Lit-Ex Literaturmagazin




aktuelle Ausgabe (... work in progress)
archivierte Ausgaben
Inhaltsübersicht aller Artikel







 

Magazin für Verrisse aller Art    Archiv

Herausgegeben von Hans Dieter Eberhard

   



AUSGABE 6


THE IN-BETWEEN STUFF

Zu Richard Ford: UNABHÄNGIGKEITSTAG (INDEPENDENCE DAY)

Sätze wie: ’XYZ ist einer der ganz Großen der zeitgenössischen Erzählkunst‘ überlassen wir gewöhnlich lieber kommerziellen Großkunstrichtern, bei Richard Ford machen wir eine Ausnahme, denn Richard Ford ist einer der ganz Großen der Erzählkunst, des immer wieder totgesagten Romans. Totgesagte leben länger. (’Erzählkunst‘, diesen unzeitgemäßen Begriff, setzen wir bewußt gegen den akademisierten Zynismus post- und popmoderner Selbstreplikanten und anderer professioneller Kulturautisten.)

In Richard Fords Büchern findet das Erzählen (alteuropäische Erfindung und Gepflogenheit) zu einer Selbstverständlichkeit zurück, die das Gerede über die Krise des Romans, die Zweifel an seiner Gültigkeit als Gattung ziemlich alt ausssehen läßt. Krise ist Standard und Standardthema des Erzählens. Krise war immer in der technisch-industriell zivilisierten Welt, ohne Krise keine Literatur, keine Kunst. Fleischlos-theoretische Begriffe wurden geprägt, um das Spezifische dieser Situation zu benennen: Unübersichtlichkeit, Kontingenz, Beliebigkeit, Inkommensurabilität und mehr.

’Einen Roman schreiben, heißt, die Inkommensurabilität auf die Spitze treiben‘, sagt Walter Benjamin irgendwo, und genau das betreibt Richard Ford. Theorie läßt er weit hinter sich, er transformiert das leere Stroh der Begrifflichkeit über das Sein und Verwandtes in die greifbare Substanz des Erzählens scheinbar wie von selbst, leicht und tief zugleich, und man kann nicht genug darüber staunen, wie genau und geschmeidig er das macht, mit welchem Blick für kleinste Details, ohne jemals die kompositorische Ökonomie des Ganzen zu stören.

Der Plot dieses Romans könnte karger kaum sein: geschiedener Immobilienhändler (Frank Bascombe) bedient Immobilienkunden, telefoniert mit seiner Freundin und plant Ausflug mit halbwüchsigem Sohn (Paul) am Unabhängigkeitstag (4. Juli), um seiner Vaterschaft wieder mehr Gehör zu verschaffen. Ein Unfall mittlerer Schwere (Paul bekommt eine Baseballkugel aufs Auge) beendet vorzeitig den Ausflug.

So etwas schreckt eher ab, aber die bescheidene Handlung setzt einen Erzählfluß in Gang, einen Strom der Rede, der niemals enden müßte. Frank Bascombe, der uns schon im SPORTREPORTER mit uferlosen Gesprächen und Gedanken über die Unmöglichkeit, das Richtige zu tun, auf seltsame Weise gefesselt hatte, denkt in UNABHÄNGIGKEITSTAG darüber nach, wie das Leben weitergehen könnte, nachdem die Lage komplexer geworden ist, noch unübersichtlicher, eigentlich unlösbar.

Frank hat schon manches hinter sich, inzwischen ist er Hausbesitzer und Immobilienmakler in Haddam, New Jersey. Sportberichterstattung war ihm zu harmlos geworden. Nach dem Scheidungstrauma und einigen schwierigen Jahren bekam er das Gefühl, ’im Leben niemals etwas wirklich Gutes getan zu haben‘, und als Immobilienhändler verkauft er mit jedem Haus auch ein Stück Leben (you don‘t sell a house to someone, you sell a life). Für manchen seiner entscheidungsgestörten Immobilienklienten übernimmt er die Rolle des Therapeuten gleich mit. [Leider läßt sich das Wortspiel realty (Immobilien) und reality (Realität), das der Haus-Metapher die besondere Würze gibt, im Deutschen nicht wiederholen: ’This is realty. Reality‘s something else - that‘s when you‘re born and you die. This is the in-between stuff here.‘]

Immobilien sind zwar ’keine besonders komplexe Materie‘, aber ’Wohnen ist eine Daseinsfrage‘, denn Immobilienentscheidungen haben immer einen bedeutsamen Subtext (a profounder text runs beneath all realty decisions: Is being together worth the unbelievable horseshit to satisfy the other‘s needs?). Man hat zu entscheiden, mit wem und wie man leben will, also die wesentlichen Dinge, und dabei kommt die Frage der Unabhängigkeit ins Spiel. Wieviel Unabhängigkeit bietet ein Haus, wieviel neue Abhängigkeit schafft es?

Das Thema Unabhängigkeit zieht sich als roter Faden durch das Buch. Unabhängigkeit ist ambivalent, und sie enthält ein Dilemma: sie ist abhängig von der Anerkennung anderer. Dieser Widerspruch ist unauflösbar, und das Dilemma überträgt sich notwendig auf jede Situation, in der Unabhängigkeit oder nicht (und wenn ja, wieviel) zur Debatte steht. Notorisch ist sie die zentrale Frage in jeder Art von Beziehung.

Frank erlebt sich seit der Scheidung als ’untranszendent wie ein Baumstamm‘, auch ’Intimität hat an Boden verloren‘, spielt nicht mehr die große Rolle für ihn, ’physische Ereignisse sind die wichtigsten des Lebens‘ (intimacy had begun to matter less to me. It had loosing ground since my marriage came to a halt . . . my belief had always been with the ancient Greeks, that the most important events in life are physical events.). Mit dieser Einstellung verbucht er zwar einen Zugewinn an Unabhängigkeit, aber will er ihn wirklich?

Seit ein, zwei Jahren pflegt er eine passable Wochenendbeziehung zu einer Dame namens Sally Caldwell: ’Liebe ist es nicht, das stimmt. Nicht so ganz. Es kommt der Liebe aber näher als das Zeug, das die meisten Verheirateten zu bieten haben.‘ (Not love, it’s true. Not exactly. But closer to love than the puny goods most married folks dole out.) Was aus der Beziehung werden könnte, ist noch unklar, Frank versucht, die Dinge pragmatisch zu sehen: ’Ich muß die belastende Frage: Warum liebe ich dich nicht? umformulieren in das bessere, leichter zu beantwortende: Wie kann ich dich lieben?‘ (. . . change the loaded question from ”Why don‘t I love you?” to the better, more answerable ”How can I love you?”), aber in Wahrheit ist alles viel komplizierter. In langen Telefonaten versucht man, den Zustand der Beziehung auszuloten (Liebe-Nichtliebe, Bindung-Nichtbindung, Nähe-Ferne) und kommt den Dingen nicht wirklich auf den Grund.

Was ist der Status der Wirklichkeit? Gibt es ihn überhaupt? Dieses dynamische, scheinbar ständig fließende Leben kreist ortlos auf Highways und Interstates, schlägt sich durch Motels und Baseball-Ruhmeshallen, treibt von einem Unort an den nächsten (U-topien im eigentlichen Sinne des Wortes). Manchmal in der Bewegung scheint eine Sensation von Unabhängigkeit flüchtig auf, aber dann steht man wieder im Stau, telefoniert wieder, hört den Anrufbeantworter ab, man ist nah und fern zugleich, man redet und redet, um zu beweisen, wer man ist, und und ob man noch existiert.

Reden ist auch eine Form der Bewegung, um die Dinge herum. Man redet, aber man versteht sich nicht wirklich, auch den Worten scheint ein Dilemma der Unabhängigkeit innezuwohnen. Bezeichnen sie etwas, und wenn ja, was, und in welchem Verhältnis stehen sie zu dem, was sie bezeichnen? Verbindliche Bedeutungen sind ihnen, scheint‘s, abhanden gekommen. In langen Dialogen knetet man sie durch auf Gültigkeit und Wirklichkeitsbezug. Auch daran arbeitet dieses Buch sich ab mit dem Ergebnis: es ist schwierig bis unmöglich, einen Zustand herzustellen, den man Verständigung nennen möchte, vielmehr entwickeln wir in unseren Gesprächen eine Form des Nichtverstehens, die eine rätselhafte Art von Übereinkunft simuliert.

Worte sind Zeichen, deren wir uns kreativ bedienen, um durch den Paradiesirrgarten von Tankstellen, Burgerketten und Proktologieambulanzen heil hindurchzukommen, um Glück und Elend zu sortieren. Sprache ist immer noch das Mittel der Wahl, sich gewisser Wirklichkeiten zu versichern, wenigstens versuchsweise. Aus den täglichen Verstrickungen und Verstimmungen, gibt es keine außersprachlich-rationale Lösung, nur Entstrickung, die sich zu neuen Stimmungen formt im Strom der Rede: Pulsationen des Daseins, übersetzt in zerebrale Aktivität, die sich auf Sprache überträgt. Der Roman: Stoffwechselprodukt innerer Rede.

Franks Rede (Erzählung) ist die eines heiteren, aber unheilbaren Melancholikers, dessen Existenz brüchig ist (it’s not exactly as if I didn’t exist but that I don’t exist as much), der nichts als gegeben hinnehmen mag, schon der Verlust eines Gefühls führt ins Nichts (. . . left is only some ether of its presence and a hungrified wonder about where it might be and will it ever come back. Nullity in other words.) Ein solches Erzählen stellt alles in Frage, kann nicht anders, als insistierend genau, unentwegt und seismographisch von der Welt und sich selbst ein Bild zu entwerfen, das wenigstens zwei Sekunden wahr sein möge, aber das gelingt nur in zufälligen Momenten einer besonderen Gefühlsverdichtung und zerfällt gleich wieder. Die Dinge sind in Wahrheit immer ganz anders, und jedesmal, wenn wir glauben, wir hätten sie erfaßt oder begriffen, wechseln sie die Farbe. Das ist der Stand der Dinge: es gibt ihn nicht.

Begreifen wir die Art, wie Frank Bascombe die Welt zur Sprache bringt, als inneren Monolog (weit ab von dem, was gemeinhin als solcher gilt: assoziatives Gestammel unter Preisgabe von Logik und Grammatik), dann sieht es so aus, als hätte dieser Monolog die Gestalt eines Romans nur adoptiert, um auf elegante Weise nicht zu sein, was er vorgibt, ohne daß es jemand so ohne weiteres bemerken würde. Einen virtuellen Roman hätten wir dann vor uns, falls es das gibt, Verdoppelung des Scheins, perfekte Simulation: Innenwelt als Außenwelt.

Was so konstatiert, verkürzt klingen mag, behauptet sich über 600 Seiten Text mühelos in immer neuen Varianten. Nur durch epische Breite wird der Daseinsbefund erfahrbar, es ergibt sich der Eindruck, daß Wirklichkeit erst durch Erzählung wirklich wird. Offensichtlich gibt es (allen dekonstruktiven und poststrukturalistischen Konfusionen zum Trotz) doch eine Beziehung zwischen Sprache und Welt, aber sie ist verwickelt, kompliziert und vielschichtig, und auch dieses Buch ist kompliziert und vielschichtig, denn Wirklichkeit ist ein instabiler Zustand und ’schon die bloße Anstrengung, die Dinge so zu halten, wie sie sind, kann einen in die Tiefe ziehen‘. Dennoch ist das alles leicht zu lesen, denn Richard Fords erzählerisches Genie macht das Schwere leicht, das ist die hohe und seltene Kunst dieses Autors.

UNABHÄNGIGKEITSTAG ist ein Buch, das mindestens für die Dauer der Lektüre die übrige Welt außer Kraft setzt. Der Roman, diese seltsame Unform, ist mehr denn je die große Chimäre unserer sehr alten, vielleicht zu alten Abendlandskultur - letzte Droge, Zeremonie des Abschieds.

Wer dieses Buch nicht kennt, hat etwas falsch gemacht, aber dieser Fehler läßt sich korrigieren.


Beatus Ille




AUSGABE 6     INHALT