Durch die Abwehrreihen tänzeln

Nicht nur die Literatur ist schön … Fußball auch

Fußball und Schönheit – geht das zusammen? Zählen nicht allein Siege, Meisterschaften, WM-Triumphe? Was nützt es dem treuen Fan, wenn seine geliebte Mannschaft eine glanzvoll herausgespielte Führung in der letzten Viertelstunde vergeigt, weil sie bis zum Schluss der Lust am Spiel frönt und sich nicht durch Zeitschinden und zweckorientiertes Ballgeschiebe bis zum Schlusspfiff durchlavieren will? Wer Fußball spielt, möchte siegen, denkt man – oder in den brachialen Worten des in schlanken Zeiten auf dem Rasen gern aktiven Ex-Außenministers Joschka Fischer: „Wenn ich Fußball spiele, dann will ich gewinnen und spiele ihn nicht schöner Pirouetten wegen.“

Auch die Stadionalltagssprache hat nicht viel übrig für feinsinnige Ästheten. Akteure, die „in Schönheit sterben“ oder nur „für die Galerie“ spielen, ziehen bei aller stillen Bewunderung Hohn und Spott auf sich und werden im Zweifelsfall von denjenigen ausgestochen, die den Ball lieb- und reizlos per Abstauber ins Tor stochern. Und dennoch verspürt selbst der allein aufs Ergebnis blickende Anhänger eine tiefe Sehnsucht danach, einem „schönen“ Fußballspiel beizuwohnen – einem Spiel, das vergessen lässt, dass es um viel Geld geht.

Allen kommerziellen Interessen zum Trotz erwarten wir vom Fußball, das er unsere ästhetischen Bedürfnisse befriedigt, und nirgendwo sonst in unserem Leben ist das Schöne so volksnah wie in einem Fußballstadion – selbst wenn es einen grauenvoll-hässlichen Namen wie Signal Iduna Park trägt. Menschen, die nie in ihrem Leben ein Museum oder einen Konzertsaal betreten, lassen sich mit einem Mal von Kunst ergreifen, wenn der Doppelpass zur Metapher und die Flügelzange zum Kreuzreim wird. Ein Match mag achtzig Minuten Langeweile und Trostlosigkeit ausstrahlen … bis der Blitz aus heiterem Himmel einschlägt, bis ein spektakuläres Tor mit der Hacke oder nach einem Dribbling über vierzig Meter gelingt. Vergessen ist dann alle Not; ein beseligendes Glück stellt sich ein, das nicht primär mit Sieg oder Niederlage zu tun hat, sondern mit einem Ereignis „aus dem Nichts“, mit einem „unmöglichen“ Phänomen.

Der Philosoph Martin Seel sieht das Ästhetische im Sport dort, wo Menschen etwas zu tun versuchen, was sie im Grunde nicht beherrschen. Diese „Zelebration des Unvermögens“ zeigt sich darin, dass ästhetische Momente eintreten, wenn die Maßstäbe des „Normalen“ versagen und scheinbar Unbegreifliches glückt. Deshalb bleiben Tore unvergessen, die diesen ästhetischen Schock bescheren. Lothar Emmerichs Treffer zum Beispiel, den er 1966 beim WM-Spiel Deutschland gegen Spanien aus überspitzem Winkel gegen den wahrlich geschlagenen Keeper Iribar erzielte. Oder Uwe Seelers Hinterkopfballtreffer vier Jahre später gegen den verdutzten englischen Tormann Bonetti. Wer gerät nicht in Verzückung, wenn Arjen Robben, Lionel Messi oder Gareth Bale durch gegnerische Abwehrreihen tänzeln, als hätten sie es nur mit einzementierten Slalomstangen zu tun? Und wer wird jemals den 14. November 2012 vergessen, als Schwedens Zlatan Ibrahimović in einem Freundschaftsspiel gegen England einen Treffer per Fallrückzieher aus 25 Metern erzielte?

Niemand, denn hier geschah Unfassliches, wie überhaupt der Fallrückzieher am eindrücklichsten verdeutlicht, was einen überraschenden Spielzug ausmacht. Eine plötzliche Verschiebung des Körpers, ein Sich-in-die-Luft-Stellen, eine Überrumpelung des Gegners, dem keine Zeit bleibt, angemessen zu reagieren. Ein Spieler wie Klaus Fischer verdankt seinen Nachruhm im Wesentlichen dem guten Auge für den richtigen Fallrückziehermoment. Kein Wunder, dass ein feinsinniger Ballbetrachter wie Axel Hacke in seinem Buch „Fußballgefühle“ anregt, eine „Gesellschaft der Freunde des Fallrückziehers“ zu gründen.

Wann nun in der langen Fußballhistorie der allerschönste Fußball gespielt wurde, lässt sich schwer entscheiden. Wer die 1980er- und 1990er-Jahre aktiv zumindest vor dem Fernsehschirm erlebt hat und unter dem zwar oft erfolgreichen, aber grobschlächtigen Fußball, den Jupp Derwall oder Berti Vogts spielen ließen, litt, sehnte sich automatisch in die Günter-Netzer-Ära der frühen Siebziger zurück, als der Gladbacher Stratege „aus der Tiefe des Raums“ (nicht zufällig eine Wendung des Literaturwissenschaftlers Karl Heinz Bohrer) kam und, so der Soziologe Dietrich Schulze-Marmeling, die „schönsten Jahre des Fußballs“ mitgestaltete. Vielleicht hat das aber nur mit Nostalgie zu tun, mit dem unerschütterlichen Glauben daran, dass Ereignisse, die mit der Aura der Kindheit besetzt sind, unweigerlich glanzvoller strahlen als alles, was danach kam. So wie es Axel Hacke in einem Dialog beschreibt: „Mein Freund L. sagt auf die Frage, ob der Fußball früher schöner gewesen sei als heute, einfach: Ja. Und warum? Weil wir früher jünger gewesen seien.“

Gestern wie heute gehen wir ins Stadion oder fiebern vor dem TV-Gerät, um unsere Mannschaft aufsteigen und triumphieren zu sehen. Doch wir wollen mehr, wir wollen auf Dauer keine hässlichen Siege, keine verwaltete Fußballkunst. Die Dialektik von Erfolgsstreben und Kunstschönem beschreibt bestechend deutlich einen modernen Konflikt. Wer den Fußball durchrationalisiert, ihn mit Videobeweisen und Statistiken ersticken will, der raubt ihm seine Urwüchsigkeit und sein Potenzial, uns durch einen Augenblick des Schönen aus dem schnöden Alltag zu reißen. Wie neulich, als ich im Hamburger Volksparkstadion (dessen alberner korrekter Name mir partout nicht einfallen will) sah, wie Hakan Çalhanoğlu ansatzlos Dortmunds Torhüter Weidenfeller mit einem Freistoß aus 40 Metern überraschte. Was für ein berauschender Moment, was für ein Glücksgefühl, was für ein Symbol des Schönen! Und in zehn Jahren werde ich standhaft behaupten, es seien mindestens 50 Meter gewesen …

 

Rainer Moritz

Rainer Moritz, geboren 1958, deutscher Literaturkritiker und Autor. Er ist Leiter des Literaturhauses Hamburg. Rainer Moritz, born 1958, German literary critic and writer. He is director of Literaturhaus Hamburg.