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Kritik

Auf der Suche nach Sachen mit guten Wörtern – folgend den Spuren, Spuren, Spuren

Ein Streifzug durch die 7. Ausgabe der Zeitschrift „Sachen mit Wörtern“
Hamburg

Mit einem kleinen hintersinnigen Text von Jonis Hartmann beginnt die Ausgabe und man darf sich danach fragen, ob Gott ein Rattenfänger ist, würfelt oder etwas zu viel Bodenhaftung hat. Und ob Erleuchtung wirklich so wichtig ist.

Von Gott zum Embryo ist es nur ein kleines Stück. In Mercedes Spannagels Text muss die Protagonistin Anne einsehen, dass man Maschinenabläufe simulieren kann, aber Menschen der Evidenz in den Abläufen ihres eigenen Leibes unterworfen sind. Der Text erlaubt nur einen kurzen Einblick und man kommt nicht ganz an die Nervosität der Situation heran. „Anne denkt“ ist ein schnell entworfener Bewusstseinsinnenraum, in dem ein großes Thema flüchtig touchiert wird.

Wer schon immer einmal wissen wollte, ob Jäger auf Herz und Leber geprüft sein müssen, bevor sie ein Wild schießen (und ob sie dem Tier danach denselben Gefallen tun), und wieso kein Jäger von anderen Jägern Spuren findet, der sollte die hundert Worte von Manfred Sommerfeld, seines Zeichens Jäger, lesen. (Im Verlauf des Heftes werden sich noch ein Wissenschaftler und ein Archäologe in einem 100 Wörter-Text auf den Begriff Spur einlassen.)

In was für einem postapokalyptischen Franchise bin ich gelandet? Egal, es gibt noch Bären. Emily Grunert schildert die Jagd auf einen solchen, in eiskalter Umgebung, bewaldeter Landschaft. Die kriegt man trotz einiger Details ebenso wenig zu fassen wie die Gestalten von Vater und Kind. Bis zur Kampfszene, die sehr gut inszeniert ist, plätschert der Text so dahin.

Während ich bei dem Gedicht „Ungeborene Wüstungen“ von Tobias Roth nicht ganz verstehe, auf welche Geoglyphe der späten Moderne er hinauswill, ob es ihm um die Spuren der griechischen Misswirtschaft oder um die der ebenso desaströsen europäischen Sparpolitik geht, gelingt Anna Hetzer mit „über den imjin“ (der imjin ist ein Fluss, der u.a. durch die demilitarisierte Zone zwischen Nord- und Südkorea fließt) ein schmales und eindrückliches Portrait einer Grenze, eines Trennstriches, der mit fester Hand gezogen wurde und an den die Spuren von Verzweiflung und Hoffnung gespült werden.

Fein geführte Sprache – ich deute das Verströmen von Birgit Kreipes Gedichten als ein Übereinander-schieben verschieden funktionierender Verweise, die sich durch ihre Bilder Eindrücke zurechtbrechen und es so dann und wann schaffen, zu etwas Echtem, das dem Eindruck auch Inhalt sein kann, vorzudringen.

Manches begleitet einen ein Leben lang – wenn das gesagt wird, ist aber meist von ideellen Werten und Vorstellungen die Rede. In Matthias Engels Gedicht „in jeder austauschbaren näheren fremde“ sind es Granatsplitter, Schläfennarben und andere, das Physische betreffende Wegbegleiter, bei denen man davon ausgehen kann, dass sie immer dabei waren – bei allen zentralen Ereignissen einer Existenz zugegen. Engels schildert Lebensbögen und irgendwie machen die Spuren hinterlassenden körperlichen Einschnitte, die als Ausgangspunkte dienen, die Geschichten greifbarer, heben die Gestalten durch die „austauschbare nähere fremde“, das Merkmal, aus der bloßen Erwähnung in eine Wirklichkeit, machen sie plastisch. Denn trotz ihres fragilen Daseins, ihrer vom Zufall bedingten Lebensentwürfe, ist da immer etwas Konkretes, das sie quasi in der Welt verankert.

Das erste Mal, dass ich mich gänzlich öffne, und dann so eine Scheiße.

Die Scheiße ist die Apokalypse und die tritt ausgerechnet dann ein, als der/die Protagonist*in Molly gerade dabei ist, sich in einem Sex-Hotel in Ceres zu verlieben, während man endlich einmal zu zweit die Freuden des Wassersports genießt. Nun stieg aber völlig unerwartet der Meeresspielgel, alles steht unter Wasser und das Hotel liegt auf einer Insel. Aber die Menschheit hat ja Spuren hinterlassen: „Sein und Zeit“, Plastikpalmen und vielleicht ist das jetzt ja die Gelegenheit für einen radikalen Evolutionssprung, den Homo Novus, der im Wasser lebt, frei und immer jenseits des Horizonts. Aber eine Zeit halten die Gestrandeten noch an der alten Ordnung fest, konsumieren noch eine Weile die Errungenschaften und den Wahnsinn der untergegangenen Welt. Mit virtuos gestreuten Anspielungen und sensibler Anarchie ist Rudi Nuss mal wieder eine phantastische Entropie gelungen, die ganz viele Spuren von Utopie enthalten kann. Als hätte man Kurt Vonnegut auf die Postmoderne losgelassen.

Irgendwie fühle ich mich unwohl mit Johannes Witeks Gedichten. Sie bewegen sich präzise, gekonnt, läppisch und laufen am Ende auf ein mehr oder minder unspektakuläres Spiegelvorhalten/Kommentieren hinaus. Kleine Desillusionierungen. Ein Gedicht, das eine Darstellung und dann einen Kommentar zur Darstellung liefert … das macht es sich zu einfach, für mein Empfinden. Reicht dem Leser keinen Eindruck, sondern eine Gebrauchsanleitung.

Saugroboter sind schon was Feines. Parodien und Travestien auch. Beides zusammen ist also gleich doppelt fein und sogar komisch. Sören Maahs gelingt es mit seinen kurzen Fake-Zitaten, in denen u.a. Marcel Proust, Schiller und Goethe, sowie Bukowski ihre Begegnungen mit Saugrobotern haben, tatsächlich, mich zum Lachen zu bringen. Bei ein-zwei Parodien ist es schon etwas platt, was er abzieht. Aber bei Thomas Bernhard und G. und S. ist es zum Schießen. Ich gebe vier von fünf Sternen.

Abenteuerlich nimmt sich der Bericht von Frank Sievers über die Reise zu und durch einen holloway, einen Hohlweg, in Südengland aus. Pittoresk in seiner Beschreibung der entlegenen, wildnishaften Atmosphäre, gelingt ihm eine fast magische Beschwörung, eine greifbare, plastische, triefende Verkörperung des Hohlwegs, die im Text Gestalt annimmt und auf die Fantasie des Lesers überspringt. Ein Ort wird aufgebaut, nicht weit entfernt von allem Zivilisatorischen, aber gut davor verborgen; ein Ort, der einen Weg in eine noch leicht geheimnisvolle Wirklichkeit zu weisen scheint und Spuren von lebendigem Zauber auf seiner Oberfläche schillern lässt.

Dirk Bathens wunderschöne Textmontagen sind ein echtes Highlight des Heftes. Es ergeben sich nur kurze, unscheinbar-poetische Sätze aus der fast vollständigen, immer wieder anders komponierten Kolorierung der unbekannten Ausgangstexte, aus der einzelne Wörter noch hervorlugen, aber zusammen mit dem optischen Genussfaktor bilden Satz und Graphik eine tiefe poetische Einheit. Bei all dem auch noch ein leichter Witz. Fünf Kunstwerke, die man gesehen/gelesen haben sollte!

Alle Dinge, selbst die von Menschenhand gemachten, haben eine erkennbare und eine unerkennbare Seite, sie suggerieren eine gewisse Verständlichkeit und bleiben doch, schon in ihrer reinen Existenz, mysteriös.

Ein Interview mit Marion Poschmann über Gedichte, Gärten, Sichtbares und Unsichtbares. Schnell entfalten die Ansichten der Dichterin eine starke Faszination. Ich war enttäuscht als das Gespräch bereits nach drei Seiten zu Ende war.

Während ich allen ungewollten Geschichten im Gedicht von Pega Mund gerne kurz lausche, stößt mich Sascha Kokot mit seinen Versen in eine Dystopie, so klein, so unaufgeregt, dass sie schon wieder beklemmend wirkt und direkte Assoziationen und Gefühle in mir aufsteigen lässt.

Titus Meyers Palindrom- und Anagrammgedichte haben ohne Frage immer wieder etwas Erstaunliches, auch immer wieder etwas Weisendes – aus der Verfahrensweise springt schon mal ein Scherenschnitt, dem rasch eine schön-geschnittene Papierfigur gelingt, halb eindrücklich und halb abstrakt. Aber trotzdem haben die Gedichte eben auch etwas Generiertes, Vorhersehbares, Ermüdendes, ihre Faszination stumpft schnell ab. Es bleiben ein Rest Bewunderung und (vor allem in ersten Gedicht) einige sehr schöne Wortmalereien.

Ein sehr gutes Gedicht hat Jürgen Reißer verfasst. Es schiebt seine Bilder gekonnt übereinander, man kommt sich vor als verfolge man eine diffuse Gemeinsamkeit zwischen ihnen. Und doch entlässt es einen letztlich mit Abgestreiftem, Übergestreiftem, Gestreiftem.

Grauselig, gruselig, düster – Yannic Federers Text handelt von jemanden, der anscheinend mit Wertpapieren oder dergleichen handelt, gesundheitsfanatisch und mit viel Nasenbluten gesegnet, eine kaputte Figur. Das Setting, ergänzt um die Figur eines Hausmeisters mit Endzeitphantasien, hat etwas Unheimliches. Der Erschöpfungszustand des Protagonisten, der suggeriert wird, kommt gut rüber, aber in ihrer Kürze fehlen der Geschichte dann doch die Bodenhaftung und die Tiefe.

Die Formulierungen und Bilder in den kurzen Texten von Martin Lechner sind manchmal nah am Manierismus gebaut. Die Verzerrung, die er in diesen Schlenkern vornimmt, schlagen sich auch nur teilweise in daraus hervorgehenden Erkenntnissen über das Wesen des Beschriebenen nieder. Sie haben eine besondere Leichtigkeit, diese Texte, eine von vorneherein absichtslose Haltung. Aber ich verstehe ihren Ansatz nicht.

Die Auflistung der „Personenspuren im Immobilienmarkt von Tokio“ ist eine vom Google-Übersetzer übertragene Chronik von Selbstmorden, Unfalltoden, Unklarheiten. Mikael Vogels Text irritiert – durch seine Herkunft, seine Botschaft, seine Bewegung. Es ist wie ein Blick in das Register eines allumfassenden Weltgedächtnisses, das keine Geschichten hinter den Dingen kennt oder skizziert, sondern nur noch Frakturen, die kurz auftreten und schnell wieder verheilen.

Mir gefällt der leicht anarchische Zug, die übertölpelnde Phantasie und Bilderflut in dem Gedicht von Ronja Seifert. Macht Spaß!

Anja Kümmels Nostalgiefragmente zu Berlin, ein Streifen, in dem immer mal wieder ein Flugzeug abhebt oder landet, ein Detail auftaucht, ohne im Fluss wirklich erkennbar zu sein. Ich mag die Haltung des Textes und ich mag das, was er mir wirklich an die Hand gibt; aber er gibt mir wenig an die Hand.

Anne Bünnings zunächst missmutig erscheinende Geschichte einer Fahrt vom Bahnhof ins Dorf entpuppt sich als die kurze Innenschau eines Menschen, der erkennt, dass er sich seinen Platz im Leben selbst suchen muss, weil keiner für ihn bereitsteht. Die Sehnsucht nach einem solchen Platz aber bleibt, egal ob es dabei um den Beruf, die Liebe oder sonst was geht.

Der für mich beste Text der Ausgabe ist „Vier Regalmeter für ein Halleluja“ von Sophie Weigand – ein Plädoyer für das, was in Büchern drinsteckt und -steht, in Opposition zu einer Internetkultur, die das Buch als Maskottchen, Ikone, Relikt, Artefakt und Accessoire missbraucht. Klug, versiert, nicht eindimensional und gut geschrieben. Vielleicht mag ich den Text nur so sehr, weil er mir direkt aus dem Herzen spricht. Aber das reicht ja auch!

Die Illustrationen, die dem Heft eine fröhliche, leichte Note geben, die vielleicht ein bisschen zu sehr auf die an die Texte gerichteten Erwartungen abfärbt, wurden von Petrus Akkordéon und Dirk Bathen gemacht und gefallen, man ertappt sich beim Lächeln.

Es ist sehr schön, dass bei den „Sachen mit Wörtern“ die Kurzbiographien der Autor*innen direkt unter den Texten stehen – man erspart sich das ständige Vorausblättern zur letzten Seite.

Insgesamt findet sich in dem Heft allerhand kurzweiliger Zeitvertreib, aber ein bisschen zu wenig Metaphysik, für meinen Geschmack. Dafür wird das Thema Spur auf vielfältige und teilweise erstaunliche Weise ausgeleuchtet und nach den paar Entdeckungen, die man gemacht hat, ist man eigentlich sehr glücklich, sich mit den vielen Texten auseinandergesetzt zu haben. 

An der Ausgabe beteiligte Autor_innen: Dirk Bathen, Anne Bünning, Matthias Engels, Yannic Federer, Emily Grunert, Jonis Hartmann, Anna Hetzer, Sascha Kokot, Birgit Kreipe, Anja Kümmel, Martin Lechner, Sören Maahs, Titus Meyer, Pega Mund, Rudi Nuss, Marion Poschmann (Interview), Johann Reißer, Tobias Roth, Ronja Seifert, Frank Sievers, Mercedes Spannagel, Fabian Steidl, Kinga Tóth, Mikael Vogel, Sophie Weigand, Johannes Witek, Maximilian Zander.

 

Rosa Baumgartner (Hg.) · Mena Koller (Hg.) · Theresa Mienau (Hg.) · Laura Schlingloff (Hg.) · Anneke Lubkowitz (Hg.)
Sachen mit Wörtern | # 7 Spur
Zeitschrift für Literatur und Ähnliches
Illustrationen: Petrus Akkordeon
Sachen mit Wörtern
2016 · 3,50 Euro

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