Glanz
&
Elend
Magazin für Literatur und Zeitkritik
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Die menschliche
Komödie
als work in progress
Zum 5-jährigen Bestehen
ist
ein großformatiger Broschurband
in limitierter Auflage von 1.000
Exemplaren
mit 176 Seiten erschienen, die es in sich haben.
Thomas Pynchon
Das große
Lied vom
Ende der Hippies
Goedart Palm enthüllt virtuos, warum der neue Roman des Meisters aller Klassen mehr als eine Detektiv-Geschichte ist.
»Natürliche Mängel« ist das psychedelisch oszillierende Sittenbild der
ausgehenden
Love & Peace-Generation. Prolog Fast zeitgleich mit dem
Erscheinen von Thomas Pynchons psychedelischem Hippie-Detektiv-Roman in den USA wurde Mitte
August 2009 Lynette Alice »Squeaky« Fromme im Alter von 60 Jahren auf Bewährung
aus dem Gefängnis entlassen. Squeaky? Angeblich erinnerte ihre Stimme an ein
Schweinchen, wenn man(n) sie kniff. Weitere lustige Geschichten von Charlie
Manson und seiner »family« gibt es nicht zu berichten. Charlie Mansons
getreueste Anhängerin und zeitweise sein Sprachrohr hat ihm während ihrer rund
34 Jahren Haft angeblich nie abgeschworen. Manson hat(te) Charisma, so
unbeholfen sein Englisch und so wirr seine Rede waren. Vielleicht gerade
deshalb. Nicht nur seine Jünger, auch die Medien reagierten auf ihn hungrig bis
lüstern. In »Natural Born Killers« wird diese kriminelle Mega-Eminenz zur
mythisch-ironischen Hintergrundfolie des bösen Pärchens Mickey and Mallory, die
schon mächtig verrucht sind, aber den Altmeister des Bösen übertrifft man nicht
so leicht.
Pynchons Roman »Natürliche Mängel« mit einem für diesen Autoren schmalen Umfang
von rund 480 Seiten ereignet sich im Jahr 1970, in dem kurzen Zeitraum nach der
Verhaftung Mansons und vor dessen Prozess. »The '60s are gone, dope will never
be as cheap, sex never as free, and the rock and roll never as great«, markierte
der berühmt-berüchtigte Aktivist Abbie Hoffman das Ende einer »Epoche«, die nur
eine grellbunte Farce gewesen sein mag und doch über die Zeit hinaus genügend
imaginären und chemischen Stoff zum Träumen liefert. Das Ende der Hippie-Kommune
»Manson Family« steht für die Zertrümmerung der delirierenden »Love and Peace«-Menschheitsverbrüderung. So wie die Tötung von Benno Ohnesorg und das
Attentat auf Rudi Dutschke Hegels Diktum von der Schlachtbank der Weltgeschichte
auch für kleinere Weltrevolutionen im studentischen Laufschritt bewahrheiteten,
gerieten die künstlichen Paradiese in Haight Ashbury mit Mansons Monstertour in
das chiascuro einer heimtückischen Welt.
Janis Joplin hatte es in ihrer bodenständigen »Beatnik«-Sicht schon immer
gewusst: Die Zeiten werden nicht besser, »the times they are a changin« (Bob Dylan), und deshalb sind wir schon
froh, wenn es für ein paar angenehme Tage vor dem allfälligen Untergang reicht.
Nach Mansons Exzessen gibt es noch Hippies, doch ihre psychedelischen Träume
sind jetzt vom Sündenfall überschattet. Die zu- und hochgedröhnten Tage
erscheinen Pynchon als eine »kleine Parenthese des Lichts«, während jetzt Drogen
nicht mehr nicht mehr nur die schönen Träume produzieren sollen, sondern auch
helfen, die bösesten Träume zu verdrängen. Kurzum:
California Nightmarin´.
Ein Tag im Leben von Doc Sportello
Die »Manson-Pynchon-Line« in »Natürliche Mängel« ist komplexer
und unterirdisch verzweigter gebaut, als es die Oberflächenkoinzidenz der
Ereignisse verrät. Der kriminalistische Kiffer Doc Sportello, ein hippiesker
Nachfahre von Philip Marlowe, schnüffelt zwischen den Welten. Die Geschichte
beginnt mit einem verwaschenen (!) Country Joe and the Fish T-Shirt, das Docs
Ex-Freundin Shasta trägt, als sie ihn beauftragt, den Verbleib von Mickey
Wolfmann aufzuklären. Shasta ist Mickeys neue Flamme. Mickey ist ein ominöser
Tunichtgut, der seine Finger in vielen Geschäften hat und nun von der Bildfläche
verschwunden ist. Diese Initialzündung wird vordergründig zu einer multiplen
Travestie der Romane Raymond Chandlers und Dashiell Hammetts entfaltet, wobei
Thomas Pynchon wohl noch weniger als die beiden großen
Detektiv-Geschichtenerzähler am Holzschnittcharakter seines Helden oder dessen
Widersacher interessiert wäre. Letztlich spielt nicht mal die Geschichte selbst
eine Rolle. Figuren haben bei Pynchon keine psychologische Bedeutung, sie sind
Allegorien oder Intensitäten der Dinge, für die wir noch keinen idealen Namen
gefunden haben. Die ins Figurengeflecht geworfenen Protagonisten wie Sauncho
Smilax, Bigfoot Bjornsen, Japonica Fenway, die FBI Agenten Flatweed and
Borderline oder die Stewardessen Motella and Lourdes verraten im Namen bereits
ihre groteske Geburt aus dem ironischen Geist der aufdringlichsten Anspielung.
Pynchons »Puck Beaverton« etwa mischt Doc Sportello einen schlimmen Trank unter,
der Doc in einen Sommernachtsalptraum der härteren Sorte schickt. Solche leicht
rekonstruierten Themencluster haben Pynchon Kritik eingebracht. Kritiker sehen
hierin das ewig gleiche Panoptikum von paranoiden Figuren, die sich um die
immergleichen Pynchon-Themen drehen. Diese Geschöpfe konzentrieren Prozesse der
Erkenntnis und Existenz, die jenseits der kontextuellen Spiele Pynchons keinen
Sinn machen würde. Mit solchen Figuren kann man nicht mitfühlen, sie schaffen
Vorwände für Sphärenbesuche der verschiedensten Art, aber danach wirft man sie
weg wie Zigarettenkippen. Madame Bovary, die mit anderem Namen nach Auskunft
»ihres« Autors zugleich »Gustave Flaubert« hieß, hätte ihren höchsteigenen Roman
in jede andere literarische Wirklichkeit verlassen können. Doc Sportello ist
dagegen ein narrativer Vorwand, Pynchons delirierenden, zugleich aber
kalkulierten Beziehungswahn freizuschalten.
»Paranoisch-kritische Aktivität bedeutet: spontane Methode irrationaler
Erkenntnis, die auf der kritisch-interpretierenden Assoziation wahnhafter
Phänomene beruht.« So beschrieb Salvador Dali 1935 einen ähnlichen Zugang zu
einem diffamierten Weltwissen, das nach Sigmund Freud mit vielen Mitteln urbar
gemacht werden muss, ohne es in vordergründigen Rationalisierungen zu ersticken.
Im vorliegenden Roman verschaltet Pynchon zu diesem Behuf die alte Kalauer- und
Comic-Kunst mit hochmögenden Spekulationen über die letzten Geheimnisse dieser
Welt. Sportello ist ein Sherlock Holmes, der im Dienst der guten Sache seine
Pfeife diesmal mit psychoaktiven Medien stopft. Wenn man den richtigen Stoff
findet, beginnen die nüchternen Fakten untergründig in vielen Stimmen zu
sprechen.
»Es ist stets ein Kampf gewesen, die Wahrheit zu finden, denn die Autorität
eines anderen oder das Aufdrängen von Seiten eines anderen oder die
Verführung durch einen anderen hat mich nicht
zufriedengestellt. Ich wollte sie für mich selbst entdecken, und so musste ich
natürlich leiden, um sie herauszufinden.«
Jiddu Krishnamurti, der an der Peripherie von »Natürliche Mängel« aufleuchtet,
formuliert hier die einsamen Leiden der Spürnasen des Schattenreichs, die die
wahre Wahrheit suchen, während sie von offiziellen Schnüfflern behelligt werden,
wie es der obercoolen Tradition Philip Marlowes entspricht.
Doc fürchtet, nur ein brutistischer Aufklärer-Cop wie
Bigfoot Bjornsen zu werden, der Docs wide-screen-Aufklärung als »Hippiephanien«
gering schätzt. Doc Sportello besitzt keine reflexive Identität. Er folgt
Träumen, Eingebungen, Bildern und transzendiert so die messerscharfe
Spürnasen-Logik a la Sherlock Homes. Für
diese kriminalistische Spurensuche und Erleuchtung gelten letztlich dieselben
Grundsätze: »Vielmehr ist es die Beharrlichkeit und das Durchhaltevermögen, die
die Möglichkeit einer spirituellen Entwicklung gewähren« heißt es in einem
Blog des Hermetic Order of the Golden Dawn Deutschland Ȇber die Notwendigkeit
von Disziplin in den magischen Künsten«. Magische
Missionen, magical mystery tours, gibt es in Pynchons Detektivgeschichte viele:
»It is the mission of the LAPD to safeguard the lives and property of the people
we serve.« »To
protect and to serve« ist das Motto des Los Angeles Police Department, was eben
so religiöse wie kriminalistische Fragen aufwirft, denen man, und da sind sich
Hippies und Cops einig, mit allen zur Verfügung stehenden Medien beikommen muss.
Shasta Scenes
Zentral in Pynchons Geschichte ist der mythenexplosive
Mount Shasta, der zweithöchste Vulkan im Norden Kaliforniens. Literarisch ist »Natürliche Mängel«« ein raffiniertes sequel zu Frederick S. Olivers
»A Dweller on Two Planets«
bzw. dessen Fortsetzung »An Earth Dweller´s Return« (1940) von
Phylos dem Tibeter,
die hier ihren Schauplatz finden. Mickey Wolfmann ist der seinem neuen Ruf
folgende bekehrte »Dweller on Two Planets«, dessen literarisch weitläufiger
Mythos sich mit den Hippie-Sehnsüchten einer von der Realität entlasteten Magie-
und Techno-Welt verbindet. »Shasta Fay Hepworth« als Sportellos Ex und Freundin
von Mickey ist die wahre Schizo-Lady, die das Leitmotiv als Fleisch gewordenes
Anagramm einer Leinwandgöttin vorgibt. In »Mount Shasta« haben diverse Mythen
ihren Ursprung wie jener, der schneegekrönte Berg sei die pazifische
Nordwest-Version des »Ararat«. Nach indianischer Überlieferung wohnt auf dem
Berg »Shasta« der geistige Führer Skell, der vom Himmel zur Bergspitze
heruntergestiegen ist. Der Weise Quong, der den »Wanderer zwischen den Welten«
zum Mount Shasta führt, erklärt detektivisch: Leicht verfehlt man den Eingang zu
dieser anderen Welt, denn die Neugierigen sollen getäuscht werden. Wirklichkeit
ist nicht notwendig eine irdische, erdgebundene Festigkeit, heißt es bei
Frederick S. Oliver, der nicht durch europäische Philosophie geschulte,
pragmatische Amerikaner darauf hinweisen will, dass »Materie«, »mouldy old dough«
und anderer Schlamm nicht die einzige Wirklichkeit sind. So präsentiert sich
diese Neophyten-Esoterik zwischen Erleuchtung und Elektrizität als komplexe
Licht-Metaphorik, die in Pynchons illuminierter Welt in vielen Varianten
scheinen und erscheinen darf. Oliver und sein Nachfolger schrieben eine wilde
Geschichte, die den Helden im Inneren von Mount Shasta in Venus/Hysperia Gefilde
katapultierte, um dort wilde Techno-Fantasien zu antizipieren. Dieses Buch war
nach Oliver als Eingebung eines »channel« auf ihn gekommen. Die Wahl des
richtigen »channel«, also die Suche nach dem Sender, die auch uns täglich bei
der Programmwahl quält, ist die zentrale Frage drogengestützter
Psycho-Epistemologie. Bieten Drogen ein kognitives oder rezeptives Schema, das
Thomas Pynchon ernst nimmt oder verdinglichen sie nur das literarische Prinzip
seines kalkulierten Beziehungswahns? Doc Sportello räsoniert darüber, dass sie -
die Regierung, die Herrschenden - Acid verboten haben, als sie darauf kamen, es
könnten magische Kanäle geöffnet werden und Dinge ansichtig werden, die nicht
für das einfache Volk bestimmt sind. Die Droge ist das Medium ist die Botschaft
ist Gott.
Doc Sportello bietet seinen Kunden LSD, nicht »Lucy in the sky with diamonds«,
sondern »Location, Surveillance, Detection«. »LSD« galt auch als Charlie Mansons
Herrschaftsinstrument, um seine rothaarigen, mordbereiten Hippie-Mädchen bei der
Stange zu halten. LSD ist der magische Superstoff, der alle Seiten der vielen
Fronten verbindet, so verschieden sich die Machtkonzepte der LSD-Gläubigen auch
darstellen. Die Geschichte des Verhältnisses von CIA und LSD ist in »Acid Dreams:
The Complete Social History of LSD: The CIA, the Sixties, and Beyond« von Martin
Lee und Bruce Shlain minutiös dokumentiert. Die CIA war besessen von der
Techno-Fantasie, LSD als Spionagewaffe im Kalten Krieg einzusetzen. Könnte man
die roten Krieger in aller Öffentlichkeit lächerlich machen? Würden Fidel Castro
oder Mao vor allen Augen delirieren und – man höre und staune – die Wahrheit
sagen? So hätten wir die Wahrheit des real existierenden Sozialismus in der
höheren Wirklichkeit des Rauschs widerlegt. Statt des CIA-Fantasmas entfalteten
dann jedoch die Drogengurus Timothy Leary, Abbie Hoffman, Ken Kesey oder Allen
Ginsberg die sozialen und ästhetischen Dimensionen dieser Droge, die schließlich
eine ganze Ära »branden« sollte. In jener aufgeheizten Afri-Cola-Werbung von
Charles Wilp für den Massengeschmack jener Tage wurde das Prinzip schon richtig
erkannt: Alles ist in diesem Stoff.
Diese Welt wurde nicht von
den Hippies erfunden, aber sehr weit aufgezogen, zudem sie nun von jedem
aufrechten Junkie angesteuert werden konnte. Auch wenn von Gurus die Rede ist,
ist der Weg im wildbunten Omnibus, im Hippie-Mahayana, von jedem befahrbar.
»Sexy Sadie« ist doch selbst nur eine Illusion. Psychedelik heißt die Methode,
die Dimensionen des Erfahrbaren zu vervielfältigen, das Multiversum zu
durchfliegen wie in jenem farbflirrenden Innenwelttraum, den Stanley Kubrick in
2001 für die Süchtigen der Midnight Movies schuf. Die Intuition der Vernunft
lehrt, dass alles »irgendwie« zusammen gehört - doch man weiß es erst wirklich,
wenn man in den ozeanischen Gefühlen eintaucht, die jede Dislokation zulassen.
Thomas Pynchon transzendiert Bucky Fullers »Raumschiff Erde« mit der Idee von »zomes«
(zonahedral domes), die einen zu völlig anderen Orten bringen, insbesondere,
wenn sie in der Wüste stehen. Schon zuvor hatte Pynchon in »Against the day«
versucht, die paradoxen Dimensionen mathematischer Räume mit ihren geopolitisch
verrückten Beziehungen literarisch nachzubilden.
Boden- und Drogenideologie
Atlantis, Lemuria und Mount Shasta sind esoterische
Dauerbrenner, denen Pynchon in diesem Roman einige Transzendenzen zurückerobert,
die sie in ihren Popularisierungen, im Hippie- und New Age-Kitsch verloren
hatten. Docs »Aunt Reet«, von Pynchon bei »Jane Eyre« ausgeborgt und mutiert,
weiß alles über das Land, die Immobiliengeschichten, die Sedimente der
Generationen und untergründigen Wahrheiten des Bodens. Während sie Doc mit Infos
füttert, spekuliert sie in ihrer Immobilienphilosophie über die künftigen Zeiten
des Internet, wo sich Daten wie Erdschichten übereinander legen und alles
gewusst werden kann. Das Land ist viel mehr als nur ein Katastereintrag oder
Wertobjekt. Sollte man Taue um sein Grundstück legen, wie es der Aberglaube
will, um sich vor mancherlei Unbill zu schützen? Der im Geld schwimmende Crocker
Fenway präsentiert eine andere Variante der Landnahme: die reaktionäre
Welterschließung, demnach die wirklichen Werte wie Land, Öl und Arbeitskraft den
Reichen gehören und die anderen, Hippies und Glückssucher aller Sorten, nur auf
kurzen Wellen trügerischer Freuden surfen. Seitdem »Lemuria« von Helena Petrovna
Blavatsky in der 1880ern mythenproduktiv eingeführt wurde, reißen die
Imaginationen zu den verlorenen Kontinenten und Inseln Atlantis, Lemuria, Mu
oder Saragalla (Alexander Moszowski) und ihren gegenwärtigen Wiedergängern nicht
mehr ab. Der Krieg in Vietnam wiederholt nur eine karmische Schleife, die so alt
ist wie die ozeanischen Gefilde, um einen ewigen Stellvertreterkrieg
aufzuführen. Der Mann mit den 50 Tarnnamen, deren geläufigster Ho Tschi-minh
(»Der die Erleuchtung bringt«) war, war
gebürtiger Lemurier, Nixon dagegen Atlantis-Nachfahre. So erklärt sich
Geschichte als ewiger Antagonismus alter Mythenvölker. Thomas Pynchons
literarische Spielfreude ist vorzüglich geeignet, die Paranoia zu schüren, die
solche Orte verdinglichter Metaphysik
mit allen möglichen Projektionen auflädt. Ohne diese Projektionen gibt es keine
Wirklichkeit, wie es Pynchon so multidimensioniert in den Riemannschen Räumen
von »Against the day« demonstrierte. Diese imaginären Kontinente, die in einer
Kontinentalkorrektur zu ihren irdischen Komplementen finden müssen, sind schon
immer die genuinen Erdteile der Literatur gewesen.
Orte
sind, so wie sie Philip K. Dick auch oft inszeniert, mehr oder weniger
unheimlich, gut oder böse, besitzen eine eigene Aura und sprechen eine eigene
Sprache: »Godzilligan's Island« – das heißt: Gilligan und Godzilla hybridisieren,
weil der Schrecken und die Possen längst nicht verschiedene Welten anzeigen. Was
lernen wir daraus? In der Bauordnung einer intelligenten Karma-Politik sollte
man es sich zweimal überlegen, alte Indianer-Grabstätten aufzureißen. Aunt Reet
sei Dank! Und wer zuvor einen Klempner brauchte, braucht heute einen
Dezombifikateur, wo doch schlechtes Karma immer und überall wuchert. Zentral in
den Mount Shasta-Legenden ist der alte Zauberer Coyote-Mythos, dem Mansons
autistisch selbstgestrickte Coyote-Erzählung folgt.
Charles Manson suchte 1968 im Death Valley vor
Erdlöchern obsessiv nach einem geheimnisvollen Volk einer dritten Welt.
Der Coyote ist mal der gute, mal der böse Geist, was
Mansons frei interpretierende Faszination für dieses schamanische Personal der
Hopi-Indianer erklären mag: »Christus am
Kreuz, der Kojote in der Wüste - das ist ein und dasselbe. Der Kojote ist schön.
Er bewegt sich graziös durch die Wüste, er ist kaum wahrnehmbar, er ist sich
aller Dinge bewusst, schaut um sich. Er hört jedes Geräusch, wittert jeden
Geruch, sieht alles, was sich bewegt. Er befindet sich immer in einem Zustand
völliger Paranoia, völlige Paranoia aber ist totale Bewusstheit. Du kannst vom
Kojoten lernen, genauso wie du von einem Kind lernst. Ein Baby kommt zur Welt in
einem Zustand der Angst. Völlige Paranoia und totale Bewusstheit...«
»Toto, ich habe das Gefühl, wir befinden uns nicht mehr in Kansas.« Völlige
Paranoia und totale Bewusstheit?
Thomas Pynchons literarische Realität ist ähnlich konstruiert wie die des
genialen Philip K. Dick. Wirklichkeit heißt, dass der Boden wegklappt und die
Helden nicht wissen, ob es nun Halluzinationen sind oder die wirkliche
Wirklichkeit, die sich wie ein Abgrund auftut, einen in das schwarze Loch zieht
und - hoffentlich – irgendwo an einem besseren Ort wieder ausspuckt.
Wahrscheinlich erleben wir einen dritten, unbenannten Zustand, der das tradierte
Kalkül einer schlichten Alternative von Sein und Schein überschreitet. Bei Dick
gehört dieses ungemütliche Gefühl der Realitätsdrift zur conditio sine qua non
der literarischen Konstruktion. Intuitionen sind trügerisch und nur, wer neue
Verbindungen riskiert, wird verstehen. Psychedelische Surfer-Herrlichkeiten, in
denen sich Mystizismen, Freak-Power und der Rest der guten Dinge übereinander
legen, demonstrieren Pynchons Produktionsmethode. Seine Wirklichkeit ist das
Spiel der »layer«, der lasierenden Überlagerungen, des schwer entwirrbaren »Chaa-tcha«
der Bedeutungen, die dem durch Pot und Acid, nicht weniger durch literarische
Ambitionen angeheizten Hirn die ungeheuerlichsten Wirklichkeiten produzieren.
Wer jetzt noch diskret
zwischen Wirklichkeit und Schein unterscheiden will, ist selber schuld. Sherlock
Holmes soll nur Fiktion sein? Das kann nicht sein, wenn er mit allen Anzeichen
des Wirklichen in der Baker Street gelebt und geschnüffelt hat. Im »re-entry«
der Fakten in die Fiktion wird es literarisch sinnlos, die Unterschiede zwischen
solchen F-Wörtern ernst zu nehmen. Thomas Pynchon lässt jede Wirklichkeit zu,
auch und gerade im psycho-ondulativen Kitsch oder banalsten Alltag kann das »sartori«
hinter der nächsten Biegung einsetzen – so wie es die Zen- und Sufi-Meister
schon immer wussten. Sollte jener Dick Dale-Song, der sich zum Surf-Crescendo hochquirlt,
die »pipeline« zur ultimativen Erleuchtung sein.
Die Parole der Pariser Studenten im Mai 1968 »Unter dem Pflaster der Strand« ist
auch das Motto des Romans. Wir befinden uns nur dann auf dem grauen Boden der
Tatsachen in Paris, Kansas, Venice oder Gordita Beach, wenn uns der wahre Stoff
ausgeht. Die Hippie-Philosophie, die noch nicht polit-aktivistisch verflogen
ist, hadert mit den Widerständen der Welt, die nicht dialektisch versöhnt,
sondern im Drogenrausch weggeblasen werden. Hippies glaubten noch an die
Synthesen im Bestehenden, an das wahre Leben im falschen. Bei der
Fahrzeugkontrolle fragt ein Freak die Polizeikontrolle, ob man Punkte gewinnt,
weil das Auto nicht angemalt sei. Farbe und Licht sind revolutionäres Material.
Ein wenig beachteter Höhepunkt der Geschichte revolutionärer Lichtführung vulgo
Erleuchtung ist die Verfilmung »The Wizard of Oz« von 1939, dem vielleicht
ersten amerikanischen Farbfilm in Technicolor. Diese Innovation wurde für
damalige Verhältnisse so revolutionär wie reflexiv umgesetzt. Während die Szenen
im Lande Oz farbenprächtig und hochartifiziell gestaltet sind, erscheinen jene
in Kansas auf der Farm schwarzweiß und dunstig. Es gab Kinos, die in den
Werbekästen nur mit den Farbbildern warben und zunächst entsetzte Zuschauer
erlebten, die von der tristen Kansas-Realität tief enttäuscht wurden. Hier setzt
Thomas Pynchon mit einer Frage zu dieser medialen Sternstunde der Kinogeschichte
ein. Dorothy Gale muss, da sie ja aus der bunten Kansas-Wirklichkeit kommt, ein
hyperreales Licht- und Farberlebnis haben, das unseren Kino-Schock noch
erheblich übertrifft. Wir reiben uns im Kino die Augen, wenn wir nach Oz
fliegen. »Plain Jane« Dorothy Gale verwandelt sich während dessen aber im
acid-dream zu »Lucy in the sky« mit einer ganzen Reihe von künstlichen
Diamanten. Wie werden, so fragt sich Pynchon, deren Träume wohl sein. Das
Bewusstsein ist eine Steigerungsform. Wer das einmal begriffen hat, wird nach
immer besseren Exaltationen suchen, ob nun in literarischen, psychoaktiven,
kulinarischen oder Tausenden anderen Stoffen der Aisthesis.
The Golden Fang Wer wie Jesus wundersam
über das Wasser geht, ist ein Surfer. Pynchons blasphemischer Kalauer erweist
ihn als ironischen Meister der Elemente und so kann der gesamte Roman in der
Mystifikation von Erde, Wasser und Licht interpretiert werden. Im Zentrum der
hiesigen Tour steht »The Golden Fang«. Sie erinnert an den Malteser Falken,
jenen »Black Bird«, um den herum die Geschichte sich kristallisiert. »What is it?«
schreit Honey Bunny in Pulp Fiction, als Pumpkin in den goldglänzenden Koffer
von Jules starrt. Als multiples Schiff der Erlösung, des Verbrechens wird es von
Thomas Pynchon als vexierender McGuffin eingesetzt, der im Glühen der Joints und
der illuminierten Konturen der Dinge sich vom goldenen Reißzahn sinniger- oder
besser widersinniger Weise in »Preserve« verwandelt. Es geht also um
Aufbewahrung, den Schutz gegenüber dem Raubbau an der Natur, der bei Thomas Pynchon
nicht nur in seiner unmittelbarsten Weise als Umweltschutz, sondern als ein
übergreifendes Prinzip der Welterhaltung verstanden wird. Das ist die
Hippie-Lehre des schonenden Umgangs mit der Welt, eine Art Antiprinzip zum »american
way of life«, eine Absage an Machbarkeitsillusionen, rauschhaft Neues, wider
Konsum und Wegwerf-Ungeist. »Soft skin to
spend the every day colored gold and Flash the sea to paint gold our love.«
So sangen Country
Joe and the fish ihre Musik für Körper und Seele, die leitmotivisch einen Teil
dieser Lichtlehre erfasst. »The Golden Fang« ist aber auch der fliegende
Holländer, das Totenschiff der Unerlösten und Verfluchten, unweit oder unendlich
entfernt vom Paradies. Wo genau liegt der Unterschied zwischen der
Glückseligkeit und dem Horror-Trip? Pynchon dreht die Spiralen zum moralisch
Besseren wieder zurück. So verwandeln sich die zum Guten Bekehrten wie Mickey
Wolfmann in jene widerlichen Gierhälse zurück, die zu sein sie im Zustand der
Gnade und Erleuchtung nicht verstehen konnten. Temporären Erleuchtungen folgt
der Absturz in die Hölle. »The Golden Fang« ist eine gleichermaßen projektive
wie paranoide Substanz im grotesken Pynchon-Universum. Ein indonesischer
Heroinschmuggler oder das Abschreibungsobjekt einer obskuren Vereinigung von
Zahnärzten? Sie ist das Objekt der Sehnsucht, der guten wie der schlechten,
kapitalistisches Ungetüm und romantisches Versprechen zugleich. Sogar im Rausch
erscheint sie Doc und verheißt ihm düsteres Wissen: Sie ist die unglaubliche
Rache, wenn alle anderen Sanktionen versagen. »The Golden Fang« ist mehr als ein
Geisterschiff, das diesen oder jenen Fluch exekutiert, sie ist eine Art
logisches Zeichen wie in dem Kalkül von Spencer-Brown, das fortwährend die
Markierungen kreuzt. »Eine Aussage kann nicht nur wahr, falsch oder sinnlos
sein, sondern auch imaginär.« Ein Kalkül dieses unberechenbaren, sich selbst
aufhebenden Schoners: jedes Kreuzen der Grenze führt auf die andere Seite der
Unterscheidung, die Erlösung, die Verdammnis und zurück.
Pynchonoia und Mansonoia, vom Summer zum Bummer Charlie Manson wartet auf
seinen Prozess und die schwerelosen Zustände wird es nicht mehr geben. »The
family« wurde zum grausigen Euphemismus. Ein Familienmitglied, Susan Atkins, ist
in diesen Tagen im Gefängnis gestorben. Sie war einer der Todesengel von 1969,
die Manson längst abtrünnig wurden und die sich in der Haft taufen ließ. Manson
wollte den Rassenkrieg, der schließlich ihn als unumschränkten Weltherrscher
sehen sollte. Er wollte den Aufstand der Schwarzen dadurch provozieren, indem er
ihnen zeigte, wie man die Reichen tötet. Dieses paranoide Personal der
Revolutionen und Rebellionen hat es immer gegeben. Das Grauen sitzt in den
lustigen psychedelischen Mustern so wie die Guillotine im Herzen der Freiheits-,
Gleichheits- und Brüderlichkeitsideologen a la Rousseau. Geschichte folgt im
Zeichen der Katastrophe komplementären Mustern, von Woodstock zu Altamont, von
»Love and Peace« zu Vietnam, von Demokratie zu Guantanamo.
Pynchon erinnert an die fiesen Figuren, die jedes Menschheitsideal ramponieren.
Er ist der Karma-Vermesser, der genau weiß, wo die moralischen Hypotheken
abzutragen sind. Es sind die Wölfe wie der gute Mickey Wolfmann, dessen
Leibwächter Mitglieder der »Aryan Brotherhood« sind. »Adrian Prussia« arbeitet
tagsüber als »loan shark« und nachts als »hit man«, als Auftragsmörder für die
Polizei, was deutlich macht, was
»natürliche Mängel«
für Pynchon bedeutet. Es gibt
keine Verhältnisse ohne vorinstalliertes Übel, weit entfernt von prästabilierten
Harmonien. Prussia eliminiert für die Polizei missliebige Personen. In einem
Fall lässt er einen homosexuellen Masochisten heiß machen und peinigt ihn dann
selbst zu Tode. Adrian Prussia – den Namen muss man hierzulande nicht mehr
übersetzen - demonstriert seinem Opfer die Schändlichkeit des Drogenhandels und
macht ihm klar, dass die von ihm Geschädigten schließlich auf so ekelhafte
»loan
sharks« wie ihn, Prussia höchstselbst, stoßen. Der kategorische Imperativ als
Selbstrechtfertigung des Killers. Hier stoßen wir auf die intrikate Moral eines
Gangsters der Polizei, der mit illegalen Mitteln seine hochmoralischen
Zuständigkeiten exekutiert. Diese inhärente Schadhaftigkeit der Konstruktion ist
das Wesen der Weltkonstruktion schlechthin: Manson war ein nicht ganz
erfolgloser Musiker, zeitweise sogar dem Beach Boy Dennis Wilson nahe. Gerade
noch hat er seinen neuen Zellennachbarn Phil Spector um musikalische
Unterstützung gebeten, den es nun graut, weil doch jeder gute Amerikaner weiß,
dass Charles Manson das personifizierte, das pure Böse ist. Marilyn Manson hat
sich aus solchen manichäischen Polen eine grell-banale Identität gebastelt, die
jene Untrennbarkeit der divinen Oberflächen und der diabolischen Untergründe
inkarnieren soll. Nota bene: Wer Marilyn Monroe mag, wird auch an Charles Manson
nicht vorbeigehen. Jedenfalls gilt die Äquivokation von Showbiz und Verbrechen
in der Aufmerksamkeitsökonomie, in der moralische Besetzungen keine signifikante
Rolle mehr spielen. Thomas Pynchon beschreibt hier »Interpenetrationen«, die zum
kriminellen Alltag Amerikas gehören und längst die Frontenlogik verlassen haben
– was je das Wissen der Neocons war. Das Gute ist nicht das Böse, das man lässt,
sondern entsteht in dem Bösen, das man tut. Der Begriff aus der
Versicherungsbranche
»Natürliche Mängel«
heißt in Pynchons Lesart, dass Manson das
Überraschungs-Ei ist, das als böse Beigabe in der Hippie-Liebespackung zerplatzt
und hochtoxisch alle Blütenträume verdirbt.
Jene Lektüren, die wie
zahlreiche Rezensionen hier allein den psychedelisch hochgekitzelten Krimi
lesen, bleiben an der Oberfläche, was zwar Surfern und anderen Äquilibristen als
idealtypische Bewegung erscheint, doch diese hochgradig verschaltete Supermythe
nicht erreicht. Thomas Pynchon ist in diesem ironisch-nostalgischen »Krimi«
nicht weniger als in seinen schwergewichtigen Werken der radikale Trickster
geblieben, dessen wertvollste Lehre lautet: Paranoia ist die Mutter aller
literarischen Erfindungen. Auch Manson war professioneller Paranoiker, der in
den Liedern der Beatles geheime Botschaften hörte: »Helter Skelter« bzw.
historisch genauer der mit Blut geschriebene Schriftzug »Healter Skelter«.
Angeblich wusste Charlie nicht, dass es sich bei diesem britischen Begriff um
eine Rutsche handelte, von denen seine Engel der Apokalypse, die »Beatles«
handelten. Sollte der ganze Schrecken ein simpler semantischer Irrtum sein – inherent interpretation? Doch wer so redet, begreift nicht, dass die Paranoia
immer ihren Weg findet – so wie das Leben selbst. Letzter Gebrauchshinweis:
Pynchon liest man nicht, man inhaliert oder injiziert ihn. Zu Risiken und
Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Rezensenten oder Vorleser. Goedart Palm
O-Ton Thomas Pynchon
Thomas Pynchon Natürliche Mängel
Übersetzt von Nikolaus Stingl
Rowohlt
Hardcover, 480 S.
17.09.2010
24,95 €
978-3-498-05310-9