Seltsam defekt und trotzdem normal – Der Roman einer Familie von Selma Mahlknecht
„Es wird etwas geschehen“, heißt es bei Heinrich Böll, „Es geschah am helllichten Tag“, nennt sich der verfilmte Krimi von Friedrich Dürrenmatt und Selma Mahlknecht nennt ihren Roman ganz nach dem gängigen Beschwichtigungsmotto: „Es ist nichts geschehen.“ Selma Mahlknechts Roman läßt sich wie eine putzige Familiengeschichte an und wird bald rasant wie ein Krimi. Wie viele Kriminalfälle spielen sich verborgen im Familienkreise ab? - und um sie verborgen zu halten, wird die Formel bemüht: „Es ist nichts geschehen."...
Polylog in statu nascendi – Alfred Margul-Sperbers „Die Buche“ versammelt jüdische Dichtung aus der Bukowina
Die Bukowina und Czernowitz sind fast schon topoi des Multikulturellen, das sich im Werk Paul Celans wie in jenem Rose Ausländers findet. Gebildet hat sich dieses in den Fremdheitserfahrungen aber auch der dennoch möglichen Kommunikation – und woraus ließen sich diese Qualitäten besser erkennen als aus den Texten, die in den Polylog mit den berühmten Werken Celans und Ausländers traten? Worin auch ließe sich die Eigenart besser erkennen, als in einer Anthologie, die eine Innenansicht ist...
Sein Ton von tiefer Traurigkeit ist elementar – N. C. Kasers Leben in Texten und Briefen
Norbert Conrad Kaser, Dichter und Lehrer, Trinker und Provokateur, Einzelgänger und Liebender, ein "Querkopf unter Holzköpfen." In der Anthologie "Elementar" sammelt Raoul Schrott Briefe, Interviews, Gedichte und Prosatexte des Südtiroler Autors, Fragmente eines kurzen Lebens, die sich zu einem offenen, brüchigen Porträt des Künstlers als junger Mann zusammenfügen. Das Bruchstückhafte der Sammlung entlarvt den Anspruch der traditionellen Biographie...
Sprachartistische Lyrik – Viviane Kafitz untersucht Gemälde- und Skulpturengedichte des russischen Symbolismus
Ein Bildgedicht ist nicht das, was wir bei dem Wort erwarten: ein Gedicht, daß sich gebärdet wie ein Bild. Das tut streng genommen alle Lyrik, sie entwirft Bilder, Skulpturen, Räume – aber sie tut es mit Worten und ihren Beziehungsgeflechten und manchmal tut sie es als Figur, wie bspw. in den Figurengedichten von Dylan Thomas und vielen anderen optischen Texten der konkreten Poesie. Ein Bildgedicht aber ist jenes Gedicht, das sich zur Aufgabe gemacht hat ein bereits vorhandenes...
Persische Elegien – ein Roman aus der Revolutionszeit des Iran
Nach den iranischen Präsidentschaftswahlen im Juni dieses Jahres kam es in dem Land zu wochenlangen Protesten. Erstmals seit den revolutionären Umbrüchen 1979, als die Mullahs das Land überfallartig eroberten und sich ein schwarzer Schleier der repressiven Orthodoxie über den Iran legte, wagten es die Iraner, lautstark ihre Stimme zu erheben. Selbst die gewalttätigen Reaktionen des Regimes Ahmadinedschad konnten den Protest lange nicht zurückhalten...
Die Welt der Figuren ist aus dem Lot geraten – Erzählungen von Cornelia Travnicek
Sie dachte an das Erstaunen der Kinder, dass es ausreichte, einen der großen Granitsteine mit einem Finger zu berühren. Mit einer Kinderhand. Und schon kam alles ins Wanken.
Cornelia Travniceks Kurzgeschichten erzählen davon, was geschieht, wenn der Boden unter den Füßen brüchig geworden, wenn der Schleier zerrissen ist. Die Welt der Figuren in ihrem neuen Werk, dem Erzählband Fütter mich, ist aus dem Lot geraten. "Wie um die Balance zu halten, strecken sie die Hände aus. Die Wände links und rechts. Die Menschen dahinter."...
Dunkel und schwierig bleiben – die letzten Gedichte von Michael Hamburger
Soll man an erster Stelle den kleinen österreichisch-südtiroler Folio Verlag rühmen für seine Treue gegenüber einem stillen, nur in Kennerkreisen hoch angesehenen Schriftsteller? Oder gilt es, die Übersetzer besonders hervorzuheben, die die gewiss nicht immer leicht eingängigen Gedichte so gut aus dem Englischen in die deutsche Sprache übertragen haben? Oder sollte man zuerst Iain Galbraith nennen, der seit Jahren schon mit großer Sorgfalt das Werk des Dichters pflegt und herausgibt?...
Im Wandel der Perspektiven - Giwi Margwelaschwili und seine vergnüglichen Textontologien
Ein alter Leser ist über der Lektüre eines Gedichts gestorben: Frohgemut ist er in eine „poetische Landschaft“ eingetaucht, hatte sich darin verloren, verlesen, möchte man sagen, und „als er dann wieder umkehren wollte, war der Wald um ihn herum plötzlich sehr dicht, fast undurchdringlich dicht geworden“. Der Mann leistet auch keinen Widerstand, ja er zieht den dichterischen Gegen-Kosmos der Wirklichkeit vor...
Das Staunen über das Unaustauschbare – neue Gedichte von Nancy Hünger
Das ist eine andere Nancy Hünger. Aus den blassen Fasern Wirklichkeit sind bewegte Gewebe geworden, die sich als Landschaft vor sie hin legen. Die Welt ist keine Simulation und wenn sie mal so mal so und für jeden unterschiedlich sein kann, dann sagt das viel mehr über unsere Perzeption als über das Faktische. „Es ist das gleiche Staunen, das mich als Kind schon überfiel, wenn ich die Hände von den Augen nahm und die Welt, unverändert, einfach noch da war“, mit dem sie in ihre Texte hineintreibt...
Der sanfte Blick auf das Treibgut der Tage – Gedichte von Erwin Einzinger
Was geschieht, wenn nichts passiert? Randerscheinungen und Nebengedanken verhalten sich wie freie Radikale. Von der Peripherie des Gesichtsfeldes rücken sie ins Zentrum der Wahrnehmung. Das Ergebnis: ein wildes Mosaik aus Alltags- und Denkfragmenten. Diesen bunten Scherbenspiegel der "Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt" versucht Erwin Einzinger in seinen Gedichten festzuhalten...
Filmische Fragmente - ein Comic zu einem Klassiker des Films
Fritz Langs 1931 veröffentlichten frühen Tonfilm "M" kann man mit Fug und Recht als einen Klassiker der deutschen Filmgeschichte und auch als die Mutter des gesellschaftspolitischen Kriminalfilms bezeichnen. Wie in einem guten Tatort geht es dabei weniger um die Frage, ob der Mörder wie immer der Gärtner war, sondern es geht um den sozialen Nährboden einer kriminellen Welt. Die Bedeutung von Langs Film zum Verständnis der Weimarer Republik und dem Erstarken des Nationalsozialismus...
Ein Meister des schnörkellosen Gedichts – Zu zwei neuen Bänden von Hans-Jürgen Heise
Eine verknappte Sprache, die nah an der zeitgenössischen Wirklichkeit ist, und Bilder von prägnanter Eindeutigkeit – das sind bestimmende Merkmale der Lyrik von Hans-Jürgen Heise, der im nächsten Jahr seinen 80. Geburtstag feiern kann. Gewissermaßen als Vorklang dazu hat der in Kiel lebende Autor, einer der produktivsten im Lande, jetzt zwei neue Gedichtsammlungen herausgebracht. Zum einen ist das unter dem Titel „Luftwurzeln“ eine neuerliche Lese...
Das Würfelnde bleibt immer dasselbe – ein Jahr in Gedichten von Elfriede Czurda
Es gibt so viele Arten dem Tag zu begegnen und er kommt uns zurück. Wir entwerfen ihn wie eine Skizze und testen unsere Geschichten aus. Wenn es Worte für ihn gibt, dann sind das Figuren, an denen wir lange schon schnitzen. „ich, weiß“ sagt Elfriede Czurda und hat eine Farbe, die „namenlose leere“ ist da, wie auch das Rückgespülte, Treibgut, Schwermut. Sie bemüht „sich“, wer immer das ist, sie verschreibt sich ein tägliches Gedicht...
Die existenzielle Unbehaustheit überwinden – im neuen Roman von Ilse Helbich
Sie ist fünfundsechzig und kränklich und hat vor Kurzem ihre Eltern beerbt. Auf einer Reise durch die Wachau träumt sie plötzlich diesen uralten Traum aller Städter, nämlich ein Häuschen auf dem Land zu besitzen. Früher, kommentiert die Erzählerin, sei sie nirgendwo zu Hause gewesen. Nun soll ihr ein heruntergekommenes Anwesen in einem Dorf am Fuße des Manhartsberges zum heimlich ersehnten Refugium werden. Doch bevor der Herzenswunsch in Erfüllung gehen kann...
Auf dem Trockenen - Der israelische Autor Assaf Gavron prophezeit seiner Heimat in seinem neuen Roman „Hydromania“ eine düstere Zukunft
Stellen Sie sich eine Welt vor, in der die Volksrepublik China die globale Führung übernommen hat. Der Kapitalismus hat sich als Wirtschaftsideologie durchgesetzt und das Schicksal der Welt liegt in den Händen einiger weniger Konzerne. Stellen Sie sich weiter vor, dass in dieser Welt der Klimawandel bereits seine deutlichen Spuren hinterlassen hat und die Menschen in Trockenzonen enorme Dürreperioden erleiden...
Was der Flaneur in den Augen der Magersüchtigen entdeckt – Christian Kreis im fixpoetry-Leseheft N° 10
Am Rande der Leipziger Poetikvorlesung 2009 mit der Nobelpreisträgerin Herta Müller im Alten Rathaus streicht man sich zufrieden über den Bauch, so ein Andrang. Hätte sie nicht diesen Preis bekommen, hätte es sicher anders ausgesehen. „Vielleicht“, überlegt im kleinen Kreis Hans-Ulrich Treichel, der dem veranstaltenden Literaturinstitut mitvorsteht, „sollten wir im nächsten Jahr einen ganz unbekannten Literaten nehmen...
Die Blaue Fledermaus der Trauer - eine Auswahl aus dem Schaffen von Alfonsina Storni
Sie ist sehr früh verlassen und kennt das Ruhelose mehr als das Verläßliche. Und die Welt lehrt sie, daß das so bleibt, daß sie immer wieder verlassen wird. „Zwischen halb geöffneten Koffern und Uhrzeigern“ heißt 1938 ein Vortrag, den sie in Montevideo hält – das ist ihr Leben, sie hat Brustkrebs, ihr Herz ist ein verwundetes Geschwür, was sie geben will an Liebe verknotet sich, was sie von der Welt erhofft, bleibt wie ein Vorwurf an sich selbst in ihrem Innern zurück...
„Der Mensch ist ein Tier, das immer wieder neu anfängt“ – Philippe Claudel beendet seine Trilogie über die Verführbarkeit des Menschen zur Gewalt
Es gibt eine Schmetterlingsart, die in größeren Gruppen zusammenlebt. In friedlichen Zeiten akzeptieren sie auch artfremde Exemplare. In bedrohlichen Situationen aber schließen sie diese aus der Gemeinschaft aus, um das eigene Überleben zu sichern: „Wenn es um das Fortbestehen ihrer Gruppe oder um ihr eigenes Überleben geht, opfern sie ohne Zögern den Schmetterling, der nicht einer von ihnen ist“, begründet Leutnant Adolf Buller seinen Befehl das kleine Bergdorf von „Fremden“ zu „säubern“...
Die Fahndung ist ausgeschrieben – ein neuer Band Gedichte von Jochen Kelter
Landschaft umgibt uns. Es ist ein Irrtum zu glauben, wir kämen davon mit Lampen und Heizung. Es ist eine um vieles erweiterte Landschaft, aber es ist eine und wir haben immer eine Ahnung von dem was war, was kommt und was ist. Ein Minimalzustand, der sich erweitern lässt, wenn man Fragen stellt. Wie Jochen Kelter, der mit seinen Gedichten die Fragwürdigkeit der Welt abbildet. Man kann und muß sie befragen, sie ist würdig und wertvoll...
Vor einem halben Jahrhundert: Die 50er Jahre – Wien und die Kunst
Der Krieg war endlich zu Ende, der Wiederaufbau begann, nachdem während der Nazi-Jahre der Kontakt zum Ausland unterbunden gewesen war. Die Kunst und die Literatur positionierten sich neu: Da waren die „entnazifizierten“ auf der einen Seite und jene, die tatsächlich entschlossen waren, neue Wege zu finden. Nicht nur Surrealismus und Dadaismus waren Positionen, an die sich anschließen ließ. Kubismus und Informel waren völlig unbekannt...
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