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Der
Reisemuffel
Eine Glosse von Joe Bauer
Die meisten Leute haben
die Tage schnell verdrängt,
als Islands Asche um die Welt flog und den Himmel zur Hölle machte. Der Vulkan
Eyjafjallajökull spuckte auf die Marketing-Botschaft, Reisen sei für Menschen
ein Kulturgut.
Als die Flugasche im April 2010 zum ersten Mal Monster-Schlagzeilen machte, saß
ich im Zug von Essen nach Stuttgart, blätterte in der Sonntagszeitung und
grinste beim Gedanken an das Chaos auf den Flughäfen. Dann entdeckte ich diese
Meldung: "Mit knapp 300 km/h war der ICE 105 Ravensburg gestern Morgen auf dem
Weg nach Stuttgart, als plötzlich eine Tür aus der Verankerung riss. Es gab
einen ohrenbetäubenden Knall, dann blieb der Zug im Tunnel stehen. Die Tür
krachte in den entgegenkommenden ICE München-Dortmund. Vier Fahrgäste wurden
durch Glassplitter verletzt."
Ich kam pünktlich am Bahnhof an und fühlte mich mal wieder in meiner Haltung
bestätigt: Reisen ist das Letzte, und es ist mir wurscht, ob Sie mich für eine
Sofakartoffel oder einen Feigling halten. Feigling ließe ich sowieso nicht
gelten. Die Pharmaindustrie verfügt heute über genügend gute Produkte, um
jedermann angst- und stressfrei Expeditionen ins Herz des Vulkans oder ins Auge
des Hurrikans zu gewähren.
Zu meiner Lieblingslektüre der Tourismus-Literatur gehört eine Kurzgeschichte
des amerikanischen Schriftstellers T. C. Boyle. Sie heißt "Guten Flug" und
beginnt so: "Als das Triebwerk unter der rechten Tragfläche auf einmal ein
dünnes Fähnchen schmierigen schwarzen Rauchs nach sich zog, spähte Ellen durch
das zerkratzte Plexiglasfenster auf die bauschigen Wölkchen, die sich über und
hinter ihr türmten, und wusste, dass sie sterben würde."
Die Gewissheit zu sterben wäre für mich auf Reisen manchmal eine Gnade. Reisen
abseits der unerschwinglichen Herrenklassen bedeutet Ärger (unter
Kalauerkameraden nicht umsonst Tortour genannt). Reisen ist eine Qual. Viele
Reisen haben mit Reisen nichts zu tun. In Wahrheit geht es nur um eine
Ortsveränderung, und in diesem Fall ist die bürokratische Floskel berechtigt:
Man wechselt den Standort. Morgens noch Kirchheim unter Teck, mittags schon Gran
Canaria. Diese Art Mobilität mit Hilfe eines Jets erfüllt nicht annähernd die
Passion des wahren Reisens. Die Lektüre von Münchhausens Ritt auf der
Kanonenkugel wäre erregender.
Richtiges Reisen, sich bewusst von A nach B zu bewegen, spielt sich so ab: "Die
sagenhafteste Mitfahrgelegenheit meines Lebens sollte noch kommen, ein Lastwagen
mit flacher Pritsche hinten, darauf sechs, sieben Jungen ausgestreckt, und die
Fahrer, zwei junge blonde Farmer aus Minnesota, sammelten jede Menschenseele
auf, die sie am Straßenrand fanden - die zwei lustigsten, fröhlichsten, nett
aussehendsten Holzköpfe, die zu treffen man sich wünschen konnte . . . Ich
rannte hin und sagte: ,Ist noch Platz?' Sie sagten: ,Klar, spring auf, is' Platz
genug für alle.'"
Die Zeilen stammen aus Jack Kerouacs Klassiker "Unterwegs". Das Buch ist nur
etwas mehr als ein halbes Jahrhundert alt und seine Botschaft so aktuell wie
Huckleberry Finns Floßfahrt auf dem Mississippi. Auf Reisen zu gehen kann nicht
bedeuten, eine Hotelbude dem heimischen Schlafzimmer vorzuziehen. Reisen heißt
suchen. Dahinter verbirgt sich die Sehnsucht nach dem Unbekannten. Das gilt für
die Flucht der Bremer Stadtmusikanten nicht weniger als für Goethes
Kutschfahrten oder die Tramper-Trips von Kerouac.
Der Bangkok- und Kenia-Tourist von heute begründet seine All-inclusive-Events
nicht nur mit dem Recht, die Tapeten zu wechseln. Er legitimiert sie auch mit
den internationalen Pflichten und kulturellen Ansprüchen des vernetzten
Weltbürgers. Dabei brächte ihn jeder Dokumentarfilm auf Arte oder 3 Sat seinem
Reiseziel mental näher als die Hippie-Nummer, ohne Sprachkenntnis in den Fluren
fremder Menschen herumzutrampeln.
Ich bin Reisemuffel, und meine verbalen Attacken auf Touristen fallen mir aus
Selbstschutz leichter als der läppische Hinweis, ich hasse Kofferpacken. Genau
das tue ich aber. Denn Kofferpacken ist meistens für die Katz. Nicht nur einmal
bin ich mit einer schäbigen Plastiktüte als einzigem Gepäckstück im Hotel einer
Stadt angekommen. In der Tüte befand sich neben einem weißen T-Shirt in
Nachthemdgröße, einer Zahnbürste mit angeklebter Zweitagescreme und einem
unwirksamen Deostift die heiße Luft der nichtsnutzigen Fluggesellschaft. Mein
mühsam, unter heftigem Fluchen gepackter Koffer hatte es wieder mal nicht aufs
Laufband des Flughafens geschafft.
In solchen Momenten fallen mir die Worte des Komikers Loriot ein: Was willst du
in Rio de Janeiro, hat er sinngemäß gesagt, solange du nicht einmal deine eigene
Stadt kennst? Mag dieser Satz nicht unbedingt für einen ehrenwerten
600-Seelen-Dorfbewohner auf Mallorca-Kurs gelten, so steckt dahinter doch viel
Wahrheit.
Rücksichtslos belästigt der Tourist fremde Länder und brave Leute mit
Gewohnheiten, die zu Hause jeder Wachtmeister spätestens beim Verlassen der
Schenke mit einer Ordnungsstrafe quittieren würde. In einem Souvenirgeschäft am
New Yorker Times Square geht es heute nicht anders zu als in einer deutschen
Abflughalle für Billig-Touren oder an den DevotionalienBuden des Cannstatter
Volksfestes. Bayerische Dirndl, so weit das Auge reicht.
New York erwähne ich, weil ich die Stadt gelegentlich mit dem Argument des
Reisemuffels heimsuche, dort fände ich die ganze Welt auf einem Fleck und könne
so, als Touri-Trampel, den Rest der Welt verschonen.
Auf ihrem Flug nach New York springt die eingangs erwähnte Reisende Ellen aus T.
C. Boyles Geschichte dem Tod noch von der Schippe. In Los Angeles gestartet,
landet sie mit acht Stunden Verspätung auf dem Kennedy-Airport und freut sich
ihres Lebens. Zuvor hat sie lediglich mehrere Notlandungen und die
Unannehmlichkeit erdulden müssen, das Gesicht eines durchgeknallten Passagiers
aus Notwehr mit der Gabel zu zerfleischen. Endlich am Boden, stellt sie sich
vor, wie ihre Mutter sie gleich in die Arme nehmen und die Frage stellen wird:
"Hast du einen guten Flug gehabt?"
Wir danken für die freundliche Erlaubnis von Joe Bauer.
Der Text ist erstmals erschienen in:"Sonntag
Aktuell".
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Joe Bauer,
Jahrgang 1954,
Kolumist der Stuttgarter Nachrichten, hauptberuflich Spaziergänger
und Straßenbahnherumfahrer.
Betreibt zusammen mit Musikern und Entertainern die Lieder- und
Geschichtenshow »Joe Bauers Flaneursalon«.
Letzte Veröffentlichung:
Schwaben,
Schwafler, Ehrenmänner - Spazieren und vor die Hunde gehen in
Stuttgart
Mit einem
Titelbild von Thilo Rothacker
Critica Diabolis 169
Paperback, 176 Seiten
14.00 Euro, 24.50 SFr.
ISBN: 978-3-89320-136-5
Edition Tiamat, Berlin
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Joe Bauers
Flaneursalon
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