproduktion des Schauspielhauses Zürich zusammen mit dem
Teatro Garibaldi di Palermo und Bart Production s.à.r.I. In seiner
neuesten Inszenierung untersucht Peter Brook, der zu den wichtigsten
Vertretern des zeitgenössischen europäischen Theaters gezählt wird, den
kreativen Prozess von Theater. Dadurch entstand eine Textmontage jener
Autoren und Künstler, die Brook am intensivsten beeinflusst haben,
zuvorderst Shakespeare. Die Zweifel, die zum künstlerischen Schaffen
gehören, fasste der Regisseur abschließend in der Frage "Warum?" zusammen. Eine
großartige Miriam Goldschmidt wird dabei auf der Bühne von
Francesco Agnello begleitet, der sie auf seinem "Hang"
– ein in der Schweiz
entwickeltes und noch kaum bekanntes Instrument
– aufs Schönste unterstützt.
Inside the
Skeleton of the Whale hieß die
zweite Produktion des renommierten "Odin Theatrets". Zur Verblüffung der
Zuschauer erfolgte der Eintritt zur Vorstellung nur nach Aufruf einer
VIP-Liste, woraufhin die außerhalb der Halle gebliebene Menschenmenge größer
als die der "Spezialgäste" war. Mit Rotwein, Oliven und Brot wurden die
glücklichen Teilnehmer zum "Letzten Abendmahl" empfangen. An zwei langen
gedeckten Tischen sitzend, durften sie der außergewöhnlichen Aufführung
–
einer Variation nach Franz Kafkas Prosatext "Vor dem Gesetz"
– beiwohnen. Der
Titel bezieht sich auf einen Vers des Evangeliums nach Matthäus: "Es
verlangt ein Zeichen; es wird ihm aber kein Zeichen gegeben werden als das
Zeichen des Propheten Jonas." Flackerndes Kerzenlicht hob die Stimmung noch
mehr hervor. Fast im Dunkeln spielten die acht Schauspieler des Odin
Theaters sich glänzend durch die Torhüterlegende, begleitet von
metaphysischen Versen aus den heiligen Schriften.
Beeindruckendes Patrimonium
Ebenfalls
in einer Fabrikhalle fand die Inszenierung von Goethes Faust unter
der Regie von Silviu Purcărete statt. "Ich würde meine Seele verkaufen, um
Faust wieder zu sehen", behauptete Euan Fergusson von "The Observer"
nach dessen Aufführung 2009 beim Internationalen Festival Edinburgh, bei dem
Ofelia Popii mit dem Herald-Angel-Preis für ihre Rolle als Mephisto
ausgezeichnet wurde. Wie schon im vorigen Jahr wurde der Parkplatz des
Nationaltheaters für Ovids Metamorphosen
– ebenfalls unter der Regie
von Silviu Purcărete
–, in ein riesiges Wasserbecken verwandelt. Neben diesen
beiden Megaproduktionen des lokalen Nationaltheaters "Radu Stanca"
gehört die wohl originellste Straßenbahnfahrt
Rumäniens, Eine Straßenbahn namens Popescu (Regie: Gavriil Pinte), zu
den meistgespielten Aufführungen der Festspiele.
Glücklich und
froh zeigte sich Intendant Chiriac, gleichzeitig Direktor des heimischen
Theaters, bei der Pressekonferenz: "Aus unserem reichen und vielschichtigen
Patrimonium haben wir bei der heurigen Festival-Auflage zum ersten Mal
eine eigene Sektion gemacht." Elektra nach Sophokles und Euripides
(Regie: Mihai Măniuţiu), Turandot nach Carlo Gozzi (Regie: Andriy
Zholdak) und Breaking the waves or the blessed life of Bess, eine
Dramatisierung nach Lars von Trier unter der Regie des jungen Radu-Alexandru
Nica, sind nur eine repräsentative Auswahl wichtiger Repertoire-Stücke. Mit
großer Spannung wurden die zwei Premieren Berlin Alexanderplatz nach
Alfred Döblin (Regie: Dragos Galgoţiu) und A Guide to my reclaimed
childhood von Andrei Codrescu, Gavriil Pinte und Florentina Mocanu
(Regie: Gavriil Pinte) erwartet. Nicht ohne Stolz sprach Chiriac von
beachtlichen 68
Vorstellungen, die deren eine
Theatersaison umfasse, davon fünfzehn Premieren. "Wir sind das einzige
Theater in Rumänien, das monatlich um die fünf Produktionen an sieben
unterschiedlichen Aufführungsorten spielt."
Literarische Brillanz
Eines
der Festivalziele ist es, die Theatertradition zu pflegen. Trotzdem setzt
das erweiterte Rahmenprogramm bewusst auch auf neue Akzente. Mit mehr als 40 Ausstellern und 3.000 Titeln auf einer rund 700
Quadratmeter großen Ausstellungsfläche wurde heuer das Bookfest, die
erste Buchmesse des Festivals unter dem Motto "Die Zeiten vergehen, die
Bücher bleiben" ins Leben gerufen. Das Messegelände am Kleinen Ring war
Treffpunkt nicht nur für Buchhändler, sondern auch für Multimedia-Anbieter
und Hörbuchverlage. Die erstmalige Buchvorstellung des in die rumänische
Sprache übersetzten Romans der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller
stellte definitiv das diesjährige literarische Highlight dar. Die
Präsentation von Müllers "Atemschaukel" setzte ein symbolisches Zeichen,
wenn man bedenkt, dass die Geschichte der Deportierung Leo Aubergs in
Hermannstadt seinen Anfang nahm.
Für Chiriac ist
die Buchmesse jedoch nicht der einzige Programmpunkt aus dem
Literaturbereich des Festivals. "Wir selbst produzieren eine bemerkenswerte
Anzahl von Büchern. Bisher haben wir 56 Bände herausgegeben, darunter
jährlich einen zweisprachigen Anthologieband, der Theaterstücke von sieben
Dramatikern, davon zwei rumänische, vorstellt. Diese werden während des
Festivals täglich in Lesungen für Radioaufnahmen vorgespielt. Bislang wurden
102 Werke von uns präsentiert", räumt Chiriac ein. Die diesjährige
Anthologie enthielt Stücke von Conall Quinn (Irland), Nina Mitrović
(Kroatien), Koffi Kwahulé (Elfenbeinküste), Lia Bugnar und Ioan Peter (beide
aus Rumänien) sowie Felix Mitterer und Volker Schmidt, letztere mit
freundlicher Unterstützung des Kaiserverlags Wien.
Ein
Wohlfühlerlebnis mit hohem Unterhaltungsfaktor
Das
opulente Mehrspartenprogramm aus Sprech- und Tanztheater, Straßenshows,
Konferenzen, Konzerten und Ausstellungen richtet sich an ein gemischtes
Publikum, an Menschen unterschiedlichen Alters und Hintergrunds, die offen
sind für
Neues und mit Interesse an Kultur und Kulturen. Eugenio Barba, italienischer
Autor und Regisseur und Gründer des Odin Theaters und der internationalen
dänischen Theaterschule, setzte heuer den Reigen prominenter Konferenzredner
fort. Bekannte Tanzgruppen, unter anderem die Kibbutz Contemporary Dance
Company (Israel), die Splish-Splash Theatre Company (Griechenland) oder
Masashi Mishiro Jazz Dance (Japan) führten zu schwungvollen Rhythmen ihr
Können vor. Zu Begeisterungsstürmen kam es durch die One-Man-Pantomime-Show
Traum des mittlerweile international bekannten rumänischen Tänzers Dan
Puric.
Die Liste der
unterhaltsamen Programmpunkte wollte kein Ende nehmen. Fünfundsiebzig
Minuten vom Feinsten bot der Schauspieler Samuel Fintzi vom Deutschen
Staatstheater Berlin in dem Ein-Mann-Stück Tagebuch eines Wahnsinnigen
von Gogol und verlieh dem zehntägigen Festival dabei ein besondere Note. Stark
umjubelt wurde der aufsehenerregende Faust des georgischen
Puppentheaters "The Basement Theater". Zu den vielen Highlights des
Festivals zählten außerdem die Underground-Vorstellungen der rumänischen
Alternativtheater "Luni im Klub Green Hours" Bukarest und "Yorick Studio"
Târgu Mureş im neu entdeckten Spielraum Klub Zebrano.
Ein
Wohlfühlerlebnis mit hohem Unterhaltungsfaktor boten Straßenkünstler aus
ganz Europa. Mit geballtem Programm an Comedy, dramatischer Feuerperformance
und gewagter Akrobatik sowie einem attraktiven Kinderprogramm wurde die
Innenstadt zu einer Oase der guten Laune für die ganze Familie. Die
musikalische Reise durch die verschiedensten Musikrichtungen für jeden
Geschmack, von Flamenco und indischer Musik über Folk, Beat und Roma-Musik
bis hin zu traditioneller Musik aus dem Balkan und beliebten rumänischen
Rockbands kam beim Publikum in der Fußgängerzone und auf der Zentralbühne am
Großen Ring bestens an. Mit mehr als 350 Events in und um Hermannstadt
präsentierte sich die XVII. Auflage der Internationalen Theaterfestspiele
als kulturelles Großereignis. |
|