Nach meiner Rückkehr von der Antarktis war ich entschlossen, diesen Roman zu schreiben, und suchte zum Zweck der weiteren Recherche einen der führenden Glaziologen der Welt auf. Er hörte sich meine Geschichte höflich an, dann fragte er, wie alt meine Hauptfigur sei. So alt wie Sie, antwortete ich spontan, zu meiner eigenen Überraschung (d.h. Anfang bis Mitte sechzig). Ein Wissenschaftler, der ein Leben lang Forschung betrieben hat und seine Arbeit inzwischen in Frage stellt. Als er als junger Doktorand ein Langzeitmeßprojekt an seinem Gletscher einrichtete, ging er wie selbstverständlich davon aus: Wenn wir das Problem richtig analysieren, werden wir es lösen. Wenn wir begreifen, wie etwas lebt, dann können wir es am Leben erhalten. Einst wurde Erkenntnis mit Hilfe eines Mediums gewonnen, die moderne Zukunft würde sich anhand von Messungen offenbaren. Es brauchte nur stichhaltige Beweise, um die Welt zu verbessern. Fortschritt sei nur eine Frage der Präzisionsarbeit. Die Belege dienten dann als Blaupause für richtige Entscheidungen. Es war Anfang der siebziger Jahre, die Gaia-Hypothese wurde unter den jungen Wissenschaftlern heftig diskutiert. Die einst in Delphi verehrte Gaia, wo die Zukunft ekstatisch eruiert wurde. Die Mittlerinnen versanken in äthyleninduzierte Trance, wir produzieren heute Äthylen in Unmengen, es ist in unserer Kleidung, in den Gegenständen des täglichen Bedarfs, in unserem Körper, wir sind somit zivilisatorisch zu Hellsehern narkotisiert. Damals dachte der Gletscherforscher, daß auch er und seine Kollegen eine höhere Instanz befragen, die Natur, nur daß genauere Fragen präzisere Antworten geben würden. »Für mich waren die Labore die Orakelstätten seiner Zeit. Und jetzt, was ist jetzt? Wir sitzen auf diesem Schiff. Haben wir uns etwa vertan? Kategorisch nein. Ich habe mich nicht vertan, nur etwas nicht bedacht, aus keinem anderen Grund, als daß ich es nicht für möglich hielt: daß man unsere Warnungen in die Wendewinde schlagen würde. Unser Wort wäre Gebot. Das habe ich mir eingebildet. Es hat sich erwiesen, Prophezeiungen sind stärker als Projektionen.«
In einem Städtchen namens Dage in Tibet gibt es eine Bibliothek, deren Schriftrollen, Sutras aus dem 13. bis 16. Jahrhundert, seit langem nicht mehr eingesehen werden dürfen. Die Priester betrachten die aufgestapelten Schriftrollen und fällen Aussagen über die Zukunft.
Der Professor, der mich in seinem bescheidenen Büro empfing, zeigte mir auf einem der Bildschirme Satellitenaufnahmen vom Tod eines Gletschers. Es war eines der bedrückendsten Anblicke meines Lebens. Innerhalb weniger Jahre verliert der Gletscher rasant an Masse, an Volumen. Seine Oberfläche wird dunkler, das Eis absorbiert die Strahlen der Sonne um so stärker, ein tödlicher sich selbst verstärkender Effekt, von den Wissenschaftlern Run-away-Effekt genannt (poetischer vielleicht: point of no return). Dann zerfällt der Gletscher in kleine Stücke. »Bruchstücke nur, einzelne Glieder, als wäre sein Leib von einer Bombe zerfetzt worden. Der Steilabfall war vereist, doch weiter unten, vor uns, waren nur noch Fetzen eingedunkelten Eises über den Hang verstreut, wie Bauschutt, der darauf wartete, entsorgt zu werden. Alles Leben war ausgeapert. Ich hab’s Ihnen ja gesagt, das wird Sie schwer angehen, das ist kein schöner Anblick. Die Stimme des Wirtes verdunstet in meiner Erinnerung, und ich, berichtete er später am Abend über Bier und Tafelfleisch, ich sei wortlos aus seinem Wagen gestiegen, ich sei von Eisstück zu Eisstück gegangen, verwirrt wie ein Betrunkener oder ein Blinder, da hab ich denken müssen, sagte der Wirt, an die Seuchenzeit bei uns, als sich die Bauern verabschiedet haben von dem Vieh, das getötet werden mußte. Ich war zu einer solchen Geste nicht fähig, meine Gedanken und Gefühle waren gelähmt. Ich kniete mich nieder neben einem der Überbleibsel, unter dem Kohlestaub, unter der rußgeschwärzten Oberfläche war reines Eis, ich strich mit meinen Fingern über die kalte Seite, über mein Gesicht, nach althergebrachter Manier, mein Begrüßungsritual, früher konnte ich aus vollen Händen schöpfen, frischer Schnee, oder Hände die so kalt wurden, sie erfrischten mein ganzes Gesicht, ich leckte meinen Zeigefinger ab, es schmeckte nach nichts, nach nichts.«
Auch erklärte mir der Professor, weshalb wir Katastrophen nicht vorausberechnen können. Kein Modell kann das Ungewisse beziffern, die vielfältigen Folgen, die den Prozeß der Erwärmung potenzieren können, etwa weitere Treibhausgase, die durch das Schmelzen des Permafrosts freigesetzt werden. Kein Modell kann Dominoeffekte berücksichtigen. Es handelt sich nicht um einen linearen Verlauf. Kleine Inputs können alles auf den Kopf stellen, so wie ein Eisberg plötzlich umkippen kann (auf youtube kann man einige verwackelte Beispiele sehen), weswegen Passagiere von Kreuzfahrtsschiffen Eisberge nicht betreten dürfen. Und dann ein weiteres Problem: Jede punktuelle Lösung verunsichert das System noch mehr und führt zu einer potentiell unendlichen Zahl von Überraschungen. Übersetzt ins Mythische bedeutet die Komplexitätstheorie, daß unsere aus dem Gleichgewicht geratene Erde ein Labyrinth ist, in dem die allermeisten Abzweigungen in ein jeweils anderes Verderben führen. Mein Optimismus schmolz beim Zuhören dahin. In der Politik hingegen werde behauptet, man müsse A tun, damit B folge, das Problemlösungsverfahren sei linear. Und wie geht es weiter, fragte ich beim Abschied. Das weiß ich nicht, sagte der Professor mit ruhiger Stimme, eines nur erscheint mir gewiß: Bislang ist es stets schlimmer gekommen, als wir Spezialisten es erwartet haben. Nichts deutet darauf hin, daß sich an diesem Gesetz etwas ändern.
Fortsetzung folgt...

Zeno gibt auf: Als das Gletschersterben in den Alpen unaufhaltsam wird, hängt der Glaziologe seinen Beruf an den Nagel und beginnt ein neues Leben als Reiseleiter auf einem Kreuzfahrtschiff. Seine Vorträge über die Wunder der Antarktis sind beliebt, aber die Touristen wollen sich ihre Reiselaune nicht durch den Klimawandel verderben lassen. Zenos Verachtung steigert sich zur Raserei, und schließlich greift der verzweifelte Klimaretter zu drastischen Mitteln. Ein Roman über die Schönheit der Natur und ihr Verschwinden – voller Leidenschaft und schwarzem Humor.