Kategorie: Feuilleton

Vom Spiralblock zum Blog? – Ortsbestimmung der aktuellen Theaterkritik

von Felix Lempp

 

       Und schreit das Publikum: Hurra! – das nützt euch nichts, denn ich bin da!

Georg Kreisler: Der Musikkritiker

 

Der Angriff auf den Kritiker

Auf den ersten Blick umgibt den gängigen Spiralblock eine gewisse anachronistische Aura. Als College-Block fand er sich in den Umhängetaschen von Generationen von Studierenden, bevor MacBooks in Fjällräven-Rucksäcken die Universitäten eroberten, und auch als Notizblock für Einkaufslisten wird er wohl im digitalen Zeitalter zunehmend abgelöst. Die meisten Schreibwilligen nutzen Smartphone oder Tablet, wer sich prinzipiell zu Tinte und Papier bekennt, tut das oft im höherpreisigen Segment auf handgeschöpftem Büttenpapier oder im Moleskin-Notizheft. Und doch war es ein Spiralblock, an dem sich im Jahr 2006 einer der ersten Theaterskandale des Jahrtausends entzündete. Was sich am Abend des 16. Februars in der Schmidtstraße 12, einer der Spielstätten des Schauspiels Frankfurt, ereignete, hat alles, was es zur Legendenbildung braucht: Einen mächtigen Kritiker, einen übergriffigen Schauspieler, die Premiere einer sehr freien Bearbeitung eines sehr unbekannten Stückes, eine Oberbürgermeisterin kurz vor den Kommunalwahlen – und eben nicht zuletzt: einen Spiralblock!

Was an diesem Abend wirklich geschah, darüber gibt es verschiedene und teils abweichende Aussagen der Beteiligten. Als kleinster gemeinsamer Nenner lässt sich folgender Tathergang rekonstruieren: Im Verlauf der Premiere von Eugene Ionescos Das große Massakerspiel. Oder Triumph des Todes weigerte sich Gerhard Stadelmaier, Theaterkritiker der FAZ und bekanntermaßen kein Freund textferner Stück-Dekonstruktionen, an der Publikumsbeteiligung mitzuwirken, die Sebastian Hartmann in seiner Inszenierung vorgesehen hatte. Dies bewegte den Schauspieler Thomas Lawinky dazu, Stadelmaier direkt anzusprechen und ihm nach kurzem rhetorischen Schlagabtausch seinen Spiralblock wegzunehmen. Er blätterte ihn durch, um darin Hinweise auf die Meinung des Kritikers zur Inszenierung zu finden, und gab ihm das Schreibgerät dann zurück. Stadelmaier, der dieses Vorgehen als Übergriff empfand, verließ unter Protest die Aufführung, während ihm Lawinky noch ein „Hau ab, du Arsch! Verpiß dich!“ nachgerufen haben soll. Über eine Beschädigung des Blocks wurde nichts bekannt.

Damit war aber die Angelegenheit keinesfalls erledigt. Die Spiralblockaffäre – unter dieser Bezeichnung gingen der Zwischenfall und seine Folgen in die Theaterhistorie ein – stand erst an ihrem Beginn. Noch in der Nacht über den Vorgang informiert, schrieb Petra Roth, die Oberbürgermeisterin Frankfurts, am Morgen des nächsten Tages einen Brief an die Intendantin des Schauspiels, Elisabeth Schweeger. Sie forderte sie angesichts des „unentschuldbaren Vorfall[s]“ auf, „das Vertragsverhältnis mit dem Schauspieler Thomas Lawinky sofort zu beenden“. Dieser kam seiner Entlassung durch Kündigung zuvor, sodass Schweeger letztlich eine Trennung im gegenseitigen Einvernehmen verkünden konnte.

Neben diesen kulturpolitischen Folgen hatte der Vorgang natürlich auch ein feuilletonistisches Nachspiel. Unter dem Titel „Angriff auf einen Kritiker“ veröffentlichte Gerhard Stadelmaier seine Sicht auf den Theaterabend. In diesem Artikel kommt nicht nur die Erschütterung des Kritikers über eine „Attacke auf meinen Körper und meine Freiheit, die nichts weniger als die Freiheit der Presse ist“, zum Ausdruck, sondern auch der Spiralblock zu seinem Recht: So sei Stadelmaier der „Kritikerblock brutal aus der Hand“ gerissen worden, bevor Lawinky den „schönen Spiralblock wie eine Trophäe“ präsentiert, ihn dann aber wieder zurückgegeben habe. 

Es fällt schwer, die hier hervorbrechende Bestürzung über den entwendeten Block nicht als Entsetzen über den Verlust der Insignie des souveränen Kritikers zu deuten. Was sich also in der Affäre um Stadelmaiers Spiralblock auch manifestiert, sind Fragen zu Rolle und Stellenwert der Theaterkritik in einem Theatersystem, das besonders seit der Jahrtausendwende seine Pluralität, Formenvielfalt und Ablösung vom Dramentext nicht nur in der Praxis vorführt, sondern auch zunehmend theoretisch reflektiert. Bemerkenswert an der Spiralblockaffäre ist auch die von ihr ausgelöste öffentliche Debatte im Feuilleton und der Theateröffentlichkeit, in der die Frage mitschwang, ob die Institution des allmächtigen Großkritikers – der Verzicht auf das Gendern ist hier intendiert – noch zeitgemäß ist. Denn es gab keinesfalls nur Stimmen, die dem Kritikerfürsten beisprangen und angesichts von Lawinkys Verhalten von einem „so aggressiven Akt, daß mir der Atem stockte“, sprachen.

Selbst Kritikerkollegen wie Peter Michalzik äußerten ihr Unbehagen, dass „im Namen der Pressefreiheit [–] für die zu kämpfen die FAZ vorgibt – einem Theater vorgeschrieben [wird], was es zu tun hat. Jetzt entlassen also Kritiker via Oberbürgermeister die Schauspieler. Sehr schön. Meine Freiheit ist das nicht, liebe FAZ“. Und Claus Peymann ergriff die Gelegenheit, dem nun arbeitslos gewordenen Thomas Lawinky ‚Theaterasyl‘ und Job  im Berliner Ensemble anzubieten. Das Theater leistete seinem Kritiker hier also durchaus Widerstand – ein Widerstand, der sich explizit nicht gegen den Inhalt der Rezension richtete (das wäre im gespannten Verhältnis zwischen Theaterpraxis und Theaterkritik ja nichts Neues), sondern gegen die Art, wie ein Kritiker seine Medienmacht gegen einen einzelnen Schauspieler in Stellung brachte.

 

Die Klage des Kritikers

Doch auch der Kritiker war mit seinem Theater ganz und gar nicht zufrieden! So veröffentlichte Gerhard Stadelmaier zehn Jahre später eine Polemik, die sich schon im Titel gegen ein „Regisseurstheater“ wendet, in dem Text und Tradition nichts, Zeitgeist und die Selbstherrlichkeit der Regisseur*innen jedoch alles bedeuteten.[1] Interessant für die Frage nach dem aktuellen Stellenwert und Platz der Theaterkritik ist dieser Text vor allem wegen dem dort skizzierten Verhältnis zwischen Zeitung, Kulturkritik und Leserschaft.

Die Beziehung des von Stadelmaier figurierten Kritikers zu seinen Leser*innen ist ambivalent: Einerseits sind sie die „kritischen Partner“, die durch eine Theaterkritik, „die den Verstand und die Phantasie des Lesers anregt, zum Widerspruch, zum Ganz-anders-Denken reizt“, überzeugt werden müssen (S. 39f.). Doch andererseits sollten diese Leser*innen das ‚Ganz-anders-Denken‘ und die kritische Partnerschaft auch nicht übertreiben, etwa indem sie selbst – nicht zum Spiralblock, aber dem digitalen Schreibgerät greifen. Feindbild sind besonders solche Leser*innen, die online und damit „im allgemeinen elektronischen Stammtisch-Sumpf des Jeder-darf-mal-Postens und Senf-dazu-Gebens“ aktiv werden, „wo im Schatten allgemeiner Anonymität jeder das, was ihm zu einem Ereignis oder einer Nachricht oder gar einem Artikel [!] durch die Rübe rauscht, als Kürzestpublikation ins Internet stellen kann“ (S. 39). Statt „als aleatorischer Publizist zu fuhrwerken“ (S, 52), so ist das wohl zu verstehen, sollen die Leser*innen den partnerschaftlichen Dialog mit dem Kritiker möglichst für sich führen – was für letzteren vielleicht auch den Vorteil hat, im Zweifel von diesem Dialog weitestgehend verschont zu bleiben.

Diese Sorgen bezüglich einer (online) schreibenden Leser*innenschaft können als Anzeichen einer generellen Aversion gegenüber der Pluralisierung des Über-Theater-Sprechens und Theater-Machens verstanden werden, die Stadelmaiers Polemik prägt. So greift der Kritiker auf Ebene der Theaterproduktion die einflussreiche ‚Talentschmiede‘ der Gießener Angewandten Theaterwissenschaft an und bezeichnet das Institut, aus dem in den letzten Jahrzehnten inzwischen etablierte und einflussreiche Theatermacher*innen wie René Pollesch, Gob Squad, Rimini Protokoll oder She She Pop hervorgegangen sind, als „Szenenverkopfungsfabrik“, in der „Drama und Schauspieler nichts mehr gelten“ (S. 72). Gegen einen „lieb- und bildungslose[n]“ (S. 123) ‚Stückezerschlager‘ setzt Stadelmaier das Idealbild eines Regisseurs als „Diener der Dichter“ (S. 110), das Publikum, das dieses folglich vom Text her gedachte und beurteilte Theater richtig begreifen möchte, braucht dazu „ein lesendes, nachlesendes und sich darin phantasierend vertiefendes Herz“ (S. 123).

Sehr deutlich spricht aus den Seiten von Regisseurstheater das Selbstverständnis eines einflussreichen Kritikerpapstes, der sich kompetent und befähigt fühlt, nicht nur über ‚richtiges‘ und ‚falsches‘ Theater zu entscheiden, sondern dieses ästhetische Urteil auch seinen Leser*innen zu vermitteln. Ebenso deutlich spricht hier aber auch ein Kritiker, der im Zeitungswesen groß geworden und für den Theaterkritik gleichbedeutend mit Zeitungsfeuilleton ist. Seine Kritik des ‚Zeitgeists 2016‘, seine Attacken gegen Blogger*innen, Twitter und das anonyme Internet wirken wie aus der Zeit gefallen, weil sie erkennbar in Widerspruch zur Lebensrealität der meisten Leser*innen stehen. Symptomatisch zeigt sich das, wenn Stadelmaier Theater und Zeitung als „die zwei bedeutenden Zeitgeistmaschinen […], die beide einen gewissen Bedeutungsschwund zwar hinzunehmen hatten und haben, aber immer auch noch ziemlich gesellschaftlich wirksam sind“, bezeichnet. (S. 36). Es geht an dieser Stelle nicht darum, Theater und Zeitung eine gesellschaftliche Wirkungsmacht grundsätzlich abzusprechen. Problematisch ist die hier skizzierte ideale kulturelle Modell-Öffentlichkeit von Theater und Zeitung im Jahr 2016, weil Stadelmaier über die Kommunikationsformen und gesellschaftlichen Wirkpotenziale des Internets in der Folge derart herablassend hinweggeht.

Es ist dabei zu vermuten, dass der Kritiker die pluralistischen Möglichkeiten zu Meinungsäußerung und -austausch, die das Internet bietet, keinesfalls übersieht oder auch nur unterschätzt. Viel eher scheint ein vielstimmiger und enthierarchisierter Dialog über Kunst und Kultur seinem Verständnis professioneller Theaterkritik grundlegend zu widersprechen. So gilt das, was Stadelmaier über das Theater festhält, auch für das Kritikerhandwerk: Wird es zum „Mitmach- und Mitspielgewerbe“ nach dem Motto „Keiner bleibt draußen“, verliert es seine Daseinsberechtigung. (S. 73)

In diesem Sinne ist es wegweisend, dass sich der Theaterskandal zehn Jahre vor Regisseurstheater gerade an einem Spiralblock entzündete, dem analogen Erkennungszeichen des Theaterkritikers also, das ihn aus der Menge des Publikums heraushebt und auf dem er den Prozess vorbereitet, der das performative Bühnengeschehen in die lineare Textlogik der Rezension überführt. An einem Schreibblock, der im Theatersaal als Kennzeichen professioneller Theaterkritiker*innen Autorität spendet, aber eben im digitalen Zeitalter gleichzeitig immer auch ein wenig aus der Zeit gefallen erscheint.

 

Der Kritiker als Bürger

Um ein Beispiel zu benennen, das er von seiner polemischen Kritik der gegenwärtigen Theaterlandschaft positiv absetzen kann, muss Gerhard Stadelmaier weit in die Vergangenheit gehen. Er findet es in der Mitte des 18. Jahrhunderts und damit zu der Zeit, in der sich nicht nur das heutige deutschsprachige Theatersystem, sondern mit dem vermehrten Aufkommen von gedruckten Periodika auch die deutschsprachige Theaterkritik formierte. Sozialhistorisch war diese Epoche vom ökonomischen und gesellschaftlichen Aufstieg des Bürgertums gekennzeichnet, das im Theater ein Versuchslabor fand, in dem es eigene Lebensentwürfe und Moralvorstellungen erproben und zumindest auf der Bühne auch durchsetzen konnte.

So wurde das Theater von Reformtheoretikern wie Johann Christoph Gottsched und Gotthold Ephraim Lessing für das Projekt einer bürgerlichen Aufklärung vereinnahmt und die von Friedrich Schiller gelobte „gute stehende Schaubühne“ als Sittenschule in den Dienst der Volkserziehung gestellt. Denn nicht nur das deutschsprachige Theater sollte im 18. Jahrhundert jenseits des Jahrmarktsbuden-Spektakels reisender Theatertruppen erneuert werden – auch das Publikum war zu einer aufmerksamen und gesitteten Rezeptionshaltung zu erziehen. Neben der Leistung der Schauspielenden findet sich deshalb in den Kritiken und programmatischen Essays der Zeit vor allem das Verhalten des Publikums während der Aufführung beurteilt: Die Formung des Theaters zur „einzige[n] Sittenschule für die Erwachsenen des Ersten und Mittelstandes“[2], als die es 1782 in der (durchaus zeittypisch-programmatisch benannten) Theaterzeitschrift Der dramatische Censor bezeichnet wurde, ist damit auch ein Anliegen der aufkommenden Theaterkritik.

Stadelmaier erkennt im Publikum des 18. Jahrhunderts jedoch weniger das Objekt ästhetischer Erziehungsmaßnahmen, sondern das „Glückskind eines glücklichen Zeitgeistes“ und einen „Partner des Kritikers“. Dadurch, dass letzterer sich die „Freiheit [nahm], in Kunstsachen seine Meinung zu sagen“, bereitete er auf dem Feld der Kultur letztlich die politische Willensbildung des Bürgertums vor: „Das Feuilleton wurde dergestalt zu einer Art Vorparlament“, (S. 55) der Kritiker zum Archetypus des Bürgers: „Im Kritiker trat der Bürger erst richtig in Erscheinung“. (S. 56) Das hier geschilderte Theater- und Feuilletonsystem im 18. Jahrhundert war damit seiner theoretischen Fundierung nach ein System des Theaterspielens und -kritisierens von Bürger*innen für Bürger*innen, das andere Bevölkerungsteile geradezu konzeptionell ausschloss. So empfiehlt auch der Dramatische Censor den deutschen Theatern, „mehr Zuschauer, besonders aus dem Bürgerstande, – nur auf diese Klasse kann sich ein stehendes Nationaltheater gründen – an sich zu ziehen“[3].

Diese Beschreibung des Theaters im 18. Jahrhundert entspricht jedoch eher bürgerlich-theaterreformatorischen Wunschvorstellungen der Zeit als der Praxis. Die deutschsprachigen Theater  wurden bis weit ins 19. Jahrhundert hinein nahezu ausschließlich von den Fürsten protegiert, finanziert und nicht selten zensiert, was ein allzu freies Denken, Schreiben und Spielen erschwerte. Doch auch das Publikum war keineswegs gewillt, sich von Theater und Kritik zum besseren Menschen erziehen zu lassen: Es waren nicht so sehr die heute im aufklärerischen Theaterkanon fixierten Stücke, die den Geschmack der Zuschauer*innen zwischen 1750 und 1850 trafen und deshalb die Bühnen beherrschten. Der erfolgreiche Schauspieler und zeitweilige Theaterdirektor Friedrich Ludwig Schmidt – ein Praktiker, der es wissen muss –, erinnert sich beispielsweise in seinen Memoiren: „Außer dem Dichternamen ‚Schiller‘ bewirkte bei uns noch derjenige von ‚Goethe‘ und ‚Lessing‘ u n f e h l b a r ein leeres Haus“. – Dass diese Namen noch immer so viel bekannter als die von Charlotte Birch-Pfeiffer oder August Wilhelm Iffland sind, wäre eigene Reflexionen wert.

Für jetzt aber zurück zu dem Theater und der Theaterkritik, die Gerhard Stadelmaier in Regiesseurstheater als positives Gegenbild zum Zeitgeisttheater und der entprofessionalisierten Kritik des neuen Jahrtausends zeichnet. Dieses Gegenbild ist vor allem von zwei Merkmalen bestimmt: Zum einen von einem Theater, das stets vom Text her gedacht wird und die Inszenierung folglich als Umsetzung des Dramas begreift. Zum anderen von der Einbettung dieses Theaters in eine bildungsbürgerliche kulturelle Identitätspolitik, die mit der Bühne den Platz gefunden hat, eigene Lebensentwürfe zu propagieren und sich so vom Adel genauso wie von den unteren Bevölkerungsschichten abzugrenzen.

Das deutsche Stadttheatersystem wie auch die Theaterkritik wurden damit aus dem Geist eines Bürgertums geboren, für das gesamtgesellschaftliche Kohäsion nicht im Fokus der eigenen kulturpolitischen Bemühungen stand, da es zunächst selbst seinen wirtschaftlichen, kulturellen und in der Folge auch zunehmend politischen Platz in der Gesellschaft finden musste. Beim Blick auf dieses gemeinsame Erbe erscheint es kaum als Zufall, dass die Probleme, vor die sich das Stadttheatersystem aktuell gestellt sieht, in vielerlei Hinsicht die der Theaterkritik sind. Für die Theater lassen sich viele dieser Herausforderungen auf die Frage zuspitzen, wie die teuren Institutionen verhindern können, mit dem Kontakt zur Lebenswelt der diversen (Stadt-)Gesellschaft diese auch als Publikum zu verlieren. Wie die Theater auf entsprechende Problemstellungen reagieren, darüber wurde – von Stadtteilprojekten bis hin zum vergünstigten Eintrittspreis – viel geschrieben. Wie aber reagiert die Theaterkritik?

 

Der kritische Dialog

Die Frage nach Anpassungs- und Erneuerungstendenzen der Theaterkritik führt noch ein letztes Mal zurück zur Spiralblockaffäre. Denn ihre für das deutschsprachige Theaterfeuilleton vermutlich bedeutendste mittelbare Folge sollte sich erst ein Jahr später zeigen, als 2007 das Branchenportal nachtkritik.de antrat, den deutschsprachigen Zeitungen zu zeigen, wie Theaterkritik im digitalen Umfeld funktionieren kann. Die Journalistin Esther Slevogt, die das Portal gemeinsam mit Petra Kohse, Nikolaus Merck, Dirk Pilz und Konrad von Homeyer gründete, beschrieb in einem Interview mit dctp die Spiralblockaffäre als unmittelbaren Auslöser für ihre Bemühungen um eine neue Form von Theaterkritik: „Da war für mich ein Punkt erreicht, an dem ich dachte, man muss die Einbahnstraße Theaterkritik für den Gegenverkehr freigeben.“

Der Plan von nachtkritik.de war also die Pluralisierung des kritischen Diskurses über das Theater, die Ersetzung des einen Kritikers durch den kritischen Dialog. Die typischerweise am Morgen nach der Premiere erscheinende Kritik soll also gerade nicht als abschließendes Verdikt über eine Inszenierung verstanden werden, sondern im Gegenteil als „Beginn eines künstlerischen Gesprächs über eine Arbeit“. In der Strukturlogik des Internets kann deshalb jede Kritik und jeder Essay, der auf dem Portal publiziert wird, von den Leser*innen kommentiert werden, die Rückbindung an das Zeitungsfeuilleton bleibt durch eine Presseschau gewahrt, die am Ende jeder Kritik beständig erweitert wird. Diese Kritiken selbst, darauf legt die Redaktion wert, sind jedoch Texte, die nicht „wild […] gebloggt“, sondern von bezahlten Autor*innen geschrieben und von einer Fachredaktion redigiert werden. Somit ist die textuelle Verfasstheit der Gattung Theaterkritik nicht angetastet, aber durch die Möglichkeit zu Repliken und (Gegen-)Kritiken der Leser*innen diskursiv anders gerahmt.

Über zehn Jahre nach der Gründung ist inzwischen klar, dass das Branchenportal so erfolgreich wie einflussreich ist. Längst finden sich dort nicht mehr nur Kritiken, sondern unter vielem anderen auch Essays zu aktuellen Entwicklungen, Buchbesprechungen und verschiedene Themendossiers. Die Redaktion zeigt immer wieder die Vorteile auf, die eine technisch wie konzeptionell wendige digitale Plattform gegenüber den Schlachtschiffen des Zeitungsfeuilletons hat. So sammelte nachtkritik.de schon ab Beginn der coronabedingten Theaterschließungen systematisch Online-Angebote der Theater und initiierte spezifische Streaming-Events inklusive begleitendem Chat mit den Regisseur*innen. Aus einem Kritik-Portal wurde eine reichweitenstarke Netz-Heimat für Theater in all seinen Facetten. Dass Kritiker*innen, die ihre Texte vorwiegend im Internet veröffentlichen, inzwischen ganz selbstverständlich Pressekarten in den Theatern erhalten und in großen Theaterjurys sitzen, verdanken sie nicht zuletzt dieser digitalen Pionierarbeit.

Aber die Geschichte von nachtkritik.de zeigt auch, dass der plurale und diverse Theater-Diskurs im Netz krisenanfälliger ist als die vielleicht immer kleiner werdende, aber eben doch noch nicht ganz gestrichene Feuilletonsparte in den Redaktionen. Wenn wie während der Pandemie Werbebanner wegbrechen, sind mit viel Herzblut, aber ohne große finanzielle Reserven und Absicherungen geführte digitale Portale schnell existenziell bedroht.

Theaterkritik im Netz kann also die Zeitungskritik – die gerade natürlich ihre eigenen Probleme hat – nicht ersetzen, aber sehr wohl ergänzen. Doch gerade deshalb sollte sie sich auf ihre medienspezifischen Stärken noch grundsätzlicher besinnen und Pluralität nicht nur als Einbettung der Kritik in den Diskurs einer Netzöffentlichkeit denken, sondern auch formale Konsequenzen ziehen. Warum beispielsweise derart an der textuellen Verfasstheit der Gattung Theaterkritik festhalten, statt die mediale Vielfalt des Internets auch für eine neue Art des Kritisierens von Theater nutzbar zu machen? Erste Schritte auf diesem Weg zeigt beispielsweise Berit Glanz’ Rezension eines Theaterabends in Notizheft-Tweets. Diese wurden zwar nicht alle live während der Vorstellung getwittert, aber eben doch nachträglich ohne größere textuelle Überarbeitung in Tweet-Form auf nachtkritik.de veröffentlicht.

Orientieren könnten sich derartige Bemühungen weiterhin an der Literaturkritik: Längst werden hier Rezensionen zu neuen Romanen nicht mehr nur textuell auf Blogs publiziert, sondern auch auf anderen sozialen Plattformen tummeln sich Lesebegeisterte, die gleichzeitig literatur- und medienaffin sind. Wie klug und reichweitenstark eine medial diverse Präsentation von Literatur sein kann, beweist zum Beispiel die Redakteurin und Moderatorin Miriam Zeh auf ihrem instagram-Kanal, wo sie „Feuilleton, nur fancy“ betreibt. Ihre Videoclips verbinden Film, Bild und Text zu Besprechungen, die natürlich knapper ausfallen als Zeitungsrezensionen – dafür aber auch eine ganz andere Rezipient*innenengruppe erreichen. Auch auf youtube nutzen Buchhändler*innen und andere Enthusiast*innen als Booktuber teils mit Follower*innenzahlen im fünfstelligen Bereich die Videoplattform für ihre Besprechungen und Features. Versuche, dieses Medium auch für die Theaterkritik zu erschließen, wie sie beispielsweise die Theater-Pilger unternehmen, sind dagegen – noch! – Ausnahmen.

Bei der Bestimmung des aktuellen Ortes der Theaterkritik geht es also keinesfalls um einen reinen Umzug vom Spiralblock in den Blog. Vielmehr steht die Gattung vor der Aufgabe, sich nicht nur hinsichtlich einer größeren Dialogfähigkeit, sondern auch in ihren medialen Mitteln und Strukturen zu verändern: Sie muss gerade die digitalen Orte erobern, an denen die ‚aleatorischen Publizist*innen fuhrwerken‘, die Stadelmaier ein Dorn im Auge sind, und den „allgemeinen elektronischen Stammtisch-Sumpf des Jeder-darf-mal-Postens und Senf-dazu-Gebens“ (S. 39) produktiv erschließen, vor dem der Feuilletonist so nachdrücklich warnt.

Es ist an der Zeit, den Spiralblock nicht nur als Insignie des allmächtigen Kritikers, sondern auch als Zeichen für die grundsätzliche textuelle Verfasstheit der Kritik zu verabschieden. Das heißt nicht, dass es keinen Platz mehr für die geschliffenen Verrisse oder Apotheosen des Zeitungsfeuilletons geben soll. Es heißt aber, dass das Kritisieren und Diskutieren von Theater als gesellschaftlich relevante Kunst überall dort stattfinden muss, wo Gesellschaft diskutierend zusammenkommt. Wie das Theater braucht auch die Theaterkritik also viele Orte – und Formen.

 

[1] Gerhard Stadelmaier: Regisseurstheater. Auf den Bühnen des Zeitgeists, Springe 2016. Alle Zitatnachweise in der Folge direkt in Klammern.

[2] Anonymus: „An das Parterre“, in: Der dramatische Censor Christmonat (1782), H. 3, S. 97-121, hier: S. 100.

[3] Anonymus: „An das Parterre. (Fortsetzung)“, in: Der dramatische Censor Januarius (1783), H. 4, S. 145-158, hier: S. 157.

 

 

Photo by Steve Johnson on Unsplash

Wenn das Lachen vergeht – Abbas Khider schreibt den modernen Irak

von Maryam Aras

 

In der britischen TV-Serie Baghdad Central kämpft der ehemalige Polizei-Kommissar Muhsin al Khafaji (gespielt von Waleed Zuaiter) sich mit seinen Töchtern durch die Hölle der von US-Amerikanern und Briten besetzten irakischen Metropole. Weil er unter Saddam Hussein gedient hatte, ist er im post-baathistischen Irak in Ungnade gefallen. Nun wirbt ihn ein britischer Regierungsbeamter an, der – aus politisch aufrichtigen Motiven scheint es – eine irakisch geführte Polizei wiederaufbauen will. Doch Khafaji verfolgt seine eigene Agenda: Seine ältere Tochter Sausan (Leem Lubany) ist verschwunden und die jüngere Mrouj (July Namir) ist schwer krank und kommt ohne Hilfe von außen nicht an die lebensnotwendige Dialyse-Behandlung. Kommissar Khafaji macht sich jeden Tag aus seinem halbzerstörten Viertel, in dem mittlerweile die Jungen der Nachbarschaft bewaffnet mit ein paar Maschinengewehren und islamistischen Sprüchen das Sagen haben, auf in die „Green Zone“, in das Hochsicherheitsgebiet der Besatzer. Doch auch die scheinen verstrickt in Sausans Verschwinden. Sobald beide Töchter zurück und gesund sind, will Khafaji nur eins – raus aus Irak.

Die bisher sechsteilige Serie, produziert für Channel Four, ist sehr gut gemachte Krimi-Noir Unterhaltung, die sich nicht scheut, das neokoloniale Gebaren der westlichen Alliierten vom einfachen Soldaten bis zum Entscheidungsträger in Anzug und Krawatte darzustellen. Das „dual-language Drama“ wird dabei von einem überzeugenden trans-arabischen Cast getragen, dessen Darsteller*innen sicher dankbar waren, in einer englischsprachigen Produktion einmal nicht eine*n Terrorist*in, dessen Schwester oder Geliebte*n spielen zu müssen. Ein arabischsprachiges Publikum wird während der untertitelten Dialoge die unterschiedlichen Akzente der amerikanisch-kuwaitischen, britisch-ägyptischen, -irakischen oder palästinensisch-israelischen Schauspieler*innen erkennen.

Neben viel Lob für die Repräsentation arabischer Darsteller*innen on-screen gab es aber auch kritische Stimmen, die bemängelten, die Gelegenheit, irakische Stimmen ihre eigenen Geschichten erzählen zu lassen, sei vertan worden. Unbegründet sind diese Vorwürfe nicht. Als Script-Vorlage diente dem englischen Drehbuchautor Stephen Butchard der gleichnamige Roman des amerikanischen Arabisten und Literaturwissenschaftlers Elliott Colla. Auch hinter der Kamera war kein*e Iraker*in Teil des engeren Produktionsteams (lediglich eine der Associate Producerinnen, Arij al-Soltan, ist Britin irakischer Herkunft). Diese Diskussionen zu führen ist wichtig, gerade weil diese Produktion trotz der abermals weißen Agency des Autor*innenteams (wer darf erzählen?) allem, was das deutsche Fernsehen je an Vergleichbarem hervorgebracht hat (eine Handvoll Filme um den deutschen Bundeswehreinsatz in Afghanistan herumerzählt: Auslandseinsatz (2012), Willkommen im Krieg (2012) und Zwischen Welten (2013)) um viele Längen voraus ist.

Auch in der deutschen Gegenwartsliteratur fällt eine Bestandsaufnahme irakischer Stimmen zahlenmäßig bescheiden aus – Karosh Taha erzählt vielbeachtet aus post-kurdischer Perspektive. Der in Köln lebende Bakhtyar Ali schreibt auf Sorani und lebte lange eine literarisches Nischenexistenz – das Schicksal der meisten übersetzten Autor*innen bei deutschsprachigen Verlagen. Seit seinem Roman von 2017, Der letzte Granatapfel, gilt er auch hier als die wichtigste Stimme der zeitgenössischen irakisch-kurdischen Literatur. Sherko Fatah, der ebenfalls aus post-irakisch-kurdischer Sicht schreibt, seine Romane jedoch auch in Kurdistan spielen lässt, erfuhr mit seinem letzten Roman leider keinen großen öffentlichen Widerhall. Und dann ist da noch Abbas Khider. Mit ihm hat die deutschsprachige Literaturszene einen Autor, der Geschichten über seinen Irak erzählt, und damit auf dem deutschen Buchmarkt erfolgreich ist (seine Romane Ohrfeige, 2016, und Der falsche Inder, 2008, müssen in diesem Text außen vor bleiben).

In vielen seiner Interviews wiederholt Khider die Rolle, die die deutsche Sprache für ihn als irakischer Exilautor spielt: Sie verschaffe ihm die nötige Distanz, um über den erlebten Schrecken unter Saddam Husseins Regime schreiben zu können. Dabei hilft ihm oft sein Humor. Den Verbrechern ihre Lächerlichkeit zu schenken, mache vieles erträglicher, sagt er.

Mesopotamische Geschichten

Khiders Humor ist so einer seiner markantesten Erzählelemente in den Romanen Orangen für den Präsidenten (2011) und Brief aus der Auberginenrepublik (2013). Diesen beiden Werken lassen sich als „mesopotamische Geschichten“ zusammenfassen, wie es am Ende von Brief aus der Auberginenrepublik auf dem letzten Schnipsel des namensgebenden Briefes kurz vor dessen Verbrennen heißt: „Die Glaubwürdigkeit unserer Geschichte besteht vermutlich darin, dass sie weder glaubwürdig noch unglaubwürdig ist. Sie ist eben nur eine mesopotamische Geschichte…“

In Orangen für den Präsidenten erzählt Khider die Geschichte des jungen Taubenzüchters Mahdi, der, 1989 am Tag seiner Abiturprüfungen ins Gefängnis geworfen, abwechselnd von seinem Leben in Babylon und Nasiriya, und seinem späteren Alltag im Gefängnis berichtet. Auf drei Seiten, die der Haupterzählung vorangestellt sind, erzählt das lyrische Ich von seinem „Trauerlachen“ – einer scheinbar ungesteuerten jedoch sehr effektiven Abwehrstrategie gegen die ihn folternden Gefängniswärter. Der prologartige Abschnitt beschließt die erzählerische Schleife des Romans, den Khider in einem Flüchtlingslager in Kuwait enden lässt. Neben dem Lachen als eigenem Motiv kreiert Khider immer wieder abgründig-witzige Situationen – wie die der titelgebenden Episode, in der die Gefängnisinsassen an Saddam Husseins Geburtstag auf eine Amnestie hoffen und sich das sehnsüchtig erwartete „Geschenk“ als eine Kiste voller Orangen entpuppt.

Khiders Sprache ist in beiden Romanen geprägt von humoristischen, manchmal flapsigen Elementen. Diese durchbrechen einen sonst eher romantisch-narrativen Stil, der sich in seiner Misch-Art zwar angenehm liest, aber nicht unbedingt bleibenden Eindruck hinterlässt. Interessanterweise deutet sich Abbas Khiders stilistische Entwicklung bereits in dem eindrücklichsten Kapitel des darauffolgenden Brief in die Auberginenrepublik an. Der geschickt konzipierte Episodenroman wird durch die Irrfahrt eines Briefes, den der politische Flüchtling Salim aus Bengasi in Libyen an seine Geliebte Samia in Bagdad schreibt, zusammengehalten. Im vierten Kapitel erzählt der Lastwagenfahrer Latif Mohamed, der den Brief ein Stück des Weges transportieren wird, wie er zu seinem Rufnamen Abu Samira kam. Die etwas ungewöhnliche Konstruktion „Vater von Samira“ bürgerte sich ein nachdem der geliebte Sohn Nori halbtot und verbrannt aus dem Iran-Irak-Krieg zurückkehrte und er die Ansprache als Abu Nori nach dessen Tod nicht mehr ertrug. Es veränderte sich auch die Art, wie das Ehepaar mit einander redet

Nach Noris Tod lief ich als traurige Gestalt durch die Gegend. Oftmals, wenn ich wie gewohnt meine Frau Om Nori rufen wollte, stolperte meine Zunge über den Namen meines Kindes. Noris Namen konnte ich nicht mehr aussprechen. Es schnitt scharf in mein Inneres, und das schmerzte mich. Seitdem rief ich meine Frau bei ihrem Vornamen Halima und sie mich Latif. Das ergab sich unvermeidlich, ohne Absprache verwendeten wir unsere Vornamen und wurden auf einmal wieder fremde Menschen, die sich erst langsam kennenlernen mussten. 

Letztlich ist der polyphone Roman selbst ein Brief an die alte Heimat das Autors, den er mit seinen deutschsprachigen Leser*innen teilt. In seiner Widmung schreibt er: „Fast ein Jahrzehnt, von den letzten Jahren des 20. bis in die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts, hast Du kaum Briefe von mir erhalten, und ich ebenso wenige von Dir. Für Dich und für die anderen wartende, traurigen und dennoch hoffnungsvollen Seelen ist dieses Buch.“

Leben unter Sanktionen

Die Auberginenrepublik, das ist der Irak in der Phase des totalen Wirtschaftsembargos 1991-2003, als die normale Bevölkerung Iraks kaum mehr etwas zu essen hatte, außer eben den Auberginen, aus denen die Mütter in Abbas Khiders mesopotamischen Geschichten immer neue Gerichte kreieren. So auch in seinem neusten Roman Palast der Miserablen. Fast ließen sich die hier besprochenen Erzählungen als „Mesopotamische Trilogie“ zusammenfassen. Dem steht nur die stilistische Andersartigkeit des im Frühjahr erschienen Neulings entgegen. Das Lachen ist Khider vergangen, so scheint es. Das mag düster klingen, es muss für seine Leser*innen nicht schlecht sein. In seinem bisher umfangreichsten Roman erzählt er aus der Perspektive des Jungen Shams Hussein, wie es war, in einem Armenviertel zur Zeit der Sanktionen heranzuwachsen. Eingeleitet und immer wieder unterbrochen wird die chronologische Narration Shams‘ Jugend durch kurze Zustandsbeschreibungen aus dem Gefängnis.

Die chronologische Erzählung beginnt noch in der südirakischen Heimat der Familie Hussein, in dem Dorf Ahlan Dschahannam, „Herzliche Hölle“. Dieser Name, der aus den zwei Namen besteht, die jeweils die osmanischen und englischen Herrscher dem Ort gaben, entwickelt Khider als einen grotesken Running Gag, der die historischen Spuren der Kolonialherren versinnbildlicht. Shams‘ trotz bescheidener Lebensumstände und geographisch nahem Iran-Irak-Krieg harmonische Kindheit endet jäh, als die Repression des Baath-Regimes den schiitischen Aufstand nach dem zweiten Golfkrieg 1991 brutal niederschlägt. Mit seinen Eltern und seiner älteren Schwester Qamer, die die heimliche zweite Hauptfigur des Romans ist, zieht er nach Bagdad, oder besser gesagt – in einen von Bagdads Vorstadt-Slums.

Und jenes „Blechviertel“ beschreibt Khider bildstark und vielschichtig. Es ist Moloch und Armut, Zuhause und Lebensgrundlage zugleich. Es ringt seinen Bewohner*innen unendlich viel ab, aber es gibt auch zurück. Das Geschwisterpaar Shams und Qamer (die Namen bedeuten Sonne und Mond) finden sich zurecht und müssen neben der Schule zum Unterhalt der Familie beitragen. Der starken Qamer fällt dies leichter als dem passiven und zurückhaltenden Erzähler. Auch in der Beziehung der Eltern verschiebt Khider die Geschlechterrollen: die zunächst irrational scheinende Frömmigkeit der Mutter wird, nachdem der Vater nicht mehr körperlich arbeiten kann, zur Haupteinnahmequelle der Familie. Die Mutter (die der Vater bei ihrem Vornamen Zahra, und nicht Om Shams nennt) wird zu einer religiösen Mittlerin, die es sie in der schiitischen Volksreligiosität häufig gibt. Sie organisiert Reisen zu Schreinen und gibt Ratschläge in Liebesdingen.

Die Erzählung des Blechviertels hält vor allem die unmenschliche Armut der Embargo-Jahre auf beeindruckende Weise fest. Abbas Khiders dritte mesopotamische Geschichte beschreibt weit mehr als „nur“ eine Dekade unter Saddam Hussein’s Regime. Er beschreibt die konkreten Auswirkungen eines Machtgefälles zwischen dem Westen und Westasien, das sich bis heute fortsetzt. Er beschreibt die Lebensumstände der Leidtragenden von neokolonialen Macht- und Wirtschaftsinteressen, die bis heute die Außenpolitik der Vereinigten Staaten und Europas bestimmen. Vielleicht wird in einigen Jahren eine deutsch-iranische Autor*in eine Erzählung vorlegen, die die konkreten Auswirkungen der auch von Deutschland und Europa eingehaltenen US-Sanktionen auf die iranische Bevölkerung schildern wird. Vielleicht bleiben wir auch mit Abbas Khiders mesopotamischer Erzählung zurück und somit gut in der Lage, unsere Fantasie im sogenannten Globalen Süden schweifen zu lassen. Denn auch wenn Khider natürlich für ein deutschsprachiges Publikum schreibt – er tut es ohne einen „das Andere“ erklärenden Blick von außen. Khiders mesopotamische Realitäten sind so selbstverständlich und authentisch unauthentisch, wie Literatur es eben sein kann.

Eine starke Figur und eine Metapher für diese Realitäten hat Khider in Qamer geschaffen. Die kluge und schöne große Schwester arbeitet sich hoch und kommt durch eine günstige Eheschließung aus dem Blechviertel heraus. Sie wird zur Haupternährerin der Familie. Wie so oft in dem Roman scheint es aufwärts zu gehen für die Husseins. Doch ebenso oft lässt der Fall nicht lange auf sich warten. Qamer verkörpert auch die irakische Elite, die aus Eigennutz die Augen vor dem Offensichtlichen verschließt. Ihr Absturz ist unvermeidlich.

Realität der Miserablen

Eine Insel in seinem Alltag ist für Shams ein geheimer Literaturzirkel, in den er von einem Verwandten eingeführt wird. Die Wohnung des Gastgebers ist der „Palast der Miserablen“, in dem sich eine Runde aus älteren Intellektuellen und einem Schwesterpaar aus gutem Haus trifft. Shams ist das einzige Mitglied aus dem Blechviertel. Und obwohl er die literarischen und politischen Diskussionen sehr genießt, und lernt seinen intellektuellen Horizont weit über den des Blechviertels auszudehnen, wird er doch nie als gleichwertiges Mitglied des Zirkels wahrgenommen. In ihrer Kritik für Kulturzeit sieht Insa Wilke hier einen möglichen metaphorischen Fingerzeig Khiders auf den deutschen Literaturbetrieb, der ihn als Schriftsteller aus dem Irak zwar wie ein Maskottchen empfängt, ihm (bis her) aber die Anerkennung als gleichberechtigter Autor, den Zugang zu den großen Literaturpreisen nämlich, verwehrt.

Eine direktere Ansprache an sein deutsches Publikum verpackt der Autor in eine Diskussion im Palast der Miserablen, in der ein erstes Mitglied verkündet, dass er ins Exil gehen werde. Ein anderer bittet ihn, die Zustände im Irak aufzuschreiben, damit die Welt erfahre, was wirklich in ihrem Land vor sich ginge. Darauf antwortet der künftige Exilant: „Glaubst du ernsthaft, dass sich irgendwer da draußen für unsere Probleme interessiert? Wir sind doch nur eine schnelle Zeitungsschlagzeile oder eine Kurzmeldung in den Nachrichten wert. […] Wieso sollte unsere Geschichte irgendwen jucken, der gerade gemütlich im warmen Kaffeehaus in Wien oder Zürich sitzt und seine fette Torte mit einem Kaffee runterspült? Der schlägt die Zeitung zu und hat uns vergessen.“ 

Khiders Roman ist ein Plädoyer dafür, den Irak und seine Geschichten nicht zu vergessen. Auch das Ende seiner Gefängniserzählung, dessen Texte im Verlauf des Buches mit dem sich verschlimmerten Gesundheitszustand von Shams immer kürzer werden, verdeutlicht die politischen Verstrickungen, dessen Opfer normale Menschen wie Shams sind. Er ist den Herrschenden beider Seiten ausgeliefert. Sprachlich ist „Palast der Miserablen“ Khiders ausgereiftester Roman, seine stilistische Melange ist einer – überwiegenden – Ernsthaftigkeit gewichen. Seine Sprache hat an Gewicht gewonnen.

Abbas Khiders mesopotamische Geschichten sind ein Glücksfall für die deutsche Gegenwartsliteratur. In Palast der Miserablen erzählt er eindringlicher als je zuvor, was Armut und Diktatur für normale Menschen bedeutet. Er erzählt sowohl von der Wirkmacht der Literatur, als auch deren Grenzen. Es wäre zu wünschen, dass auch Filmschaffende sich seines Werks annehmen. Seine Romane halten genug spannenden Stoff für Adaptionen bereit. Irakische Realitäten.

Bleibt anzumerken, dass die beispielhafte Laufbahn von Abbas Khider kein Einzelfall in der deutschsprachigen Literaturszene bleiben darf. Auch einschließlich postmigrantischer Perspektiven, wie der von Olivia Wenzel, Ronya Othmann, Deniz Utlu oder Nava Ebrahimi, gibt es keine gleichberechtigte Präsenz, keinen fairen Zugang für Autor*innen aus Asien, Afrika, Lateinamerika und deren Diaspora auf dem deutschen Buchmarkt. Auf diese Weise wird eine künstliche Schieflage stabilisiert, die die einigen wenigen Schwarzen und Autor*innen of Color dazu verpflichtet, zu Sprecher*innen ihrer Herkunftskulturen zu werden. Wir Leser*innen mögen es uns nicht wünschen, aber wer weiß, vielleicht möchte Abbas Khider eines Tages etwas ganz anderes schreiben.

Der leere Raum

von Anne Fritsch

 

„Der leere Raum“ ist der Titel eines Buchs von Peter Brook aus dem Jahr 1968. Der britische  Regisseur beschreibt darin, was die Mindestanforderung an eine Theatervorstellung ist. „Ich kann jeden leeren Raum nehmen und ihn eine nackte Bühne nennen“, heißt es da. „Ein Mann geht durch den Raum, während ihm ein anderer zusieht; das ist alles, was zur Theaterhandlung notwendig ist.“ In diesen Tagen ist dieses Minimaltheater oft recht nahe an der Realität. Die Mindestabstände auf der Bühne und im Zuschauerraum machen den Theaterbesuch in Zeiten der Pandemie zu einer recht exklusiven Veranstaltung.

Irgendwann im Juli, als das Spielen unter strengen Auflagen wieder erlaubt wurde, wagten sich ein paar wenige Theater zurück. Die erste Vorstellung, die ich nach der Zwangspause sah, war ein Projekt von Susanne Kennedy an den Münchner Kammerspielen, „Oracle“. Und das kam der Brookschen Theaterminimalbeschreibung tatsächlich sehr nah. Jede*r Zuschauer*in betrat alleine einen theatralen Parcours, der durch verschiedene Räume zu einem KI-Orakel führte. Ein wenig spooky war es doch, sich einzeln auf diese Theaterreise zu begeben, in dieses Zwischending aus Theater und Museum, in dem die Verunsicherung zum Konzept erhoben wurde. Und einem durch die plötzliche Nähe der Schauspieler*innen bewusst wurde, wie selten man als coronagewöhnter Mensch die letzten Monate mit Fremden in einem Raum war. Wie ungewohnt der zwischenmenschliche Kontakt während des Lockdowns geworden war.

Meist aber oder eigentlich fast immer sind an einer Theatervorstellung doch mehr Menschen beteiligt. Darüber hinaus findet Theater zudem in geschlossenen Räumen statt, was in Corona-Zeiten natürlich ungünstig ist. Dass das Durchschnittspublikum altersmäßig eher der Risikogruppe angehört, ist auch kein Geheimnis. Kurz: Theater und Pandemie, das ist ein schwieriges Thema. Wenig überraschend mussten daher im März von einem Tag auf den anderen alle Theater schließen. Eine große Leere tat sich auf, jeder Abend war plötzlich ein freier Abend. So überhaupt noch Kritiken zu schreiben waren, bezogen sie sich auf Online-Projekte, die oft aus der Verzweiflung geboren wurden, oder auf gestreamte Vorstellungen. Auf einmal schrieb man über Produktionen, die älter waren als man selbst. Eine kleine Weile machte das Theater-Zapping durch Raum und Zeit auch irgendwie Spaß: heute in einer Live-Stream-Performance der Münchner Kammerspiele, morgen im Berlin der 1970er Jahre in der Schaubühne, übermorgen im Wiener Burgtheater. Teilweise konnte man sich sogar ein Double-Feature Hamburg-Köln oder Stuttgart-Rudolstadt  gönnen. Nach ein paar Wochen Streaming-Euphorie aber kam der große Kater: So entspannt es war, auf dem Sofa im Schlafanzug „Hamlet“ aus Avignon zu schauen, so sehr fehlte doch alles, was Theater eigentlich ist: das Eintrudeln des Publikums im Foyer, der erste Blick auf die Bühne, bevor es los geht, die Gespräche über das Gesehene, die Reaktionen im Publikum, der Live-Moment – das gleichzeitige Produzieren und Rezipieren. Und ja: das Zusammensein mit anderen Menschen.

Das Theater, das nach der Zwangspause wiederkam, hatte mit dem Davor nicht viel zu tun. Beim Betreten des Hauses wird man desinfiziert, es gibt separierte Ein- und Ausgänge, das Foyer ist ungewöhnlich leise und leer. An die neue Beinfreiheit durch die ausgebauten Sitzreihen aber könnte man sich glatt gewöhnen, mit einer neuen Selbstverständlichkeit stellt man seine Tasche auf den Nachbarsitz – man weiß ja: da wird keiner kommen. Nie mehr sitzt direkt vor einem die Dame mit der Hochsteckfrisur oder der größte Mann im Saal, nie mehr riecht man die Ausdünstungen des Nebenmanns oder der Nebenfrau. Theater, das bedeutet in diesen Tagen vor allem: sehr viel Platz für jeden einzelnen. Das Hamburger Altonaer Theater reagiert mit Humor auf die zwangsweise leeren Sitze, reserviert sie für imaginäre illustre Gäste wie Umberto Eco, Oscar Wilde oder Herta Müller. Wo keine Sitze ausgebaut wurden wie im Thalia Theater in Hamburg, wird die Leere dagegen schmerzlicher bewusst. Was für das Publikum gar nicht so unbequem ist, ist für die Theater mehr als nur eine Herausforderung.

Denn auch auf und hinter der Bühne gelten strenge Vorgaben, die kaum eine Prä-Corona-Inszenierung erfüllt, was bedeutet: Vom Repertoire bleibt in den meisten Fällen wenig bis gar nichts übrig. Eine Oper mit Chor und voller Orchesterbesetzung ist völlig undenkbar geworden, aber auch eine ganz normale Schauspielproduktion bietet genügend Fallstricke. Berührungen sind tabu, außer eine Schicht viren-undurchlässiges Plastik in Form von Handschuhen oder gar ein ganzes Planschbecken wie in Simon Solbergs „Indien“-Inszenierung am Münchner Volkstheater liegt zwischen den sich Berührenden. (Man kann den Regisseur*innen nicht vorwerfen, mit den Regeln nicht kreativ zu spielen.) In Bayern muss auf der Bühne ein Abstand von 2 m eingehalten werden. Wenn „expressiv“ gesprochen, gesungen oder gar geschrieen wird, sogar 3 m. Wohlgemerkt im Radius um jeden einzelnen. Das reduziert die Anzahl der potentiellen Mitspieler natürlich enorm.

Das Theater muss sich in diesen Tagen und Monaten seine Opulenz abgewöhnen. Seit Corona bestimmen seitenlange Hygienekonzepte die Theaterkunst. Intendant*innen werden zu Hygienefachleuten, beschäftigen sich mindestens so intensiv mit Sicherheitsabständen, Zuschauerströmen und Desinfektionsmittelspendern wie mit der Auswahl von Stücken und deren Besetzung. Vieles daran ist umständlich und bedeutet mehr Aufwand, wie beispielsweise längere Schminkzeiten, weil nicht mehr parallel gearbeitet werden darf, oder gestaffelte Kantinenzeiten während der Probenzeit für die einzelnen Produktionen. Was es besonders schwierig macht: Die Lage ist unübersichtlich, was in einem Bundesland erlaubt ist, ist anderswo verboten. Auch ändert sie sich immer wieder. Andreas Beck, Intendant des Münchner Residenztheaters, forderte darum im September in einem vielzitierten Interview mit der Abendzeitung eine verbindliche „Regelsammlung“ für alle, in der die Bestimmungen klar formuliert werden und einheitlich gelten. „Unsere Belüftungssysteme sind besser als die in den Bahnen und Bussen“, sagte er. „Warum hat die Kunst die härtesten Auflagen?“

Eine durchaus berechtigte Frage. Denn zumindest in Bayern ist man mit der Kultur wesentlich strenger als beispielsweise mit der Gastronomie. Für zwei Situationen, die augenscheinlich vergleichbar sind: Viele Menschen sitzen in einem Raum. Im ersten Fall (Gastronomie) essen, trinken und reden sie, verteilen also augenscheinlich mehr Aerosole im Raum als im zweiten Fall (Theater), wo sie still sitzen. Dennoch gilt in Gaststätten lediglich der Mindestabstand, für Theater aber eine pauschale Zuschauerbegrenzung von maximal 200. Egal, wie groß der Raum ist. Egal, ob kleines Privattheater oder großes Staatstheater. Wer zur Kulturveranstaltung Essen serviert, darf mehr Menschen reinlassen als der, der die Kultur pur bietet. Anders formuliert: Gibt es am Nockherberg zur Blaskapelle Schweinshaxe, dürfen 1000 Leute lauschen. Gibt es im Theater ein Konzert, höchstens 200.

Aus unerfindlichen Gründen wird das Theater als Risikoveranstaltung stigmatisiert. Daran hat Jochen Schölch, Intendant des Münchner Metropoltheaters, keinen Zweifel: „Es gibt momentan keinen sichereren Ort als das Theater, die Hygienekonzepte sind hier so streng wie nirgends.“ Wie aber reagiert das Publikum? Traut sich überhaupt noch wer ins Theater? Statt 165 Plätze kann Schölch jetzt maximal 98 anbieten. Die sind fast immer belegt, was Schölch froh macht. (Er kennt auch Theater, bei denen selbst die wenigen verfügbaren Plätze leer bleiben – weil die Leute nicht das Vertrauen haben, zu kommen.) Weil das Spielen unter diesen Bedingungen von einem Normalbetrieb aber weit entfernt ist, hat das Metropoltheater mit seiner Wiedereröffnung ein neues Bezahlsystem eingeführt: „Zahl doch, was Du willst“. Heißt genau das: Auf den Plätzen liegen Kuverts bereit, in die alle nach der Vorstellung einen beliebigen Betrag stecken können. So viel, wie ihnen „der Abend wert war“. Ganz normale Karten zu verkaufen, würde ein falsches Signal senden, denkt Schölch: So, als wäre jetzt alles wieder gut, wo die Theater wieder öffnen durften. Das ist es aber nicht. Um kostendeckend zu arbeiten, müsste er die Preise enorm erhöhen. Was er nicht will. Das neue Bezahlsystem ist anonym. Natürlich gibt es Leute, die einen leeren Umschlag einwerfen, das ganze als günstigen Abend verbuchen. Aber es gibt auch die, die mehr zahlen. Im Durchschnitt kommt das Theater auf die üblichen Kartenpreise – und hat vielleicht den einen oder die andere zum Nachdenken angeregt.

Auch das Münchner Volkstheater ist voll – oder vielmehr ausverkauft, seit es Ende Juli nach einer vorgezogenen Sommerpause verfrüht in die neue Spielzeit gestartet ist. Seit neuestem dürfen maximal 160 Leute in den Saal. Statt 600. Und das auch nur, wenn wenig Einzelbesucher und viele Vierergruppen kommen. Und doch: „Wir verlieren jeden Tag Zuschauer“, sagte Intendant Christian Stückl Ende September verzweifelt in einer Podiumsdiskussion zum Thema „Kultur in der Krise“. Er beobachtet etwas Unerwartetes: Hatte er (und wohl viele andere) damit gerechnet, dass die Älteren, die Risikogruppen, dem Theater fernbleiben, ist es umgekehrt. Genau die sind es, die kommen. Wer den Bezug zum Theater eher verloren zu haben scheint, sind die Jungen. Das wird natürlich dadurch verschärft, dass die Schulen auf alle außerschulischen Veranstaltungen – wie eben Theaterbesuche – verzichten müssen. Da das aber für viele die ersten (und möglicherweise einzigen) Begegnungen mit dem Theater sind, werden die Theater es in den kommenden Jahren noch schwerer als bisher haben, ihr Publikum zu verjüngen, den Nachwuchs anzulocken.

Welche Langzeitfolgen diese Krise für die Institution Theater hat, das treibt momentan viele Theatermacher um: Dass es Budgetkürzungen geben wird, ist vielerorts bereits gesetzt. Weniger vorhersehbar ist das Verhalten des Publikums. „Wenn jemand einmal in der Woche oder einmal im Monat ins Theater gegangen ist und diese Gewohnheit nun durch Corona unterbrochen wurde“, überlegt Schölch. „Fängt er dann wieder damit an? Oder hat er sich inzwischen daran gewöhnt, lieber auf der Couch Netflix zu schauen?“ Schölch fürchtet auch, dass bestimmte Strukturen, die jetzt zerstört werden, nicht wieder aufgebaut werden. Das Metropoltheater arbeitet nur mit freien Schauspieler*innen zusammen. Die verdienen nichts, wenn sie nicht spielen. Wer nicht zusätzlich Synchron spricht oder Film dreht, für den bricht gerade alles weg. Auch die Dramatiker*innen, die pro Zuschauer bezahlt werden, bekommen in dieser Spielzeit nur einen Bruchteil ihrer sonstigen Tantiemen. Über kurz oder lang werden sich viele freie Künstler*innen feste Jobs in anderen Bereichen suchen – und ob sie nach der Krise zurückkehren in die unsichere freie Existenz, das ist fraglich. Auch für die Schauspielschulen wird sich einiges ändern, vermutet Schölch, der den Studiengang Schauspiel an der Theaterakademie August Everding leitet: Dieses Jahr fallen die zentralen Vorsprechen aus, die Theater suchen in der Krise weniger neue Ensemblemitglieder. Wenn nächstes Jahr die Budgetkürzungen kommen, wird das noch schlimmer werden. Auch das Münchner Volkstheater arbeitet momentan zwangsläufig mit seinem festen Kernensemble. All die Schauspieler*innen, die sonst als Gäste ans Haus kommen, können erstmal nicht beschäftigt werden.

Das alles wird sich langfristig auf den Kultur- und Theaterbetrieb auswirken – wie genau, das vermag heute wohl noch keiner vorauszusehen. Ziemlich sicher aber werden sich ohnehin bestehende Probleme der Branche weiter verschärfen. Zum Beispiel den bestehenden Fachkräftemangel: Dass die Theater hochqualifizierte Leute für ihre Gewerke ausbildeten (Licht, Ton, Maske…), diese anschließend aber in besser bezahlte Branchen wie Werbung, Film, Veranstaltungstechnik etc. abwanderten, stellte den Betrieb bereits vor Covid-19 vor große Herausforderungen. Wenn die Theater nun auch die, die gerne bleiben würden, nicht halten können, dürfte sich die Situation weiter zuspitzen.

Wie also sieht die Zukunft des Theaters aus? Wie kann sich diese analoge und auf die Anwesenheit vieler Menschen angewiesenen Kunst behaupten? Wie kann sie „systemrelevant“ bleiben – oder gar werden? Die Theaterautorin Maya Arad Yasur hat sich dazu Gedanken gemacht, hat einen Text geschrieben mit dem Titel „Theatre after Corona Virus“. Sie betont darin die Wichtigkeit des Zusammenkommens und die Überwindung des „Social Distancing“ für uns als Gesellschaft. Die Aufgabe des Theaters müsse es sein, das zu zeigen: dass diese Dinge uns menschlich machen, die Solidarität und die Geselligkeit. „Wir sollten das zu unserem Leitfaden machen“, schreibt sie. „Eine Aufführung, die gestreamt werden kann, ist nicht genug Theater. Unser Motto muss werden: „Du musst dabei gewesen sein“.“

Das wieder möglich zu machen, ist jetzt die dringlichste Aufgabe der Politik. Eine Theatervorstellung ist eine der geregeltsten Veranstaltungen, die man sich vorstellen kann: das Publikum hat Platzkarten, sitzt bewegungslos auf seinen Plätzen, spricht eher selten (was den Aerosolaustoß vermindert) und das einst so beliebte Theaterhusten verkneift sich in diesen Tagen ohnehin jeder. Es ist also bei aller gebotenen Vorsicht nicht nachvollziehbar, warum für Theater unabhängig von der Größe des Raumes eine Zuschauerobergrenze gilt. Vielleicht – und wahrscheinlich – ist es falsch, der Politik einen bösen Willen zu unterstellen. Nicht zu bestreiten aber ist, dass über die Kultur zu wenig nachgedacht wird, dass ihre Interessen hinter so vielen vermeintlich wichtigeren Bereichen zurückstecken müssen – und dass so durch Unbedachtheit über Jahrzehnte gewachsene Strukturen in ihrer Existenz gefährdet sind. Theater ist eine analoge Kunst, die Corona-Zeit aber eine Hoch-Zeit des Digitalen. Wenn sich jetzt zu viele daran gewöhnen, dass alles online stattfindet, was früher einmal die tatsächliche körperliche Anwesenheit von Menschen verlangte, dann ist das Theater am Ende. Jetzt ist die Zeit, mit aller nötigen Vorsicht möglich zu machen, was möglich ist.

 

Photo by Paul Green

Nicht kaschierte Distanz – Zum Tod von Ruth Klüger

von Christiane Frohmann

 

 

Als sich am 7. Oktober 2020 auf Twitter die Nachricht vom Tode Ruth Klügers zu verbreiten begann, blickte ich auf der Plattform um mich und sah in viele aufrichtig betroffene Gesichter. Diese Gesichter musste ich nicht buchstäblich sehen, um sie wahrzunehmen, sie formten sich mittels Buchstaben, Worten, Tweets. Unter den Menschen, die da spürbar trauerten, waren auffallend viele, die wichtige Referenzpunkte in meinem persönlichen digitalen Kulturbetrieb bilden, weil sie mir Bücher empfehlen, die mir gefallen, weil sie ehrenamtliche Lektorinnen meiner Essays sind, weil sie auf Konferenzen Dinge sagen, die mich zum Denken anregen, weil ich mit ihnen gern in Verbindung bin, beruflich und privat. Mit Ruth Klüger ist offensichtlich jemand gestorben, der nicht nur für mich, sondern für Menschen im Netz, die mir wichtig sind, besondere Bedeutung hat.

In der Tagesschau am selben Abend wurde über den Tod einer anderen Person berichtet, die vor allem als Komiker bekannt geworden ist, Ruth Klügers Name wurde nicht erwähnt. Nun könnte man verschiedene mögliche Erklärungen dafür finden, warum der Tod des Komikers nachrichtenwürdig erschien, der von Ruth Klüger aber nicht, wie etwa: Die Nachricht von ihrem Tod war der Redaktion noch nicht bekannt. Wenn ich aber diese Nachricht durch den bloßen Umstand, auf Twitter zu sein, ungesucht bekommen habe, sollte eine Redaktion ebenfalls über diese Information verfügen. Eine andere mögliche Erklärung ist: Man hat sich dagegen entschieden, zu berichten, weil Klüger keine deutsche, sondern eine deutschsprachige austroamerikanische Autorin war. Auch diese Erklärung ist kaum befriedigend. Schließlich werden österreichische Autoren wie Handke und Bernhard, aber auch der tschechische Autor Kafka in Deutschland wie ein selbstverständlicher Teil der Nationalkultur behandelt, obwohl sie es faktisch nicht sind. Diese Autoren, so meine These, sind so sehr kanonisiert, dass man die Fremdanteile an ihnen gern ausblendet, um sie als Eigenes führen und fühlen zu können. Was aber die Sachlage angeht, war Ruth Klüger in Deutschland nicht weniger kanonisiert: Trägerin bedeutender Literaturpreise und des Bundesverdienstkreuzes erster Klasse und ihr Buch weiter leben Unterrichtsstoff an vielen deutschen Schulen. Aus mehreren Gründen taugte sie aber nicht für die beschriebene emotionale, aneignende Kanonisierung, der augenfälligste findet sich in ihrer Biografie. Ruth Klüger war eine Überlebende des Holocaust, noch dazu eine, die verweigerte, emotionalisierende Opfergeschichten zu erzählen. Von ihr konnte und kann man lernen, Gewalt nicht durch Romantisierung zu verlängern. Ihre Art des Schreibens und Sprechens war sachlich, analytisch, präzise. In Artikeln ist sie häufig als »schnoddrig« und auch »burschikos« bezeichnet worden, was, auch da, wo es liebevoll gemeint scheint, Ausdruck von Misogynie ist. Autorinnen wird kulturell tradiert und meist unbewusst unterstellt, emotional zu schreiben; tun sie es offenkundig nicht, entlaufen also der Projektion, lösen sie Unbehagen aus.

Ruth Klügers Autobiografie der Jugendzeit weiter leben [1] von 1992 ist eines der wichtigsten Bücher über die Shoa und das Erzählenmüssen des Nichtbegreifbaren. Es ist ein Buch, das trotz seiner strukturellen Paradoxie so gut funktioniert, dass man es selbst im Angesicht des furchtbaren Gegenstands gern liest, was eine herausragende ästhetische Leistung der Autorin ist. Eben, weil es, ohne dass sich der Eindruck bewussten Belehrtwerdens einstellt, Mitgefühl mit den Opfern des Holocaust auslösen und eine Vorstellung davon vermitteln kann, wieso man für die Vermeidung diskriminierender Gewalt verantwortlich ist, sollte es für immer im Lehrplan jeder deutschen Schule auf der Welt erscheinen. (Dieser Vorschlag würde am heutigen Tag in deutschen Kultusministerien vermutlich plausibler wirken, wenn der Tod der Autorin, als er am 7. Oktober bekannt wurde, in der Tagesschau der Rede wert gewesen wäre.)

Als Literaturwissenschaftlerin hat Ruth Klüger früher als andere Themen behandelt, die aktuell viel diskutiert werden, etwa Frauen lesen anders (1996), Gelesene Wirklichkeit. Fakten und Fiktionen in der Literatur (2006) und Was Frauen schreiben (2010). Nicht nur inhaltlich, auch was jargonfreies Schreiben und akademische Karriere angeht, sehen viele Frauen in ihr ein Vorbild. Hier muss aber bei aller verständlichen Identifikationsbegeisterung eine bestimmte Form respektvoller Distanz gewahrt bleiben. Es ist die gleiche Distanz, die man wahren sollte, wenn man sich als weiße cis Frau feministisch auf Audre Lorde bezieht. Um keine kulturelle Aneignung zu betreiben, muss man immer miterzählen, dass Lorde eine Schwarze und lesbische Aktivistin gewesen ist – darauf hat mich Asal Dardan einmal in einem Gespräch aufmerksam gemacht. Daher ist es wesentlich, auch Ruth Klüger nicht, indem man sich durch viele geteilte Interessen und Blickwinkel dazu hinreißen lässt, als »eine von uns« zu vereinnahmen und so das Inkommensurable des Holocaust auszublenden. Ruth Klüger hat sich mit keinem Text und auch nicht mit ihrem persönlichen Auftreten als schwesterliche Identifikationsfigur angeboten.

Man ist eher geneigt, sie mit Vokabular aus der Ästhetik des Erhabenen zu beschreiben. Auf gewohnte Weise konnte man Ruth Klüger nicht nahekommen, weil Kräfte wirkten, die weder sie noch man selbst kontrollieren konnte. Akzeptierte man aber diese Nähe mit existenziellem Abstand, stellte sich unmittelbar ein tiefes Gefühl von Achtung, Ehrfurcht und Respekt für sie und ihr Denken ein. Der erhabenen Wirkung lag dabei keinerlei geniekulthafte Selbsterhebung zugrunde. Außerordentlich war, dass Ruth Klüger Trennendes – grundsätzliche Unvereinbarkeit ebenso wie temporäre Meinungsverschiedenheiten – nicht mit Höflichkeit kaschierte. Wo es kein Wir gab, wurde es spürbar, und wenn sie etwas falsch oder unangemessen fand, sagte sie es. Eine Frau, die sich nicht die ganze Zeit entschuldigt, ist auch heute noch ungewöhnlich. In Kombination mit ihrer distanzierten Ausstrahlung hat dies auf viele Menschen wohl so irritierend gewirkt, dass man ihr das Etikett »schwierig« verpasste.

Ich habe Ruth Klüger 2011 in eben dieser Erwartung kennengelernt, auf eine schwierige Person zu treffen. Das Gegenteil war der Fall. Wir haben per Mail kommunizierend ein E-Book zusammen publiziert, es war mein erstes Projekt als Verlegerin. Die Arbeit lief sehr professionell ab. Zwischendurch hatte ich einmal eine Idee, die ihr nicht gefiel, sie sagte es, ich verstand ihre Gründe, nahm von der Idee Abstand, der Rest war ein Selbstläufer.

Der Text, den wir damals als E-Book veröffentlichten, hieß Anders lesen. Bekenntnisse einer süchtigen E-Book-Leserin und darin stehen Sätze, die meine These stützen, dass »digital native« ein unsinniges Konzept und das Digitale vielmehr eine Haltung ist, die nichts mit biologischem Alter zu tun hat.

»Gelesen und geschrieben wurde aber schon vorher, jahrtausendelang, viel große Literatur und übrigens auch einige heilige Schriften. Dazu brauchte es keine Buchdeckel, sogar Papier war unnötig. Warum soll denn nun die große Tradition der Schriftlichkeit ausgerechnet von der Methode ihrer Konservierung abhängen, die sich erst am Anfang der Neuzeit durchgesetzt hat?«

Von der Agentur, die Ruth Klüger damals vertrat, wurde ich zu einem gemeinsamen Essen mit ihr eingeladen. Ich war so aufgeregt, dass ich im Verlauf des Abends meine Yves-Saint-Laurent-Tasche ins Klo fallen ließ. Trotzdem brachte ich irgendwie den Mut auf, Ruth Klüger an diesem Abend eine sehr niedliche, extrem kitschige Brosche mitzubringen und zu schenken, eine Maus mit einer Lesebrille. Es war so ein Moment, der nur entsetzlich oder großartig werden konnte. Ich hatte Glück, sie war hocherfreut.

Anlässlich der Veröffentlichung des E-Books gab es am nächsten Tag ein Bühnengespräch an der Freien Universität Berlin, bei dem Ruth Klüger einen Satz sagte, der der Buchbranche, würde sie Autorinnen zuhören, viele Buch-vs.-E-Book-Diskussionen hätte ersparen können.

»Es ist sinnlos, diese Revolution zu beklagen, sie findet einfach statt.« [2]

Während auf der Bühne eine um die 80-Jährige und eine um die 40-Jährige ihrer Begeisterung für das digitale Lesen Ausdruck verliehen, runzelte im Publikum eine um die 20-Jährige die Stirn und schwärmte wehmütig von Anstreichungen ihres Großvaters in ihr vererbten Printbüchern. Ruth Klüger und ich warfen uns tiefe Blicke zu, aufrichtig erstaunte, weil man immer wieder vergisst, dass auch junge Menschen konservativ sein können.

Beim anschließenden Essen im Restaurant fragte sie mich die üblichen Sachen, die Frauen im akademischen Rahmen einander fragen. »Kinder?« »Ja.« »Promoviert?« »Irgendwann aufgehört.« Kopfschütteln, nicht über mich, sondern über das System. Ich bat sie, mir die Geschichte mit dem übergekippten Wein zu erzählen. Ein Kollege hatte ihr, wohl weil sie zuvor auf Avancen von ihm nicht eingegangen war, hinter ihrem Rücken Antisemitismus unterstellt, was sie so empörte, dass sie ihm bei einem Universitäts-Event ein Glas Weißwein übergoss. Meine Vermutung, welcher »faule, aber gescheite Kafka-Forscher“ sich hinter S. in unterwegs verloren (2008) [3] – dort wird die Begebenheit wiedergegeben – verbarg, erwies sich als richtig. (Der reale S. war der erste Professor gewesen, von dem ich bei meinem Studienjahr in den USA hörte, dass er bei Sprechstunden die Bürotüre offen stehen lassen musste, 20 Jahre vor #metoo.) Ruth Klügers Rat, einen so dickaufgetragenen Auftritt nur einmal im Leben hinzulegen, habe ich beherzigt, er steht uns allen noch bevor. Zum Abschied sagte sie zu mir, dass ich mich erst wieder mit einem neuen Verlagsangebot bei ihr melden dürfte, wenn ich meine Dissertation abgegeben haben würde. Dies wird nun nicht mehr möglich sein. Eine befreundete Verlegerin erzählte mir, dass sie Ruth Klüger ebenfalls mal ein Projekt angetragen und diese daraufhin zurückgeschrieben hätte: »Nein danke, ich habe schon eine sehr gute E-Book-Verlegerin.«

Ruth Klüger hat erst im Alter von 60 Jahren, als sie Gastprofessorin in Göttingen war, begonnen, in deutscher Sprache zu schreiben und damit auch ihren Namen mit Deutschland zu verbinden. Am 27. Januar 2016, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, wurde den Mitgliedern des Deutschen Bundestags die Ehre zuteil, dass Ruth Klüger eine Rede vor ihnen hielt. Sie entwarf darin ein hoffnungsvolles, einen froh stimmendes Bild von Deutschland, das in den vergangenen Jahren mit dem Wiedererstarken von Nationalismus und rechter Gewalt wieder an Plausibilität verloren hat.

»Dieses Land, das vor achtzig Jahren für die schlimmsten Verbrechen des Jahrhunderts verantwortlich war, hat heute den Beifall der Welt gewonnen, dank seiner geöffneten Grenzen und der Großherzigkeit, mit der Sie die Flut von syrischen und anderen Flüchtlingen aufgenommen haben und noch aufnehmen. Ich bin eine von den vielen Außenstehenden, die von Verwunderung zu Bewunderung übergegangen sind.« [4]

Wir sollten uns das Vertrauen von Ruth Klüger verdienen.

Die Autorin, die Literaturwissenschaftlerin, die Person Ruth Klüger hat jede Bewunderung verdient. Menschen, die sagen, dass Diskriminierungsbetroffene keine Wissenschaftler*innen sein könnten, Autobiografisches Literatur zu Boden ziehen würde und Literatur mit Haltung Ideologie wäre – sie alle werden durch sie widerlegt. Ruth Klüger ist am 6. Oktober 2020 in Irvine, Kalifornien gestorben. Ihr Name darf in Deutschland nicht vergessen werden.

 

[1] https://www.dtv.de/buch/ruth-klueger-weiter-leben-11950
[2] https://www.tagesspiegel.de/wissen/digital-versus-gedruckt-fu-studenten-verteidigen-das-gute-alte-buch/5831650.html
[3] https://www.dtv.de/buch/ruth-klueger-unterwegs-verloren-13913
[4] https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2016/kw04-gedenkstunde-rede-klueger-40343

Zwischen Bestseller und Special Interest – Carmen Machado im Spannungsfeld queerer Literatur

von Cordula Kehr

 

Im Mai sendete This American Life eine Podcastfolge mit dem Titel Stuck. Die Episode besteht wie immer aus mehreren Geschichten – diesmal von Menschen, die das Gefühl haben, sich in einer ausweglosen Situation zu befinden. Eine dieser Geschichten ist ein Kapitel aus Carmen Maria Machados Memoir In the Dream House (2019). Darin erzählt Machado von dem Gefühl, in einer gewaltvollen Beziehung gefangen zu sein – als interaktives Chose-Your-Own-Adventure, bei dem jede Entscheidung, also jeder Sprung auf die nächste Seite, nur im Kreis herumführt.

Was mich sofort faszinierte: Der Text fordert maximale Involviertheit beim Lesen, denn die Handlung entsteht mit den eigenen Entscheidungen. So wird eine sehr persönliche Geschichte – Machados eigene Erfahrung von häuslicher Gewalt in einer lesbischen Beziehung – zu einer begehbaren Anordnung. Unabhängig davon, ob ich ihre Erfahrung teile, bin ich aufgefordert, mich im klaustrophobischen Setting einer dysfunktionalen Beziehung zu bewegen. Ich bekomme das Gefühl, selbst etwas zu durchleben.

Auf dem Büchertisch bei Karstadt

Einen Text über Homosexualität zu schreiben, heißt ein Risiko einzugehen, schreibt Monique Wittig 1982 in ihrem Essay The Point of View: Universal or Particular?. Sie beobachtet darin ein problematisches Rezeptionsphänomen: Texte von homosexuellen Autor*innen, in denen Homosexualität eine Rolle spielt, werden häufig nur von Homosexuellen gelesen, weil die Perspektive der Autor*innen nicht als allgemeingültig verstanden und anerkannt wird.

“Writing a text which has homosexuality among its themes is a gamble. It is taking the risk that at every turn the formal element which is the theme will overdetermine the meaning, monopolize the whole meaning, against the intention of the author who wants above all to create a literary work. […] When this happens, the text […] is subjected to disregard, in the sense of ceasing to be regarded in relation to equivalent texts. […] It is interesting only to homosexuals.”[1]

Seit den 1980er Jahren ist das Angebot an queeren Figuren in der Literatur (und vor allem auch im Film) stark gewachsen. Queere Autor*innen haben bessere Zugänge zu großen Verlagen und auch die Themen, die sie verhandeln (können), sind vielfältiger geworden. Als Didier Eribons Rückkehr nach Reims 2016 auf Deutsch erschien, wurde es im Feuilleton vor allem als politische Analyse des europäischen (und US-amerikanischen) Rechtsrucks besprochen.[2] Édouard Louis‘ Im Herzen der Gewalt wird als „persönliche wie gesellschaftlich durchdringende Analyse über das Erwachsenwerden, Begehren, Migration und Rassismus“ beworben und Ocean Vuongs Auf Erden sind wir kurz grandios als Erzählung über das „migrantische, arme Amerika“. Diese Bücher sind Bestseller. Sie haben es auf den Büchertisch bei Karstadt geschafft. Sie sind auch Texte schwuler Autoren, in deren Zentrum autobiografische Erfahrungen stehen. Anders als Wittig attestiert, führt Homosexualität als Thema inzwischen seltener dazu, dass das Buch eines homosexuellen Autors seinen universalen Anspruch verliert.[3]

Aber gilt das auch im gleichen Maße für das Buch einer queeren Autorin, die sich selbst als „racially ambiguous fat woman“ beschreibt und die mit In the Dream House einen Text geschrieben hat, der explizit häusliche Gewalt in einer lesbischen Beziehung thematisiert? Bisher hat In the Dream House es weder auf den englischsprachigen Büchertisch bei Karstadt geschafft, noch auf den bei Eisenherz (Buchhandlung mit einem der größten Sortimente an schwuler und auch queerer Literatur in Berlin). Susanne Krones, Programmleiterin beim Penguin Verlag, erklärte unlängst im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur, dass Verlagsmitarbeiterinnen sich bei Titeln von Autorinnen zu so genannten Frauenthemen häufig fragten, ob sie diese verlegen sollten, weil ihnen die Themen so spezifisch erschienen. Simoné Goldschmidt-Lechner bemerkte in diesem Magazin, dass es für marginalisierte Autor*innen (insbesondere für Frauen of Colour) im Literaturbetrieb ein Kontingent zu geben scheine. Obwohl die Diversität im Literaturbetrieb insgesamt zunehme, finde die Vielfalt innerhalb marginalisierter Communities noch nicht genügend Raum.

In the Dream House bewegt sich in diesem Spannungsfeld queerer Literatur. Einerseits spielt Machado mit queeren Genres und setzt queere und lesbische Erfahrung ins Zentrum ihres Textes. Andererseits stellt ihr Memoir die Hierarchisierung von universaler und spezifischer Perspektive in Frage und zielt – ähnlich wie Édouard Louis in Im Herzen der Gewalt – darauf, aus ihrer spezifischen Perspektive gesellschaftliche Mechanismen von Gewalt aufzudecken.

Dream House als queere Stilübungen

Ein gutes Beispiel für lineares Erzählen ist David Lynchs The Straight Story. Ein Mann fährt auf seinem Rasenmäher immer geradeaus, seinem Tod entgegen. Im Gegensatz dazu lässt sich Machados Erzählweise in In the Dream House queer nennen. In 104 Kapiteln erzählt sie Facetten ihrer Beziehung zu der Frau im Dream House, Facetten der emotionalen Manipulation und psychischen Gewalt, die sie in dieser Beziehung erlebt hat. Dabei folgt jedes Kapitel einem eigenen Genre oder einer Stilfigur, schafft eine eigene Atmosphäre oder greift einen Topos romantischer Beziehungen und (lesbischer) Popkultur auf: „Dream House as Bildungsroman“, „Dream House as Sci-Fi Thriller“, „Dream House as Romance Novel“, „Dream House as Haunted Mansion“, „Dream House as Meet the Parents“, „Dream House as Lesbian Cult Classic“, „Dream House as Mrs. Dalloway“, um nur einige davon zu nennen. Anders als Raymond Queneau, der in seinen Exercices de style insgesamt 99 Mal die selbe Begebenheit variiert, sind bei Machado die einzelnen Kapitel immer weitere Bruchstücke einer Geschichte. Diese stilistische Vielfalt lässt sich queer nennen, weil sie sich nicht auf eine Form festlegen lässt, sondern lustvoll Genres wechselt und aus einem nahezu unbegrenzten Repertoire queerer Anspielungen und Codes schöpft.

Die Virtuosität dieses Spiels bewirkt ein intellektuelles Lesevergnügen, das neben den erzählten Gewalterfahrungen steht und diese kontrastiert. Das gilt auch für die Kommentarebene, die Machado nach einigen Kapiteln einzieht. In Fußnoten beginnt sie, auf Motive aus Märchen, Mythen und Fabeln zu verweisen. So werden unscheinbare Alltagsmomente doppelbödig, da sie auf Tabus dieser Genres anspielen: nicht sprechen dürfen, einen bestimmten Raum nicht betreten dürfen, nicht zurückblicken dürfen etc. Gleichzeitig wird durch das Zitat der Volksliteratur eine Kultur ins Licht gerückt, die permanent und wie selbstverständlich Gewalt gegen Frauen erzählt. Von Blaubart bis Carmen – Machado kontextualisiert ihre persönliche Erfahrung von psychischem Missbrauch in dieser Kulturgeschichte.  

„And haven’t men been gaslighting women, abusing their lovers, harassing their girlfriends, murdering their wives for as long as human history has existed? And isn’t their violence always a footnote, an acceptable causality? David Foster Wallace threw a coffee table at Mary Karr and pushed her out of a moving car, but no one ever really talks about it. […] In Mexico, William Burroughs shot Joan Vollmer in the head; her death, he said later, made him into a writer.”

Dabei dreht Machado das Verhältnis von Fußnote und Haupttext um. Ihre Perspektive, ihre Erfahrung als queere Frau of Colour, steht im Zentrum. Die Volksliteratur, die die Selbstverständlichkeit von Gewalt gegen Frauen tradiert, wird zur kontextualisierenden Erläuterung.

„the last thing queer women need is bad fucking PR“

Die Gewalt gegen Frauen, die Machado in der Kulturgeschichte findet, geht fast ausschließlich von Männern aus. Das entspricht der Statistik. Gewalt in lesbischen Beziehungen ist darüber hinaus aber auch schlecht dokumentiert. Keine große Überraschung. Das Archiv ist ein exklusiver Club und queere Geschichtsschreibung insgesamt lückenhaft. Doch Machado zeigt an einigen gut recherchierten Beispielen, dass Medien und Gerichte lange Zeit Gewalt in lesbischen Beziehungen nicht erfassen konnten oder wollten. „Was she a scorned lover or a madwoman? But to be a scorned lover, she’d have to be – they’d have to be – ?”

In Literatur und Film gibt es genug böse queere oder queer codierte Figuren. So viele, dass Machado mit „Dream House as Queer Villainy“ dem Topos des queeren Verbrechers ein eigenes Kapitel widmet. Lesbische Figuren neigen als „villain“ dazu, eine wahnhafte, bisweilen sogar mörderische Obsession zu Frauen zu entwickeln, die sie zurückweisen. Und es gilt: Je stärker die lesbischen Frauen von einer normativen Weiblichkeit abweichen, desto gefährlicher sind sie. Oder anders gesagt: Je böser, desto butch.

Für queere Autor*innen liegt der Wunsch nahe, dieser stereotypen Überzeichnung etwas entgegenzusetzen. Queere Menschen, betont Machado, brauchen gute PR, um für Gleichberechtigung zu kämpfen und die Rechte zu verteidigen, die bereits erstritten wurden. Denn die Repräsentation queerer Figuren in Literatur und Film, die Erfolge und Fehltritte bekannter queerer Persönlichkeiten wirken sich darauf aus, wie queere Menschen von ihren Mitmenschen gesehen werden, ob sie als gleichberechtigt anerkannt werden oder nicht. „But that’s the minority anxiety, right? That if you‘re not careful, someone will see you – or people who share your identity – doing something human and use it against you.”

Wenn Machado in ihrem Memoir davon erzählt, dass ihre lustvolle und sexpositive Beziehung zu der Frau im Dream House auch gewaltvoll ist und immer gewaltvoller wird, riskiert sie, dass ihre Geschichte weder als individuelle Erfahrung, noch als Teil einer allgemein menschlichen Erfahrungswelt, sondern als prototypisch für lesbische Beziehungen (miss)verstanden wird. Queere Sexualität ist aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft immer deviant und deswegen schnell verdächtig. Solange das Bild von queerer Sexualität, das im Mainstream dominiert, eindimensional ist, können Nuancen individueller Erfahrungen nur schwer sichtbar gemacht werden. Weil es den Topos der „obsessiven Lesbe“ gibt, fühlt sich das Erzählen über die Frau im Dream House teilweise wie „bad fucking PR“ an. Indem Machado diesen Zusammenhang reflektiert und offenlegt, zeichnet sie ein differenziertes Bild queerer Sexualität und queerer Beziehungen, das auch die lesbische Community nicht schont, die häusliche Gewalt gerne als patriarchal externalisiert.[4]

Die Verleihung des Nobelpreises für Literatur wird häufig damit begründet, dass der Autor (seltener auch die Autorin) in seinem Werk eine universal menschliche Erfahrung beschreibt: „die Spezifizität menschlicher Erfahrung“ (Handke, 2019), „sein Werk von universaler Güte“ (Gao Xingjian, 2000), „eine herausfordernde Vision menschlichen Ausgesetztseins“ (Camilo José Cela, 1989), „das Drama des menschlichen Seins“ (Wole Soyinka, 1986), „Schilderung menschlicher Grundbedingungen“ (Claude Simon, 1985) usw. Doris Lessing hingegen ist die „Epikerin weiblicher Erfahrung“.

Machado gelingt es mit In the Dream House das Spannungsfeld zwischen spezifischer Erfahrung und universalem Anspruch zu navigieren: Sie „übersetzt“ das Queere oder Lesbische ihrer Erfahrung nicht, verzichtet nicht auf Nuancen, macht es nicht „verdaulich“, aber nachvollziehbar. Ihr Buch bietet eine differenzierte gesellschaftliche Analyse von häuslicher Gewalt – aus ihrer Perspektive. Ich würde mir wünschen, In the Dream House bald auf dem Büchertisch bei Karstadt zu entdecken.

 

 

[1] Monique Wittig: The Point of View: Universal or Particular? In: The Straight Mind and Other Essays. Boston: Beacon Press 1992, S. 62f. Der Essay ist bereits 1982 auf Französisch als „Avant-note“ zu La Passion von Djuna Barnes erschienen. Die Übersetzung stammt von Wittig selbst.

[2] „Hören Sie, ich weiß nicht, was ihr alle wollt. Ich habe ein Buch über meine Mutter geschrieben und jetzt soll ich Brexit, Trump und die Welt erklären“, äußerte sich Eribon diesbezüglich im Interview mit der Süddeutschen Zeitung.

[3] Es mag helfen, dass Eribon und Louis diesen Anspruch durch Referenzen auf soziologische Fachtexte direkt selbst formulieren.

[4] Machado schreibt: „But some lesbians tried to restrict the definition of abuse to men’s actions. Butches might abuse their femmes, but only because of their adopted masculinity. Abusers were using ‘male privilege’.”

 

 

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Missionen statt Handlung – “Tenet” und das Zeitalter des videospieligen Films

von Matthias Kreienbrink

 

Was unterscheidet das Videospiel vom Film? Die einfachste Antwort ist wohl: Seine Interaktivität.  Es mag abgedroschen klingen, aber der Input der Spieler*innen, der die Veränderbarkeit bedingt, das Performative des Spielens, macht den Unterschied. Daraus folgen Konventionen, die die Narrationen der Spiele formen, die Art, wie Geschichten erzählt werden. Nun ist es spätestens mit Einzug von aufwendig animierten Zwischensequenzen das Bestreben vieler großer Enwicklerstudios, ihre Videospiele filmischer zu machen, sich dem (Hollywood)Kino und seinem Bombast und Überschwang zu nähern – und damit auch seinem starren Erzählen. Seit einigen Jahren erscheint diese Beeinflussung jedoch nicht mehr so einseitig: Viele moderne Filme erzählen wie Videospiele. Und in beiden Fällen zeigt sich: So richtig funktionieren tut das nicht.

Leere Spielmechaniken

Wenn Nathan Drake in einem „Uncharted 4“ an bröckelnden Ruinen emporklettert, dabei Schüssen ausweicht und schließlich durch das Dach des Gemäuers bricht, dann geht das freilich gut von der Hand. Fein laufende Videospiel-Mechaniken, die auf Knopfdruck das erledigen, was sie sollen. Ebenso wenn Kassandra in „Assassin’s Creed: Odyssey“ diverse Nebenaufgaben abklappert, Türme erklimmt oder gegen Spartaner kämpft. Das macht Freude, ist kurzweilig. Es funktioniert. Wir befinden uns in einer Spielwelt, durchzogen von Spielmechaniken, die ihr Sinn und Ziele geben.

Doch diese Spielmechaniken transportieren selten erzählerische Inhalte, sind selten Teil der Narration. Vielmehr dienen sie als Fleißarbeit für die Spieler*innen, als Herausforderung, bevor es zur nächsten Zwischensequenz kommt – und die Geschichte tatsächlich weitererzählt wird. Auf diese Weise funktioniert die Narration in vielen (AAA)Spielen: Sie wird ausgelagert, von den Spielmechaniken getrennt. Wenn erzählt wird, dann zumeist in Zwischensequenzen – das Spielen verkommt beinahe zum Beiwerk zwischen den aufwändig erstellten Filmen. Selbst in dem durchaus komplexen „The Last of Us 2“ wird das eigentliche Spielen zuweilen zur Farce. Da das Spiel vom Zirkel der Rache erzählen möchte, inszeniert es Gewalt in den Zwischensequenzen äußerst drastisch. Hier wird jeder Tod, jeder Mord zu einer Tragödie. Bis die Spieler*innen den Controller wieder in die Hand nehmen, und mehrere hundert anonyme Gegner töten.Gameplay und Geschichte scheinen wie zwei Ebenen, die parallel zueinander laufen, aber selten in Kontakt zueinander stehen.Dagegen gibt es Spiele, wie etwa „What Remains of Edith Finch“, die genau das versuchen: aus den Mechaniken erwächst die Geschichte – das Steuern der Charaktere ist die Narration.

Videospielig

Vor einigen Wochen kam „Tenet“ ins Kino, der neue Film von Christopher Nolan. Vor ihm erschien „Star Wars: Der Aufstieg Skywalkers“ und davor viele andere Filme, die sich irgendwie anders anfühlten, sonderbar, videospielig eben. Doch was mact sie anders? Dem lässt sich, zum Videospiel passend, wohl am besten in einzelnen Etappen nähern.

1. Sie  erzählen in „Missionen“: Da Videospiele oftmals länger als 40 Stunden dauern, besonders wenn es sich um die notorisch umfangreichen „Open World“-Spiele handelt, gibt es nur einen rudimentären dramaturgischen Bogen, der sich von der ersten bis zur letzten Minute zieht. Vielmehr teilt sich das Spiel in diverse Missionen (oder Episoden, oder Quests etc.) auf. Auch „Tenet“ fühlt sich an wie eine Abfolge einzelner Missionen, die die Zuschauer*innen stets im Hier und Jetzt halten, ihnen vor Augen führen, was die Protagonist*innen gerade zu tun haben: Jetzt gilt es, ein Flugzeug in ein Gebäude zu rammen. Nun müssen wir einen wertvollen Gegenstand aus einem Transporter stehlen. Es sind einzelne Missionen, die für sich Anfang, Mitte und Ende haben. Doch wo auch immer sie sich in der Dramaturgie des Filmes einreihen – wieso die Protagonist*innen das gerade machen, geht verloren. Die Zuschauer*innen haben womöglich längst vergessen, wie es zu dieser Mission kam und wie sie im Zusammenhang zu anderen Missionen steht. Wie in einem Videospiel klappern sie mit den Protagonist*innen die einzelnen Etappen ab – es fehlt eigentlich nur eine Punktevergabe am Ende jeder Mission.

2. Eine Mechanik steht im Mittelpunkt: In “Tenet” haben einige wenige die Möglichkeit, sich rückwärts durch die Zeit zu bewegen. Es ist diese Mechanik, die den Kern des Films ausmacht. Dialoge ordnen sich ihr unter, der Handlungsbogen ebenso. Ähnlich wie in einem Videospiel basiert der Film auf der Idee, dass die Spieler*innen eine Fähigkeit besitzen, die sich in Form einer konkreten Spielmechanik manifestiert, anhand derer sie sich durch das Spiel bewegen. Sie ist Ausgangs- und Endpunkt des Films, gibt ihm Struktur, ordnet ihn. Doch bleiben die Zuschauer*innen  passiv. Die Mechanik scheint zum Greifen nahe, doch ist sie eben nicht greifbar, nicht anwendbar. Dennoch steht sie im Mittelpunkt des Films, sie macht die Action des Films aus und sie ist es, die bombastisch inszeniert wird. In dem ganzen Spektakel gehen dann allerdings die erzählenden Momente des Films unter.

3. Sie bedienen sich der Ästhetik von Videospielen. Die Kamera filmt die Protagonist*innen über die Schulter. Teilweise folgen die Zuschauer*innen dem Geschehen in Ego-Perspektive. Der Film gaukelt vor, dass er steuerbar ist, wie ein Videospiel. Aber er ist es nicht. Die Inszenierung der Mechanik spielt mit Zeitlupen, die Kamera dreht sich um gewaltige Explosionen, zoomt heran an die herumfliegenden Partikel. Wie in den Zwischensequenzen von Videospielen ist es diese Inszenierung, die den Zuschauer*innen bedeutet, welche Teile des Films wichtig sind – handlungstragend – und welche lediglich dem Überschwang geschuldet sind.

Starke Erzählungen

Nun ist es  nichts Neues, dass Medien sich gegenseitig beeinflussen, Erzählstrukturen adaptieren. Mit Filmen wie „Black Mirror: Bandersnatch“ wird gar versucht, die Interaktionsmöglichkeiten eines Videospiels zu integrieren, um auch den Film veränderbar zu machen. Doch zeigt sich, dass bisher weder das filmische Videospiel noch der videospielige Film wirklich gut funktionieren. Bei Videospielen zeigt sich das Problem seit Anbeginn: Das Medium entstand in einem Spannungsfeld aus Innovation und starkem Kommerzialisierungsdruck – es ist das einzige Erzählmedium, das nie eine Zeit vor dem modernen Kapitalismus erlebt hat. Es wurde geformt in und durch die Strukturen des Marktes. Da mag es naheliegen, geläufigen und bewährten Konsumgewohnheiten eher nachzukommen, als wirklich neue Möglichkeiten des Erzählens zu erforschen. Daher die vielen Spiele, die filmisch sein wollen, denen Hollywood am nächsten steht.

Der Film aber hat seine Erzählkonventionen über Jahrzehnte hinweg in einem konfliktreichen Aushandlunsgprozess entwickelt. Auch hier wird es in der Zukunft Veränderungen geben. Aber es stellt sich die Frage, ob gerade das Videospiel, das zu größten Teilen selbst ein Hybrid aus verschiedenen Erzählformen ist, die Quelle sein sollte, an der sich der Film mit frischen Ideen bereichern kann. Videospiele sind lang, und sie werden immer länger. Dass ein solches Medium eine andere Art des Erzählens braucht, ist naheliegend. Wenden sich Spieler*innen nach Wochen wieder ihrem Spiel zu, können Sie zumindest im Menü nachvollziehen, in welcher Mission sie sich gerade befinden. Sie kennen ihr nächstes Ziel und sie kennen die Spielmechaniken, die ihnen auf dem Weg dahin zur Seite stehen. Dieses fragmentarische Erzählen findet nun auch immer öfter seinen Weg in (Hollywood)Filme. Mission für Mission wird abgeklappert, ein actiongeladener Höhepunkt folgt dem nächsten. Doch was im Videospiel aktiv gestaltet werden kann, drückt die Zuschauer*innen im Kino tiefer in ihre Sessel. „Wozu passiert das hier eigentlich gerade?“, mag sich die ein oder andere nach Mission 23 des Films denken. Aber wen interessiert schon ein Handlungsbogen, wenn die Explosionen wie im Videospiel aussehen?

 

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Das Leben ganz elementar lesen – Vier Bücher über die Gegenwart der Natur

von Susanne Wedlich

 

Vielleicht fange ich am besten mit einem saisonalen Disclaimer an. Wenn ich mir eine Jahreszeit aussuchen müsste, würde ich dem Herbst nachlaufen, bis die Wehmut nicht mehr auszuhalten ist. Greenery, dem aktuellen Buch des Nature Writers Tim Dee musste ich angesichts des Untertitels Journeys in Springtime also mit der gebotenen Vorsicht begegnen. Zu Unrecht: Tim Dee denkt beim Frühling konsequent zyklisch den Herbst mit und jedem Anfang wohnt hier mindestens ein Ende inne, ob biologisch, ob in der Zeit oder im Raum.

Und manchmal hängt das auch zusammen. Der Brite Dee ist mit einer südafrikanischen Ornithologin verheiratet und teilt sein Jahr auf die beiden Heimatländer auf, pendelt also ähnlich longitudinal zwischen den Hemisphären wie die Schwalben, die er an einem Dezembertag bei seinem Haus kurz vorm Kap beobachtet. Ob er ihnen schon einmal im Sommer in England begegnet ist? Ob sie heimfliegen? Wo ist eigentlich das Daheim der Zugvögel – und des schreibenden Nomaden Dee? Er habe den Halt auf der Landkarte verloren, schreibt er. 

Schließlich sei die Wintersonnwende in Südafrika im Juni, die Schwalben also dort, wo sie im Dezember auch sein sollten: as at home as they could be. Irgendwann würden sie aber wieder gen Norden fliegen und die ersten unter ihnen früh im noch jungen Jahr Südeuropa erreichen. This might be one definition of the beginning of spring. Spring moves north through Europe at a speed comparable to the swallows´ flights. Im Menschenmaß gerechnet: Der Frühling ist etwa im Schritttempo unterwegs und liefert eine Art grünen Faden für Dees poetisches Meisterwerk. 

Einmal lesen ist nicht genug, so dicht sind hier Natur und Literatur mit Biografischem verwoben. Dees Reisen führen unter anderem in den Tschad und in die Sahara, nach Helgoland und an den Polarkreis. Wohin er aber auch geht, überall hat er mindestens ein Auge gen Himmel gerichtet. Vögel sind seine Frühlingsboten und noch mehr: Er ist ihnen schon ein Leben lang verfallen, beobachtet und beschreibt, atmet und lebt sie. Hier ist klar im Vorteil, wer den Rüppell´s warbler vom willow, olivaceous, subalpine, garden, Upcher und black-throated green warbler unterscheiden kann.

Ich kann das nicht, habe aber einen anderen Zugang zur Lektüre gefunden. So unbelastet in der Vogelkunde war mein Kopf eine mehr oder weniger weiße Leinwand für Dees Porträts – und er kann wunderbar mit Worten malen. Das geht mit raschen Pinselstrichen – They were swallows: the gast of dried-blood at their throats told me that, and the blue, metal-shiny crick crack of their sharp wings and deep-cut tails –  genauso wie mit spitzer Feder: …it carries with it something of the dirt inside us all. It is old like shit is old“, schreibt er über den woodcock

Und wer wie ein night soil bird aussieht, kann sich kaum besser anhören: …their antiquity scored with brief squeals, snores, grunts, and methane blows. Old, far-off. Unlovely things. Muss man mehr wissen? Dem woodcock mag es ein Trost sein, dass sich auch andere Arten alt und unnahbar anhören. Its song was things old and cold made into music. If a colander could sing it would sound like a mistle thrush: cold light, cold air, cold water coming through cold and hammered steel. Es bleiben viele Vogelbilder in meinem Kopf. Weil in jedem davon so viel Dee steckt, habe ich nun zum ersten Mal aber auch eine Ahnung davon, was  diese Tiere für manche Menschen so unwiderstehlich macht.

Abgesehen vom ornithologischen name-dropping liest sich das Buch aber auch wie ein who´s who der Literaturgeschichte. Shakespeare, Coleridge, Rilke, Rimbaud… Wer hat nicht den Frühling besungen? Noch eindrücklicher fand ich allerdings Passagen aus Tagebüchern und Briefen, in denen beispielsweise der schwer lungenkranke D.H. Lawrence nur eines vergeblich ersehnte: einen letzten Frühling. 

Spring means more to me with every year that passes and takes me deeper into my own autumn, schreibt Dee. Es ist eine Klammer, die er zum Ende des Buches schließt mit dem Bericht seiner eigenen Parkinson-Diagnose. Eine Nachricht, die er in England erhält und seiner schwangeren Frau am Telefon übermitteln muss. Spring seems to bring forth elegies for a world that is still in the process of being born. A beginning is always the beginning of an end; we are dying from the moment we hatch. 

Was aber, wenn sich Organismen diesen engen Grenzen von Leben entziehen? Merlin Sheldrakes Buch Entangled Life führt ins dunkle Reich der Pilze, in die Erde, aber eben nicht nur dort: Fungi are everywhere, but they are easy to miss. They are inside you and around you. They sustain you and all that you depend on…They are eating rock, making soil, digesting pollutants, nourishing and killing plants, surviving in space, inducing visions, producing food, making medicines, manipulating animal behavior, and influencing the composition of the Earth´s atmosphere.

Pilze helfen seit Menschengedenken unter anderem beim Brotbacken und Bierbrauen. Künftig sollen sie weitere Aufgaben übernehmen, etwa Öko-Baumaterial liefern und gefährliche Abfälle von Nervengiften über radioaktiv verseuchtes Material bis zu vollen Windeln abbauen. Schließlich sind sie die geborenen Zerstörer: Using cocktails of potent enzymes and acids, fungi can break down some of the most stubborn substances on the planet, from lignin, wood´s toughest component, to rock; crude oil; polyurethane plastics; and the explosive TNT

Doch trotz dieser langen und fruchtbaren Zusammenarbeit von Mensch und Pilz wissen wir noch erstaunlich wenig über sie, weniger als ein Zehntel aller Arten sind bislang dokumentiert. Pilze können passionierte Fürsprecher wie Sheldrake also gut gebrauchen, dessen Herangehensweise sich mit einem Satz aus dem Buch zusammenfassen lässt: I tried to imagine the scene from the truffle´s point of view. Dieser Wechsel in die Perspektive des Trüffels ist allerdings leichter gesagt als getan. Den Pilz macht das Myzel aus, ein komplexe Netzwerk aus Hyphenfäden, die verzweigen, fusionieren und so gut wie alles durchdringen können. 

Mycelium is how fungi feed…The more of their surroundings that hyphae can touch, the more they can consume. The difference between animals and fungi is simple: Animals put food in their bodies, whereas fungi put their bodies in the food. Das Myzel sei Appetit in körperlicher Form. Ein Körper ohne Bauplan, eher eine Art ökologisches Bindegewebe mit kaum vorstellbarer Reichweite. In practice, it is impossible to measure the extent to which mycelium perfuses the Earth´s structures, systems, and inhabitants – its weave is too tight. 

Und sein Einfluss währt lange und reicht weit. Pilze halfen wahrscheinlich vor rund 500 Millionen Jahren den ersten Pflanzen an Land, von denen noch heute mehr als neunzig Prozent von ihren unterirdischen Partnern abhängen. Eine Ausprägung ist das wood wide web, das oft als pilz- und wurzelbasiertes Kommunikationsnetzwerk der Bäume verstanden wird, die bei Bedarf auch Nährstoffe austauschen. Evolutionär lässt sich der scheinbare Altruismus der pflanzlichen Nachbarschaftshilfe aber kaum erklären. 

Hier kann Sheldrakes pilzzentrierte Lesart helfen. Möglicherweise halten sich ja die Pilze ein paar Pflanzen – und erzwingen den Austausch. Müssen wir jetzt alle die Trüffelperspektive einnehmen? Es würde zumindest verhindern, dass wir charismatischen Lebewesen wie Bäumen automatisch die Rolle des Drahtziehers und nie die der Marionette zuschieben. Und wir könnten vielleicht dezentrale Organismen wie Pilze besser verstehen, denen bislang kaum Intelligenz zugeschrieben werden kann, weil diese traditionell über die Hardware – sprich: Nervensystem und Gehirn – definiert wird. 

Pilze, Schleimpilze und auch andere reagieren aber auch ohne Neuron flexibel auf ihre Umwelt, lösen Problem und treffen Entscheidungen. Schwarmintelligenz ist hier ein Denkmodell, das für Sheldrake bei Pilzen aber zu kurz greift, weil sie als Geflecht nicht aus getrennten Einheiten bestehen. Es gibt also noch viel zu lernen und vielleicht kristallisieren sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede ja beim Blick auf Schwarmvarianten anderer Art heraus: A murmuration of starlings is a swarm, as is a school of sardines. Swarms are patterns of collective behavior

Das Medium mag sich ändern, kollektives Verhalten lässt sich aber häufig schwer entschlüsseln oder auch nur nachweisen. Der Meeresbiologe Callum Roberts ging zu Beginn seiner Karriere in den 1980er Jahren einer grundlegenden Frage nach: Herrscht am Riff Chaos oder Ordnung? Wie er in Reef Life. An underwater memoir schreibt, half seine gute Vorbereitung recht wenig vor Ort, weil die  Fische den Abbildungen in Lehrbüchern kaum ähnelten, ihre Farben lebhafter, ihre Muster subtiler und die Kontraste zwischen den Arten weniger klar waren. 

Jegliche Ordnung kam also chaotisch herrüber: Shock blossoms into wonder. Fish throng a labyrinth of coral: fat fish, slender, spiny, smooth, bulbous-eyed, serious, striped, barred, spotted, dotted, ringed, plain, lemon peel, orange, aquamarine, black; a mind-bending confusion coming and going. Es war kaum möglich, auch nur das Kommen und Gehen einiger weniger Arten zu dokumentieren, nicht zuletzt, weil Roberts die Kommunikation per Farbe, Muster und Geräusch nicht verstand. 

Offen war zu jener Zeit auch die Frage, wie robust Korallenriffe eigentlich sind. Viele Fachleute sahen sie als fast unzerstörbar an oder befürchteten nur lokale Schäden. Wie fehlgeleitet diese Einschätzung war, zeigte sich um die Jahrtausendwende mit den ersten „Massenbleichen“, bei denen Korallen im überhitzten Meer ihre symbiotischen Mikroben ausstießen. A bleached coral is a starving coral; if conditions don´t soon swing back to normal, it dies. Mittlerweile ist dies hinlänglich als globales Problem bekannt, das sich im Zuge der Klimakatastrophe rasant beschleunigt. 

Was geht hier verloren? In den letzten vier Dekaden hätten drei katastrophale Erwärmungen Riffe rund um die Welt zerstört, schreibt Roberts. Dabei sind sie die reichsten aller marinen Ökosysteme, die mindestens ein Viertel aller Arten im Meer unterstützen. Er selbst kämpft als Forscher, Ausbilder und politischer Berater, wenn auch ohne viel Hoffnung, denn die Korallenriffe seien on a trajectory to collapse within a human generation. There will be remnants here and there, but the global coral reef ecosystem – with its storehouse of biodiversity and fisheries supporting millions of the world´s poor – will cease to be

Es sei schon von Zombie-Ökosystemen die Rede, die weder tot noch in einem funktionalen Sinne wirklich am Leben seien. Und manche Fachleute hätten die Riffe schon aufgegeben, würden jede Investition in ihre Rettung als Geldverschwendung ablehnen. Muss man das lesen? Die Lektüre ist schmerzhaft, aber doch mitreißend, denn Roberts ist ein ebenso leidenschaftlicher Lobbyist der Riffe wie es Tim Dee bei den Vögeln und Merlin Sheldrake bei den Pilzen ist. 

Zum anderen eröffnet auch er hier eine Welt, die den meisten Menschen notgedrungen verschlossen bleibt. Wenn die Korallenriffe aber überhaupt noch eine Überlebenschance haben sollen, darf ihr Niedergang nicht unter der Wasseroberfläche verborgen bleiben, der sich in Jahren und Jahrzehnten messen lässt. Die Zeit läuft: We are fortunate to live in the greatest period of coral reef growth in planetary history. Yet we might bring it all to an end within the space of a few human generations.

Korallenriffe sind in ihrer Komplexität schwer zu entschlüsseln sind, bleiben aber wenigstens am Platz. Die australische Autorin Rebecca Giggs fokussiert in Fathoms. The World in the Whale auf Tiere, auf denen ebenfalls ganze Ökosysteme basieren – wenn auch der mobilen Art. Hier geht es um die biologisch einzigartigen und dank ihres Charismas für die Umweltbewegung ikonischen Wale, deren Einfluss sich  Ozeane erstreckt. 

Neu war für mich, dass auch Wale als Organismus kaum zu fassen sind. Die immense Größe macht den Unterschied, wie Giggs erfährt, als sie mit einem Fachmann das langsame Sterben eines gestrandeten Wals diskutiert, das sich nur schwer beschleunigen lässt. Denn Herz und Hirn des Wals liegen so weit auseinander, dass die Auswirkungen eines tödlichen Bolzenschusses in eines der Organe das andere nur zeitverzögert erreichen würden. Ein Ausbluten wiederum könnte Tage dauern und würde ein Schlachtfeld hinterlassen. 

Und der Green Dream, ein starkes Barbiturat würde zwar den Wal erlösen, aber als tödliches Risiko für Aasfresser und andere ins Ökosystem einsickern. Hier habe sie angefangen, über den Walkörper nachzudenken als etwas, wo Sterben an mehreren Stellen und über unterschiedliche Zeitspannen stattfindet. Der Anfang vom Ende ist dann häufig Müll des Menschen, wenn etwa Fischernetze in Walmägen landen oder Chemikalien wie Düngemittel und Pestizide im Walfett lagern, um dann über die Milch der Weibchen auch die Jungen zu vergiften. 

Giggs zeichnet in ihrem Ausnahmebuch viele Verbindungen zwischen Mensch und Wal nach, dem tierischen Ökosystem, das wir seit Jahrhunderten verehren und erforschen, vor allem aber ausschlachten. People of the nineteenth century – across an array of classes, professions, and life stages – dressed in, slept, and dreamt on the stuff of whales; they cooked with, played with, desired with, and made art from, looked through, healed with, explored….In the ordinary course of life, they were almost constantly in contact with whale-gleaned products, in much the same way as most people today are never far from plastic object. 

Der Verlust von Walen dezimiert aber nicht nur deren Bestände, sondern wirkt sich großflächig auf die marine Biodiversität aus. The world in a whale lautet der Untertitel des Buches und ließe sich damit ergänzen, dass mit jedem Wal auch eine Welt untergeht. Wenn zu viele Wale eines unnatürlichen Todes sterben, macht sich das sogar in der Tiefe bemerkbar.  Denn hier befinden sich hunderte Arten von whalefalls. Das ist das Absinken eines Walkadavers, der auf jeder Station dieser oft wochenlangen Reise Überleben bietet, wo es sonst kaum Nahrung gibt. 

Schöner als Giggs kann keiner über Verrottung schreiben und über Leben, das dem Kadaver entspringt. Am Meeresboden tunnelt der Schleimaal glitschige Gänge ins Aas und ein Teppich weißer Würmer wächst. Muscheln, Krabben und Schnecken, auch die sogenannte „Rotzblume“ Osedax, ein hochspezialisierter Wurm, der das Mark über wurzelartige Ausläufer aus den Knochen saugt. Es kann ein Jahrhundert dauern, bis der Kadaver durch Tiere zerlegt wurde, die nur auf toten Walen und manchmal nur auf einer einzigen Walart leben können. 

Was bedeutet also ein toter Wal für diesen extremen Lebensraum? In undersea sites bereft of seasons (as we are wont to understand the seasons), a whalefall is tantamount to springtime – a fountain of life; spectacular, then squalid. Und warum auch nicht? Wenn wir schon vertraut eng gesteckte Definitionen von Leben aufweichen müssen, wenn maßgeschneiderte Zerstörung erwünscht ist, aber die Fragilität der Korallenriffe unerwartet jedes Maß übersteigt, kann der Frühling doch auch dunkel und kalt sein und aus der Zeit gelöst entspringen. 

 

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Mehr als Twitteratur – Eine kurze Twitter-Literaturgeschichte

von Elias Kreuzmair & Magdalena Pflock

In der Rezension einer Susan-Sontag-Biografie konnte man letztens über  Autorinnen wie Sontag, Sylvia Plath und Virginia Woolf lesen: „Sie erlangten nicht nur Ruhm zu Lebzeiten, sondern ein echter Mythos umgibt sie fortan – mit allem, was dazugehört: ikonische Fotoporträts, Twitter-Bots, sofort wiedererkennbare Zitate, biografische Mini-Industrien, die im Schatten dieser Frauen entstanden.“

Ganz selbstverständlich stehen hier Twitter-Bots in einer Reihe mit anderen Anzeichen populärer Kanonisierung. Es ist bemerkenswert, dass hier eben nicht eine Facebook-Fanpage oder ein Instagram-Account genannt werden, sondern Twitter. Dieser Umstand deutet auf die Rolle hin, die dem  Microblogging-Dienst im literarischen Feld inzwischen zukommt. Er hat in den letzten fünfzehn Jahren verändert, was wir unter Literatur verstehen und wie der Literaturbetrieb funktioniert.

Die erste größere Aufmerksamkeit des Literaturbetriebs für Twitter verbindet sich mit dem Begriff „Twitteratur“. Prägend für den Begriff war der Band Twitterature. The World’s Greatest Books Retold Through Twitter (2009) von Alexander Aciman und Emmett Rensin, der 2011 auf deutsch erschien. Aciman und Rensin hatten einige Klassiker der Weltliteratur in Tweets übersetzt, jedoch nie auf Twitter gepostet. Um den Band entbrannte eine heftige Debatte darüber, ob denn Twitteratur nur auf Twitter stattfinden könne oder auch offline in Buchform. Es ging also darum, ob die Gattung an ihr Medium gebunden ist. Zu diesem Zeitpunkt fand der Begriff „Twitteratur” seinen Weg auch über die Grenzen des Netzwerks hinaus. Der Werbetexter Florian Meimberg gewann für seine Twittertexte 2010 den Grimme Online Award in der Kategorie „Spezial“. Ein Twitter-Lyrik-Preis wurde ausgerufen. Einer der erfolgreichsten Figuren dieser Phase, @RenateBergmann, hat inzwischen mehr als ein Dutzend Bücher bei Rowohlt veröffentlicht. Schon kurz darauf fand sich ein Eintrag zu Meimberg auch in einer Einführung in die Kurzgeschichte und verschiedene Aufsätze zur „Twitteratur“ wurden publiziert, wie etwa Twitteratur. Digitale Kürzestschreibweisen von Jan Drees und Sandra Annika Meyer.

In diesem Kontext wurde das Thema Literatur und Twitter von Feuilletons aufgegriffen und diskutiert – oft in einem kulturkritischen Ton, der sich für die Berichterstattung über Netzphänomene etabliert hat. Der Zeit-Kolumnist Harald Martenstein etwa hatte einfach nur „Angst vor der Twitteratur“ und  „regt sich über inhaltsarme Minitexte auf“, Die Welt titelte: „Twitter als Literatur – total genial oder nur banal?“. Was sich in diesen Titeln artikuliert, ist eine Frage, die Twitter immer wieder herausgefordert hat: Was erkennen wir als Literatur an? Was sind unserer Kriterien dafür, etwas als Literatur zu bestimmen? Ist, wer ein paar Witze und Sentenzen in 280 Zeichen packt, eine literarische Autor*in? Wer ein Buch beim twitteraffinen Frohmann Verlag veröffentlicht hat? Oder muss es Suhrkamp sein?

Eine zentrale Schwierigkeit bei der ästhetischen Einschätzung zeigt sich in der alltäglichen Praxis des Twitterns. Ein Account kann in einem Moment den Alltag poetisieren und im nächsten eine Eilmeldung retweeten, dann eine Reply unter einen Tweet des Sprechers der Bundesregierung schreiben und anschließend ein Haiku posten. Ab wann ist ein Account literarisch? Wenn seine Betreiber*in einen Roman veröffentlicht hat? Wenn man seinen Stil poetisch nennen würde? Wenn sie sich selbst als Kunstfigur erschafft? Oder ist mit Blick auf die Konjunktur solcher Texte jedes autofiktionale Schreiben auf Twitter auch literarisch? Und kann man so etwas wie Genrebegriffe für Twitter überhaupt gebrauchen?

Im deutschsprachigen Raum dokumentieren die erste Phase der literarischen Betätigung einige Publikationen in der Reihe „Kleine Formen“ im Frohmann Verlag.Tweetsammlungen wie Unkritische Theorie (2012) von @Wondergirl oder @blutundkaffee 2012-2016 (2017) von Ianina Ilitcheva versammeln ausgewählte Tweets und heben deren aphoristische Qualität hervor. In ihnen zeigt sich, dass Twitter eine eigene Ästhetik hervorgebracht hat, die weit über das Spiel mit den 140 beziehungsweise 280 Zeichen hinausgeht und sich in schnellen Schritten weiterentwickelt. Gekennzeichnet ist die Ästhetik durch eine vielschichtige Ironie und eine spezifische Verquickung von Alltagsbeobachtungen, Kommentar der Gegenwartskultur und autofiktionalem Schreiben. Die Kunst liegt darin, individuell genug zu schreiben, um aufzufallen, und allgemein genug, um für möglichst viele andere anschlussfähig zu sein. Für die Frühphase dieser Ästhetik liegt mit Johannes Paßmanns Die soziale Logik des Likes (2018) seit kurzem eine wissenschaftliche Analyse vor. Der Band Mindstate Malibu (2018) dokumentiert schon eine der nächsten Phase dieser Ästhetik, die einerseits – bezogen etwa auf ironische Formen – eine Fortsetzung der ersten Phase bildet und andererseits – etwa durch den Import von Ausdrücken aus Computerspielforen –  neue  Entwicklungen anstößt. Im Lauf dieser Entwicklung  hat Twitter nicht nur immer wieder unsere Wertungskategorien in Frage gestellt, sondern auch verändert, wie literarische Texte aussehen.

Das zeigt sich auch in Texten jenseits der Plattform. Jennifer Egans Black Box (2012, dt. 2013), ein Agentinnen-Thriller im Tweet-Format, kann in dieser Hinsicht als Grenzfall gelten: Egan, die selbst nicht aktiv twittert, hat für diesen Text Twitter als Konzept aufgenommen, indem sie ihren Text in kurze Abschnitte unterteilt hat und sich immer wieder auf die Form des Aphorismus bezieht. Der Text wurde vom New Yorker zunächst in einzelnen Tweets veröffentlicht und später auch im gedruckten Magazin publiziert. Ganz ohne die Veröffentlichung auf Twitter kommen andere Texte aus: Der Roman Lookalikes (2012) von Thomas Meinecke etwa, der kürzlich in einem literaturwissenschaftlichen Call for Papers als „Twitter-Roman“ bezeichnet wurde. Auch Romane wie Sibylle Bergs GRM (2019) oder Joshua Groß’ Flexen in Miami (2020) zehren auf ganz unterschiedliche Weise von der Erfahrung des Twitterns.

Noch radikaler provozieren Twitter-Bots die Frage nach dem Literaturbegriff: In einer Art uncreative writing (Kenneth Goldsmith) produzieren sie aus vorhandenem Textmaterial neue Tweets. Grundlage können literarische Texte wie Joyces Ulysses, der erste Satz von Prousts Recherche, bestimmte formelhafte Formulierungen oder auch Kochrezepte sein. Der @Sosweetbot wiederum retweetet Variationen auf William Carlos Williams Gedicht „This Is Just To Say“ und andere schmuggeln Zitate von Goethe, Blanchot oder Austen in die Timelines. Unübertroffen ist der @Pentametron, der die Silben von Tweets zählt und aus ihnen ein unendliches Gedicht im Pentameter schreibt. Beim Blick auf die Bots verdichten sich die Fragen, die schon in den „Twitteratur“-Diskussionen gestellt wurden: Ist das Literatur? Oder: Ab wann ist das Literatur? Kann man einem Bot, der stur Abschnitt um Abschnitt aus dem Moby Dick postet, literarische Autorschaft zuschreiben? Oder seiner Programmier*in? Handelt es sich um eigenständige literarische Texte?

Twitter fordert  jedoch nicht nur unseren Literaturbegriff heraus, sondern stößt auch eine neue Literaturpolitik an. Der Microblogging-Dienst zeichnet sich unter anderem durch die Sensibilisierung für Positionen jenseits des eigenen Blickwinkels aus.  Daraus entstehen neue Kollaborationen. Das Netzwerk bietet etwa eine Plattform für Indie-Verlage wie Frohmann, Herzstück, oder mikrotext. Hier treffen sich Lesende, Schreibende und Verlegende auf Augenhöhe, was vielfältige Wechselwirkungen zur Folge haben kann. Diese Verlage bringen Stimmen  von @sei_riots bis @sibelschick zu Gehör, die im white old Literaturbetrieb nicht vorkommen.

Auf einer andere Ebene verfolgen Hashtags wie #frauenlesen und #vorschauenzählen einen ähnlichen Zweck. Thema ist die Überrepräsentation von Männern im Literaturbetrieb. Unter #frauenlesen werden Leseempfehlungen von Autorinnen gesammelt und die eigene Lektüre von Autorinnen besprochen. Dadurch entwickelt sich ein Netzwerk, das stark von Lesenden geprägt ist und sich für Vielfalt im Bücherregal und im literarischen Kanon stark macht. #vorschauenzählen koordiniert das gemeinsame Auszählen der Verlagsvorschauen, um das dort oft herrschende Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern abzubilden.

Diese Kampagnen finden ihren Weg ins traditionelle Feuilleton. Tweets und Hashtag-Kampagnen sind oft der Anstoß, der den diskursiven Stein ins Rollen bringt. Auf Twitter stehen dem autonomieästhetisch denkenden Literaturbetrieb Verfechter*innen einer politischen Ästhetik gegenüber. Kollaborative Projekte werden gegen Autor*innengenies gesetzt: Im Frohmann-Verlag zum Beispiel erscheint der Sammelband #1000Todeschreiben als Gemeinschaftsprojekt vieler auch unbekannter Schreibender, die Literaturzeitschrift mischen sammelt Texte verschiedener Twitterautor*innen. Durch ständiges schreiben, gegenlesen, kommentieren und wieder schreiben, entwickelt sich die Twitterästhetik schnell weiter. Diese meist überheblichen Schreibweisen der Kritik werden über Memes und Tweet-Schablonen, über das sich übertrumpfende Schreiben mit- und gegeneinander und als Insider oder Running-Gags kontinuierlich in das Schreiben eingebunden weiterentwickelt und prägen maßgeblich die Ästhetik.

Die unterschiedlichen Stimmen auf Twitter erweitern den männlich geprägten Blick der Literaturkritik. Hashtags wie #dichterdran  thematisieren dieses Ungleichgewicht. Unter dem Hashtag finden sich Tweets, die männliche Autoren so beschreiben, wie Literaturkritiker Autorinnen und ihre Texte beschreiben: Reich geschmückt mit Adjektiven und auf Äußerlichkeiten fixiert, häufig werden Parallelen zu Figuren hergestellt. Aus der überspitzten Literaturkritikkritik entstand sogar ein Buch (Hemingways sexy Beine #dichterdran).

2019 ging der Literaturnobelpreis an Peter Handke, über dessen Jugoslawien-Texte sich eine Diskussion entwickelte. Thematisiert wurde die Trennung von Autor und Werk, Geschichtsrevisionismus und die Leugnung eines Genozids und Political Correctness. Auch hier war Twitter ein zentraler Schauplatz. Besonders der Schriftsteller Saša Stanišić sprach sich auf Twitter gegen die Verleihung des Preises aus und verschaffte dem Thema Aufmerksamkeit. Der Streit brachte sogar ein Meme hervor: „Ich komme von Tolstoi, ich komme von Homer, ich komme von Cervantes“, sagte Handke in Reaktion auf die Kritik. Es entwickelte sich ein Meme, das so „bubbleübergreifend“ und langlebig ist wie selten eines zuvor

Thomas Melle schrieb im Feuilleton der FAZ angeekelt von „Clowns auf Hetzjagd“ und bewies damit einmal mehr, dass das traditionelle Feuilleton sich weiterhin schwer tut mit der schnellen und offenen Debatte auf Twitter, die eigene Regeln entwickelt hat, zurechtzukommen.

Ein aktuelleres Beispiel ist die Debatte über die Biografie Woody Allens. Rowohlt Autor*innen wehrten sich in Deutschland mit einem Offenen Brief gegen die Veröffentlichung. Sie verlangen ausdrücklich eine aktive Beteiligung Rowohlts zur Klärung der Vorwürfe gegen den Autor.

Zwischen Feuilleton und Twitter ist ein Spannungsverhältnis zu beobachten, das die Zeit in einem Kommentar als „Elfenbeinturm gegen Kommentarkloake“ beschrieben hat. Bei nüchterner Betrachtung handelt es sich jedoch vielmehr um eine Hassliebe, die sich auf der einen Seite durch extreme Gegenpositionen und auf der anderen durch wechselseitige Bezugnahme auszeichnet – ein Spiel um Deutungshoheit. Diese führt nicht zuletzt dazu, dass nicht nur Feuilleton-Autor*innen auf Twitter auftauchen, sondern Twitter-Autor*innen im Feuilleton.

Dass Twitter in all diesen Feldern eine wichtigere Rolle spielt als andere digitale soziale Netzwerke, mag an der demographischen Zusammensetzung liegen. Oft haben Twitter-Nutzer*innen einen akademischen Hintergrund, häufig scheinen auch schreibende Berufe wie Werbetexter*innen, Journalist*innen vertreten zu sein. Zudem ist Twitter wesentlich textbasiert – trotz all der Möglichkeiten multimedialer Einbindung. Dies sind die Voraussetzungen der vielfältigen Wirksamkeit des sozialen Netzwerks. Es fordert Autor*innen, Literaturkritik und Literaturwissenschaften heraus, drängt sie zum Neudenken und leistet einen nicht zu unterschätzenden Beitrag, wenn es um die Vielfalt von Stimmen im Literaturbetrieb geht. Es begünstigt ästhetische Innovationen, führt zur Reflexion der eigenen Wertungskriterien und provoziert immer wieder die Frage, was Literatur überhaupt ist. Twitter hat das literarische Leben grundlegend verändert – mehr als Facebook, Instagram oder Snapchat.

 

 

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Genealogie der Sorge – Vom Erzählen der Zukunft und denen, die am Ende aufräumen müssen

von Solvejg Nitzke

 

Im Urlaub, als ich gemütlich Andri Snær Magnasons Wasser und Zeit lesend im Liegestuhl lag, stellte mir mein Mann eine Frage, die mich seitdem beschäftigt: „Wie viele solcher Bücher musst Du eigentlich noch lesen?“ Wäre er nicht auch ein Büchermensch, wäre diese Frage eine Frechheit. Ich kann ja schließlich lesen, so viel ich will. Da er aber zur statischen Verunsicherung unserer Wohnung durch immense Buchkäufe ebenso beiträgt, wie ich, kann die Frage nach der Zahl der gelesenen Bücher nicht Grund für seinen Kommentar sein. Auch das Prinzip, mehrere Bücher zu einem Thema zu lesen, ist ihm als Wissenschaftler nicht fremd. In seiner Frage lag vielmehr eine andere Sorge, denn „solche“ Bücher, meint: Bücher über die globale Klimaerwärmung, die Gefährdung von Ökosystemen und Biodiversitätsverluste, kurz, über eine Zukunft, die in beinahe jeder Hinsicht von Zerstörung und Verlust natürlicher Umwelten gekennzeichnet sein wird.

Die Sorge, die ich meinem Mann unterstelle, umfasst also nicht nur den Verdacht, ich arbeite im Urlaub (plausibel), sondern auch die Vorahnung, dass ich nach der Lektüre einmal mehr vollkommen frustriert sein würde. Denn ich muss kein Klimabuch mehr lesen – das Projekt zur „Zeit des Klimas“, in dem ich in Wien gearbeitet habe, ist abgeschlossen, das letzte ausstehende Sonderheft erschienen. Handelt es sich also um ein zwanghaftes Verhalten – masochistisches Lesen sozusagen?

Die Frage legt nahe, dass es ein „Genug“ gäbe, also eine Menge an Büchern, nach deren Lektüre man Bescheid wisse oder ab der es zumindest ratsam wäre, nicht noch mehr zu lesen und sei es nur, um sich wenigstens im Urlaub nicht noch einmal mit den drohenden Katastrophen einer sich radikal verändernden Welt und der weitreichenden Ignoranz gegenüber diesen wahrscheinlicher werdenden Szenarien zu konfrontieren. Diese Grenze zu überschreiten markiert dann vielleicht tatsächlich den Übergang von Wissensdurst und wissenschaftlichem Interesse zu etwas Anderem. Aber wozu?

Die Frage beschäftigt mich nicht nur, weil ich befürchte, es könnte etwas dran sein an der impliziten Unterstellung eines gewissen Lesemasochismus. Man müsste sie nämlich auch an die Autor*innen „solcher“ Bücher stellen: Wie viele Klima-Bücher müsst Ihr noch schreiben? Was könnt Ihr noch sagen, das wir nicht schon längst wissen? Leistet Ihr mehr, als uns zu frustrieren oder – vielleicht noch schlimmer – falsche Hoffnung zu wecken? Diesen Fragen, so grundsätzlich sie sind, muss sich ein Buch über „Wasser und Zeit“ stellen, denn gerade weil Bücher über Klima und Natur oft ein so großes Publikum finden, tragen sie eine Verantwortung. Das heißt nicht, dass sie letzte Antworten liefern oder gar Probleme lösen müssen, die Politik und Gesellschaft seit Jahrzehnten vehement verweigern, aber sie müssen sich fragen lassen, was sie zu sagen haben und wie.

Familienklimageschichte

Andri Snær Magnasons Geschichte unserer Zukunft versucht, die ‚Generationenfrage‘ zum Erzählprinzip zu machen. Nicht zuletzt angesichts des ersten isländischen Gletschertodes begann er, sich mit der Frage zu beschäftigen, in welcher Welt zukünftige Generationen, in diesem Fall seine Tochter Hulda, leben werden und wie sich die Welt in einem Zeitraum, der direkt mit ihrem Leben verbunden ist, verändern wird:

„Stell Dir mal vor! 262 Jahre! Das ist die Zeitspanne mit der du in Verbindung stehst, du kennst Menschen aus dieser gesamten Zeitspanne. Deine Zeit ist die Zeit von jemandem, den du kennst, den du liebst und der dich prägt. Und deine Zeit ist auch die Zeit von jemandem, den du kennen und lieben wirst, die Zeit, die du gestalten wirst. Du kannst 262 Jahre mit deinen bloßen Händen berühren. Deine Uroma bringt dir etwas bei, und du bringst deiner Urenkelin etwas bei. Du kannst direkten Einfluss auf die Zukunft nehmen, bis zum Jahr 2186.“ (22)

Es wäre kein Buch über die Zukunft, würde Andri hier nur seine Tochter ansprechen. (Da es im Isländischen statt Nachnamen Patronyme gibt, muss entweder der Vorname oder der vollständige Name verwendet werden – der persönliche oder intime Eindruck, der so im Deutschen entsteht, passt aber auch über die korrekte Benennung hinaus zu Andris Leser*innenansprache). In der Rechenaufgabe (wie lange lebt meine Urenkelin, wenn ich so alt werde, wie meine Uroma) steckt die Aufforderung, die „eigene Zeit“ selbst zu berechnen. Damit wären wir mitten in dem Forschungsfeld, an dem ich in den letzten Jahren mitgearbeitet habe. Im Projekt „Zeit des Klimas“ an der Universität Wien wäre das ein gutes Beispiel für den erzählerischen Einsatz „ästhetischer Eigenzeiten“ gewesen. Es ging dabei um die Verzeitlichung der Natur in der modernen Literatur, d.h. um den Paradigmenwechsel einer Vorstellung von Klima und Natur als statischen hin zu dynamischen und damit letztlich auch von Menschen veränderbaren Größen.

Gerade mit Blick auf das Klima ist die Literatur – in einem sehr weiten Sinne – eine zentrale Agentin dieser Transformation, denn sie kann (Zukunfts-)Szenarien unabhängig davon durchspielen, ob sie wahrscheinlich sind, sie kann „exotische“ Klimata vergegenwärtigen und Klima auf jeder erdenklichen Ebene manipulieren. Gerade im Erzählen lassen sich unbegreiflich komplexe Zusammenhänge auf eine Weise darstellen, die menschliche Dimensionen von Zeit und Raum mit den Größenordnungen von Erd- und Klimageschichte in einen sinnvollen Zusammenhang stellen. Andri greift genau diese Idee auf und versucht, sie zu einem Handlungsaufruf zu entwickeln.

Bis er dort ankommt, muss er all jene Szenarien von Verfall und Zerstörung aufrufen, die den Diskurs über die ökologische Krisenlage der Gegenwart bebildern und soviel Angst erzeugen, dass sie – zumindest bis die Corona-Pandemie dem vorerst ein Ende setzte – vor allem junge Menschen in Massen zu Streiks und Demonstrationen bringen. Dass er trotzdem nicht in einen apokalyptischen Tonfall verfällt, wie z.B. der von ihm zitierte David Wallace-Wells [1], liegt daran, dass die (Erd-)Geschichte den Menschen in der von Andri Snær Magnason geschilderten Welt (noch) nicht entglitten ist. Vielmehr verschiebt sie menschliche Agency, genauer, das Narrativ der Kontrolle über die Natur von einem Dominanzdiskurs zu einem der Sorge. Dazu muss er zunächst die Größenordnungen der ökologischen und klimatologischen Transformationen auf ein menschliches Maß bringen.

Andris genealogisches Gedankenexperiment dient genau diesem Zweck. Es bringt die Zeiträume der Zukunftszenarien des IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change – der Zwischenstaatliche Ausschuss für Klimaveränderungen oder Weltklimarat) in Berührung mit tatsächlichen Menschen. Weil es verwandte Menschen sind, wird aus der Metapher der Berührung ein ‚natürlicher‘ Zusammenhang. Wasser und Zeit macht aus Klimageschichte Familiengeschichte – das macht das Buch nicht nur besonders lesbar, sondern auch problematisch, denn die Beziehung der Familie von Andri Snær Magnason zu den Gletschern wird über den nur scheinbar kleinen Umweg des Mythos zu einem genealogischen und nationalen Wir, das ohne viel Aufhebens pars pro toto für die ganze Menschheit einstehen soll.

Die scheinbare Unvereinbarkeit der neuen Wirklichkeit erfordere, so Andri zu Beginn des Textes, eine massive Anstrengung sowohl in Hinblick auf die materiellen Bedingungen der drohenden Veränderungen des Erdsystems, als auch auf die Sprache, in der sie beschrieben werden: „Wenn ein System zusammenbricht, befreit sich die Sprache aus ihren Fesseln. Wörter, die eigentlich die Realität beschreiben sollten, schweben frei in der Luft und sind nicht mehr zutreffend. […]“ (10).

Der Systemzusammenbruch, den Andri Snær Magnason zu Beginn beschreibt, ist die Bankenkrise, die Island besonders hart traf und (nicht nur) in seiner Darstellung an den Zauberlehrling erinnert, der die Geister, die er rief, nun nicht mehr loswird. Wie Zauberworte befreit sich dann auch die Sprache aus ihren Fesseln und verweigert den ihr anscheinend eigenen Zusammenhang mit der Realität. Die Leitmotivik des Buchs – Gletscher und Staudämme – klingt hier bereits an, denn die unfassbare Energie der gefrorenen, wie flüssigen Wassermassen, die in Andris Geschichte der Zukunft Island mit Tibet und damit ‚der ganzen Welt‘ verbinden, bricht sich hier bereits rhetorisch Bahn. Der Sprung von der Finanzkrise (immerhin einer globalen Krise) zur globalen Erderwärmung wird dadurch abgesichert, dass Island zum tertium comparationis, also zur Gemeinsamkeit oder zum Kontinuum in den Krisen wird. Island, als konkreter Ort ebenso wie als Idee, wird also zum Anfang und Ende einer Geschichte der Zukunft, die – so scheint es – nur von hier aus so erzählbar wird. Es hält alle Sprünge zusammen, weil alle Ebenen der Erzählung  (Familie, Mythos, Klima) sich hier treffen.

Arbeit am Mythos

Es lohnt sich diese Sprünge, etwas genauer zu betrachten. Wasser und Zeit spielt sich auf drei Ebenen ab, die zugleich Erzählverfahren, Motive und Argumente bilden: Familie bzw. Familienbeziehungen, Mythos und Mythologie sowie die der ökologischen Verhältnisse, vor allem des Weltklimas. Die Aufgabe an die Tochter, auszurechnen, wie viele Jahre mit ihrem Leben „direkt“ verbunden sind, d.h. durch Verwandtschaft, Vor- und Nachfahren, denen sie begegnet ist oder denen sie begegnen kann, bildet den Kontrapunkt zur Entfesselung der Sprache, die der Schriftsteller (Andri Snær Magnason) selbst erlebt. Während der Zusammenhang zwischen Wörtern und Wirklichkeit mit der Gewalt eines Dammbruchs zerfällt, bildet die (Bluts-)Verwandschaft einen Zusammenhang, dessen Realität eben nicht durch Sprache konstruiert, sondern durch Genealogie gegeben ist. Sie holt die entfesselte Sprache wieder ein, indem sie eine Alternative anbietet, die – zumindest in dieser Logik – unabhängig vom Sprachvermögen ‚greifbar‘ ist.

Ob die dereinst 94 Jahre alte Urenkelin im Jahr 2186 für die zehnjährige Hulda ‚wirklich‘ greifbarer ist als ansteigende Meeresspiegel oder die „Versauerung der Meere“ sei dahin gestellt. Das Gedankenexperiment erzeugt eine vertraute Relation, die Tochter (wie Leserin) als Konzept näher ist, als die “Versauerung”. Denn die Zukunft der Gletscher wird durch die Familienverbindung zum Teil der eigenen Geschichte. Auf diese Weise kann Andri Snær Magnason nicht nur die Gletscher, sondern auch J.R.R. Tolkien und Robert Oppenheimer in „seine“ Geschichte einbeziehen – seine Großtante war Tolkiens Kindermädchen, sein Onkel, Arzt in New York, operierte Oppenheimer und den iranischen Schah.

Damit macht es Andri Snær Magnason sich und seinen Leser*innen allerdings eine Spur zu einfach. Die Krux seiner Geschichte der Zukunft liegt im Verhältnis  von Mythos und Natur. Denn es handelt sich nicht um Gegensätze die Wasser und Zeit wieder vereint, sondern um gleichermaßen wirkmächtige Konzepte, die im Erzählen auf problematische Weise zusammen kommen. Diese erzählerische Operation leistet nämlich weit mehr, als Anschaulichkeit herzustellen, sie naturalisiert Relationen und Beziehungen.

Roland Barthes hat das Verfahren der Naturalisierung  als zentrale Funktion des Mythos beschrieben: Der Mythos als Rede [2] verdoppelt den Zeichenprozess mit dem Ergebnis, die Arbitrarität des ursprünglichen Zeichens zu verschleiern bzw. zurückzunehmen. Der Mythos wird so zum Werkzeug von Ideologie, weil er menschengemachte, sprachlich erzeugte Zeichen, wie die Dinge selbst erscheinen lässt, also naturalisiert. Zugespitzt: der Mythos macht aus Geschichten Wirklichkeit. Damit lassen sich gesellschaftliche Ordnungen, Rituale und Vorlieben, aber eben auch nationalistische Erzählungen nicht nur rechtfertigen, sondern gleich unhinterfragbar machen. Weil Gletscher Teil der Familiengeschichte sind, wird ihr Verlust emotional belegt. „Unser“ Gletscher stirbt; „Ich kannte noch…“-Geschichten, die lang genug zu den Genres der Familiengeschichten gehörten, werden hier zum Gradmesser und Wertmaßstab nicht-menschlicher Natur und das, ohne dass dieser Wertungsprozess reflektiert werden müsste.

Die „deutsche“ Wald- und Heimatliebe gehören ebenso zu diesen Erzählungen, wie die bei Andri Snær Magnason ausgestellte isländische Gletscherverwandtschaft. Was abstrakt klingt, wird bei Andri insofern zum Programm, als er die semiotische Funktion des Mythos verdoppelt und verdreifacht. Denn wo die familiären Beziehungen doch (wiederum buchstäblich) zu kurz greifen, verbindet Andri sie mit isländischen und – in einer etwas abenteuerlichen, wenn auch charmanten Bewegung – tibetischen Mythen. Die Kuh Auðhumla dient ihm als Anlass, die scheinbar universale Bedeutung des Gletscherwassers für ‚die Menschen‘ zu behaupten. Auch wenn er die Unterschiede aufzählt, sie verschwinden hinter dem allzu passenden Bild der „heiligen Kuh“. Rund um den Himalaya hängen die Wasserversorgung von Millionen Menschen sowie das regionale Klima von den Gletscherflüssen ab. Das Verschwinden der isländischen Gletscher wirkt sich hingegen nicht so unmittelbar auf die Bevölkerung des Landes aus, zumal wenn man die Anzahl der direkt betroffenen Menschen bedenkt, denen ggf. der Zugang zu Frischwasser fehlt. Auch die Etymologie von Auðhumla und dem Himalaya bleibt assoziativ  (u.a. über den tibetischen Distrikt Humla, 79).

Die Behauptung der globalen Gletscherverwandtschaft der Isländer und Tibeter auf die Tatsache zu gründen, dass Edda und Veden an (unterschiedlich) zentraler Stelle von einer Kuh erzählen aus deren Euter Flüsse aus Milch entstehen, ist philologisch so unsauber wie sie narrativ wirksam ist. Dennoch gelingt es Andri dadurch die geschilderten  Verhältnisse einmal mehr zu naturalisieren  – so, als müsse eine Gemeinschaft, die an Gletscherflüssen lebt (unabhängig davon, ob sie wissen kann, dass es sich um solche handelt) davon ausgehen, eine riesige Kuh „spende“ dieses Leben. Dass seine Besessenheit mit der Kuh zumindest zum Schmunzeln anregt, zeigt Andri Snær Magnason immerhin selbst auf. Sie leitet nichtsdestotrotz eine tour de force der Überblendungen von Familie, Mythos und Klima an, deren gut gemeintes Ziel sie nicht vollständig von ihren problematischen Aspekten befreit. Das Lachen des Dalai Lama über Andris „Magic Cow“ (245) ist in dieser Hinsicht sehr großzügig.

Problematisch ist Andri Snær Magnasons Geschichte der Zukunft im Grunde aus den gleichen Gründen, die sie so gut lesbar machen. Die Genealogie der Sorge für die Zukunft, die Wasser und Zeit avant la lettre entwirft, geht ein bisschen zu gut auf. Sie verknüpft einzelne Menschen mit den globalen, tiefenzeitlichen Systemen der Atmosphäre, der Wasserkreisläufe und damit mit der gesamten Biosphäre. Ein Problem dieser „Mythologie für die Gegenwart“ (114) benennt Andri selbst: „Bei Themen, die das gesamte Wasser auf der Erde, die gesamte Erdoberfläche und die gesamte Atmosphäre betreffen, erreicht man eine Dimension, die jegliche Bedeutung aufsaugt“ (12). Das „Rauschen“, das Worte wie „Versauerung der Meere“, „Gletscherschmelze“ und „globale Erwärmung“ verursachen, vergleicht er passend mit einem schwarzen Loch.

Die Dimensionen von Erd- und Klimageschichte verschlucken alle menschlichen Ereignisse und Bedeutungen in einem Rahmen, der 262 Jahre (mögliche) Familiengeschichte, nicht einmal anderthalb Jahrtausende isländischer Geschichte und selbst die zehntausendjährige Geschichte des homo sapiens mit viel gutem Willen zu nebensächlichen Ausnahmefällen der Erdgeschichte macht. Aber die (Zeit-)Verhältnisse haben sich verändert: „Die größten Kräfte der Erde haben die geologische Zeitskala verlassen und verändern sich nun auf einer menschlichen Skala“ (11). Das ist, für das, was es sagt, ein verhältnismäßiger Satz; aber wenn man bedenkt, was er bedeutet, kann man geradezu die Energie des schwarzen Lochs fühlen, von dem Andri Snær Magnason spricht. Dinge, die sonst im Rahmen von Jahrmillionen ablaufen (geologische Zeitskala), passieren nun im Zeitraum weniger Generationen (menschliche Skala).

Das Problem mit der Naturverbundenheit

Es leuchtet also unmittelbar ein, die eigenen Kinder und Kindeskinder (Nichten und Neffen tun es vielleicht auch) zu bedenken, um sich die Auswirkungen dieser Zukunft vor Augen zu führen. Sich über Nachkommen und Vorfahren aber an eine Landschaft zu binden, kann genau den gegenteiligen Effekt haben. Die Literaturwissenschaftlerin Ursula K. Heise hat in ihrer grundlegenden Studie Sense of Place and Sense of Planet. The Environmental Imagination of the Global (2008) auf die nicht zuletzt politische Notwendigkeit hingewiesen, zwischen lokaler und globaler Sphäre zu vermitteln, ohne die Spannung des Prinzips ‚act locally, think globally‘ einfach aufzulösen.[3]

Denn die Auflösung des spannungsvollen Gegensatzes von lokaler und globaler Handlung kann dazu führen, einen falschen Glauben an die Übertragbarkeit kulturell spezifischer Beziehungen zu Landschaft und Umwelt zu schüren und einen verschwindend geringen Teil der Menschheit – zumeist ein „Wir“ – zum Maßstab für alle zu nehmen. Wenn nämlich jede individuelle Handlung auf das globale Ganze abstrahlt, ist die umgekehrte Konsequenz allzu oft, dass eine lokale Besonderheit zum Maßstab für alle erhoben wird. Dieses Problem betrifft nicht allein Andri Snær Magnasons Text, ganz im Gegenteil.

Einer der berühmtesten Artikel über Klima und Geschichte, Dipesh Chakrabartys The Climate of History (2009)[4] spricht vom Zusammenbruch der Unterscheidung von Erd- und Humangeschichte und ruft nach einem „species thinking“ (213), also einem Denken, das alle Menschen als Teil einer (bedrohten) Art begreift. In diesem Sinne agiert Wasser und Zeit genau richtig: es macht keine Unterschiede zwischen Tibeter*innen und Isländer*innen, wenn es um die Zukunft geht, denn die Gletscher schmelzen überall. Wie aber Rob Nixon [5] und viele andere Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen eindrücklich gezeigt haben, verkennt „species thinking“ die unterschiedlichen Verantwortlichkeiten und Auswirkungen der globalen Krisen.

Andri Snær Magnason streift diese nur kurz. Er verweist zwar auf ein Bewusstsein dafür, dass sich die Gletscherschmelze im Himalaya anders auf den ohnehin mangelnden Wohlstand in Bangladesh und Indien auswirken wird als in Island und darauf, dass in China auch und vor allem deswegen so hohe Mengen CO2 ausgestoßen werden, um einen Lebensstandard zu erreichen, der auch nur annähernd dem der isländischen Familien gleicht, die Andri beschreibt; am Ende aber kommt er immer wieder am gleichen Punkt an: Wenn allein in der überschaubaren Zeitspanne seiner Familiengeschichte so große Transformationen stattfinden konnten, warum soll das nicht auch in der für seine Tochter überschaubaren Zukunft passieren?

Das ist eine berechtigte Frage und sie liest sich so viel angenehmer als die Alternativen (z.B. David Wallace-Wells Entzeitgeschichte The Uninhabitable Earth. A Story of the Future, 2019). Sie produziert dennoch ein Narrativ, das nicht nur anthropozentrisch bleibt, sondern historisch eine absolute Ausnahme bildet. Doch genau das ist der Punkt, Island – und hier droht Wasser und Zeit trotz aller Ausblicke in die Welt ins Nationalistische zu kippen – ist die absolute Ausnahme und eignet sich genau deshalb um von hier aus die Welt zu erklären. Wie die Gletscher ist auch das Leben hier so sichtbar prekär, dass es seinen Schutz geradezu einfordert: „Im Urwald ist das Leben allgegenwärtig und selbstverständlich, doch hier war es nackt und schutzlos, jeder Grashalm ein kleines Wunder“ (233).

Island und die Isländer*innen werden durch das genealogische Narrativ, das Landschaft und Leute untrennbar verbindet, zu privilegierten Beobachter*innen einer Ganzheit, die nur mythisch überhöht überhaupt herstellbar ist. Man könnte das eine „anthropocene fallacy“ [6] nennen – angelehnt an John Ruskins „pathetic fallacy“, die die poetische Übereinkunft innerer und äußerer Stimmungen benennt (z.B. dass es regnet, wenn jemand sehr traurig ist). Der Trugschluss der „anthropocene fallacy“ verführt, wenn man so will, dazu, den je ‚eigenen‘ Ort zum Maßstab für alle anderen zu machen und dabei nicht nur Gefährdung völlig falsch einzuschätzen. Dazu gehört die Überschätzung dessen, was ein einzelner Mensch erreichen kann und was eine ‚unmittelbare‘ Verbindung zur ‚eigenen‘ Landschaft und den Weisen, in denen frühere Generationen damit umgegangen sind, bewirken kann.

Denn auch wenn die in Island wachsenden Grashalme Andri Snær Magnason vorkommen wie „ein kleines Wunder“, sind die meisten Pflanzen in tropischen Regenwäldern viel empfindlicher als diejenigen, die es schaffen unter den geschilderten Bedingungen auf Island zu wachsen. „Empfindlicher“ ist wiederum bereits eine anthropomorphisierende Beschreibung, die hier darauf hinweisen soll, dass die Ökosystembedingungen in beiden Fällen so spezifisch sind, dass die Effekte der globalen Erwärmung sich negativ auswirken werden.

Indem er sich an solchen Stellen ausschließlich auf seinen eigenen Eindruck verlässt, reproduziert Andri eine Haltung, die allzu viel dessen kennzeichnet, was als Nature Writing gerade eine Renaissance erlebt. Es handelt sich um die Illusion, dass man „mehr“ erfahren kann, wenn man sich „direkt“ mit nicht-menschlicher Natur auseinandersetzt. Auch wenn Nature Writing intimes (und formales) Wissen über die beschriebenen Phänomene beinahe voraussetzt, erwecken die Texte vielfach den Eindruck, dass eine kritische Befragung die erhoffte Unmittelbarkeit nur stört. So spielt es dann keine Rolle mehr, welche Bandbreite von Umweltfaktoren ein Grashalm aushalten kann, es zählt der prekäre Eindruck, den er beim Betrachter hinterlässt.

Andri Snær Magnason ist in dieser Hinsicht reflektierter als viele, denn er sitzt nicht bloß – man verzeihe mir die Polemik – unter irgendeinem Baum (die in Island ohnehin rar sind) oder an irgendeiner Küste und zieht Schlüsse aus einer achso reinen Naturerfahrung, um von dort aus den Verlust der „old ways“ zu beklagen. Aber ich frage mich dennoch, ob er denkt oder den Eindruck erwecken möchte, der erste (Schriftsteller) zu sein, der sich auf diese Weise der aktuellen Krisenlage annähert.

Dass er nicht nur die familiäre Zukunft und Vergangenheit betrachtet, sondern das Projekt einer „Mythologie für die Gegenwart“ verfolgt, schließt produktiv an die Forderung des Schriftstellers Amitav Gosh nach einer Wiederbelebung des Epos an. [7] Aber wenn solche Bezüge implizit bleiben und zugunsten von Lesbarkeit auf Reflexionstiefe und –Schärfe verzichtet wird, dann wird es schwierig, die Frage zu beantworten, warum man dieses Buch auch noch lesen sollte. Es läuft vielmehr Gefahr, als feel-good-Lektüre zu ebenjener Massenapathie beizutragen, die es beklagt. Andri Snær Magnason stellt in Wasser und Zeit viele richtige Fragen (nach der angemessenen Sprache für Veränderungen, die keine Entsprechung in der Menschheitsgeschichte haben; nach dem, was Eva Horn „Katastrophe ohne Ereignis“ nennt [8]), es endet jedoch immer wieder allzu einfach: „Manche Lösungen sind ganz einfach, wir müssen nur auf unsere Großmütter hören“ (287). Damit fällt er genau dem „derangement of scales“ anheim, das Timothy Clark anschaulich als Ausgangspunkt einer kollektiven „anthropocene disorder“ benennt. Damit bezeichnet der Literaturwissenschaftler die Unfähigkeit, einzelne Handlungen in sinnvoller Weise (kausal) mit den Transformationen globaler Systeme wie der Atmosphäre zu verbinden. [9] Das Missverhältnis der Maßstäbe drückt sich nicht nur in Slogans zum Kipplüften aus, mit dem man „das Klima rettet“, sondern auch in Phänomenen wie „Flugscham“ und eben auch in der Hoffnung auf eine Heilsbringerin: „und wie in einem alten Volksmärchen erscheint das Kind Greta, das dazu bestimmt ist, uns die Wahrheit zu sagen“ (278).

Messianische Hoffnung und wütende Töchter

Mit „Greta“ zu enden, erscheint mir gefährlich und trotzdem vollkommen angemessen. Gefährlich, weil ich damit drohe, die Alarmknöpfe von Klimawandelleugnenden und sogenannten „Realisten“ (sprich: denen, die meinen, „die Wirtschaft“ müsse immer Vorrang haben und Klimamaßnahmen seien zu teuer) zu drücken; aber auch angemessen, weil sie mir erlaubt, Andri Snær Magnasons pars pro toto zu kontern: Greta steht (als Figur) für all diejenigen jungen Frauen denen, wie Andris Tochter Hulda, die Verantwortung für die Zukunft auferlegt wird.

Der Sorgearbeit, die es bedeutet, sich um eine lebenswerte Welt zu bemühen (möglichst auch noch für alle) nehmen sich auch die gutmeinenden Männer wie Andri Snær Magnason nicht vollständig an. Sie kümmern sich ein bisschen mit, aus sich selbst heraus (er)finden und erforschen sie große Naturerzählungen, wo Greta (als pars pro toto) notwendig zitiert und wiederholt. Das ist ihre größte Stärke: sie sagt, was schon hunderte, tausende Male gesagt wurde und sie fragt, weil ihr Wissen nicht neu ist, warum wir immer noch nichts getan haben. Sie verkündet also nicht, wie eine Märchenfigur, eine wenigen zugängliche „Wahrheit“; sie hat ihre Hausaufgaben gemacht und wiederholt, was sie gelernt hat – neu ist, dass sie Gehör findet.

Es ist vielleicht unfair von mir, der Klima-Kulturwissenschaftlerin, dem Schriftsteller vorzuwerfen, welche Bücher er nicht gelesen (oder zitiert) hat, aber wenn ich mir die Frage stelle, wie viele „solche Bücher“ ich noch lese, dann stelle ich fest, ich werde kritisch mit dem, was ich weiterempfehle.

Andri Snær Magnasons Buch liest sich streckenweise hervorragend, es ist synthetisiert und unterhält, es ist eine gute Geschichte. Aber anders als Greta schöpft er seine Geschichte aus mysteriösen, intransparenten Quellen, so dass sie kraftvoll erscheint, aber flach bleibt. Gretas Energie ergibt sich daraus, dass sie immer wieder sagt: Ihr wisst das alles, warum tut Ihr nichts!? „Shame on you!“ konnte sie der UN-Versammlung auch deswegen so beeindruckend entgegen schleudern, weil sie all die Dinge, die sie immer wieder neu gehört hat, schon tausende Male gehört hat und nicht mehr hören kann. Ihr „Wir“ ist ein anderes, als das von Andri (dessen Buch ich nun zugegebenermaßen auch zum Sündenbock mache), es ist die wütende Antwort der Töchter, die die Suppe werden auslöffeln müssen.

Wie viele solcher Bücher werde ich also noch lesen müssen? Vielleicht ist die Antwort nicht wichtig, vielleicht muss sie aber auch lauten: so viele, bis sie nichts mehr zu sagen haben. Denn bei aller Kritik: Wenn Andri Snær Magnasons Wasser und Zeit eine der selbstgestellten Aufgaben erfüllt, dann, etwas festzuhalten, was es so vielleicht bald nicht mehr gibt: Gletscher und Zeit, um es zumindest nicht ganz so schlimm kommen zu lassen.

 

[1] David Wallace-Wells ist der Autor von „The Uninhabitable Earth“, der Artikel im Intelligencer https://nymag.com/intelligencer/2017/07/climate-change-earth-too-hot-for-humans.html ist 2019 in erweiterter Form auch auf Deutsch als Buch erschienen. The unbewohnbare Erde, Ludwig: 2019.

[2] Roland Barthes: Mythen des Alltags. Vollständige Ausgabe, Suhrkamp 2010 (original: Mythologies. Paris: Edition du Seuil 1957), insbes.: „Der Mythos heute“ (S. 521-316).

[3] Eine ganze Reihe literaturwissenschaftlicher und historischer Arbeiten beschäftigen sich mit der Frage nach den Größenordnungen von Klimawandel und Anthropozän sowie ihrer (vermeintlichen) Unvereinbarkeit, so z.B. Timothy Clark: Ecocrictism on the Edge. The Anthropocene as a Threshold Concept (2015) und Deborah Coen: Climate in Motion: Science, Empire, and the Problem of Scale (2018).

[4] Chakrabarty, Dipesh. „The Climate of History: Four Theses“. Critical Inquiry 35 (2009): 197–222.

[5] Nixon, Robert. Slow Violence and the Environmentalism of the Poor. Cambridge, Mass.: Harvard Univ. Press, 2011.

[6]Anders als der Ökonom Henrique Schneider, der mit „Anthropocene Fallacy“ meint, dass die zugrundeliegende Wissenschaft der Anthropozän-Forschung methodisch nicht haltbar sei, geht es mir hier um eine Perspektivverschiebung von Timothy Clarks „derangement of scales“. Vgl. Henrique Schneider: The Anthropocene Fallacy. Learning from Wrong Ideas, 2019 ; zum  „derangement of scales“ vgl, Timothy Clark: Scale, in: Telemorphosis. Theory in the Era of Climate Change Vol. 1, 2012.

[7] Ghosh, Amitav. The Great Derangement: Climate Change and the Unthinkable. Paperback edition. The Randy L. and Melvin R. Berlin Family Lectures. Chicago London: The University of Chicago Press, 2017.

[8] Horn, Eva. Zukunft als Katastrophe. Frankfurt am Main: Fischer, 2014.

[9] Clark, Ecocriticism on the Edge, 139-159.

 

Photo by Agustín Lautaro

Die Verdoomung des Feuilletons – Kulturjournalistisches Schreiben über Computerspiele

von Christian Huberts

 

Der Essay »Play It Again, Pac-Man« gehört zu den besten Texten, die je über digitale Spiele geschrieben wurden. Schwammige Worthülsen wie »Interaktivität« sowie abgedroschene Hot-Takes über Games und Gewalt werden hier sofort verworfen. Stattdessen dominieren luzide Beobachtungen und relevante Brücken zur Alltagskultur: Das Computerspiel als zweckentfremdetes Arbeitsgerät, das lustvoll-verschwenderische Anspielen gegen die eigene Sterblichkeit. Nicht nur hält der Inhalt vom Niveau her locker mit aktuellen Theorien der Game Studies – der wissenschaftlichen Erforschung von Computerspielen – mit, er ist zudem zugänglich und unterhaltsam aufgearbeitet: »If a typewriter could talk, it probably would have very little to say; our automatic washers are probably not hiding secret dream machines deep inside their drums. But these microchips really blow you away.«

Besonders bemerkenswert an dem Essay ist, dass er schon vor mehr als dreißig Jahren geschrieben wurde. Das US-amerikanische Museum of the Moving Image hatte ihn 1989 für einen Ausstellungskatalog in Auftrag gegeben. Der Autor ist Charles Bernstein, kein Gaming-Crack, sondern ein renommierter Dichter. Und der Laie auf dem Gebiet der digitalen Spiele schreibt nicht über moderne Blockbuster, zu denen er problemlos eine Brücke zur Literatur oder zum Film hätte schlagen können, sondern über minimalistische Arcadegames – Space Invaders (1978), Asteroids (1979), Pac-Man (1980). Pixel-Raumschiff gegen Pixel-Aliens, Vektor-Raumschiff gegen Vektor-Asteroiden, verfressene Scheibe im spukenden Labyrinth. Bernstein nimmt diese Gegenstände absolut ernst, symptomatisiert sie ohne Dünkel und kommt so zu nahezu zeitlosen Beobachtungen. An dieses Lob eines alten Textes möchte ich eine bange Frage an die Gegenwart anschließen: Warum liest man solche Texte über Computerspiele eigentlich so selten im deutschsprachigen Feuilleton?

 

Von U nach E

Eigentlich ist die Ausgangslage gut. Games sind zum regelmäßigen Gegenstand ernsthafter, kulturjournalistischer Betrachtungen geworden. Ob regelmäßig genug, darüber lässt sich streiten. Aber besonders digitale Redaktionen würdigen Computerspiele mittlerweile mit gelungenen Schlaglichtern auf hervorstechende Games, führende Designer:innen und spannende Spielkultur-Diskurse. Sendungen wie Kompressor im »Feuilleton im Radio« – dem Deutschlandfunk Kultur – ordnen Games bereits selbstverständlich der (Pop-)Kultur zu, und bei den großen Online-Zeitungen sind sie zumindest in den Medien- und Digital-Ressorts fest verankert. Für individuelle Texte macht diese Zuordnung kaum einen Unterschied, das dadurch erzeugte Framing von Games als etwas, dass nicht zunächst der Kultur zugehörig, sondern eben »irgendwas mit Medien« ist, bleibt aber ein fragwürdiges Rudiment der Trennung von U- und E-Kultur.

Wie diese Trennung bis heute nachwirkt, zeigt sich – nicht allein, aber besonders – im Print-Feuilleton. Auch hier hat sich viel getan. Vor mehr als fünfzehn Jahren konnte man in der Süddeutschen Zeitung noch Überschriften wie »Die Verdoomung der Republik« lesen. Darunter ein seichter Remix kulturpessimistischer Gassenhauer zu Doom 3 (2004). Problematisch an Games diesmal nicht die »Bilder voller Gewalt«, sondern die »Gewalt von Bildern«. Unter den Kronzeugen für diesen semi-originellen Twist ist User »Spacelümmel«, der Schiss vorm Weiterspielen des Horror-Shooters hat. Der selbe Autor schreibt heute zum Beispiel über das nischige Sci-Fi-Game Observation (2019) als empathisches Kammerspiel mit viel Interesse und Wohlwollen. Alles gut also? Eher nein. Im Text wird weniger vom Spiel als seiner Story erzählt und selbstbewusst aber falsch erklärt: »Bis jetzt konnte man sich im Genre [sic] der Computer- und Videospiele, […] nahezu alles vorstellen, aber eben kein Kammerspiel.«

Dieser Mangel an Vorstellungskraft ist offenbar symptomatisch für das Schreiben über Games im Feuilleton. Erst im Juli diesen Jahres wurde auf Twitter über eine ähnliche beiläufige Abwertung diskutiert. In einer Besprechung des Spiels Ghost of Tsushima (2020) in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung wurde kurzerhand das reflektierte Sprechen über Games zur Seltenheit erklärt: »Anders als bei Büchern, Film und Serie gibt es kaum Reflexion darüber, was ein Spiel soll oder darf.« Fast untergegangen ist bei dieser Diskussion, dass eine These des Textes – in Ghosts of Tsushima würden sich die Spieler:innen, während sie sich elegant durch Mongolenhorden schnetzeln, in bemerkenswerter Weise machtlos fühlen – ebenfalls nur funktioniert, wenn man weite Teile der Spielkultur ausblendet. Sicher, kein Beitrag kann oder muss jeglichen Kontext abbilden, aber wenn Aussagen nur dann tragfähig sind, solange es das Publikum nicht besser weiß, ist das ein Problem.

 

Pferdelose Kutschen

Computerspiele sind nicht selbstverständlich. Es bedarf einer anspruchsvollen Übersetzungsleistung, um sie Menschen zu vermitteln, die im Zweifelsfall noch nie Kontakt mit ihnen hatten. Im Idealfall geht bei dieser Übersetzung so wenig wie möglich verloren. Keine relevanten Debatten, keine prototypischen Gegenstände. Blende ich alle anderen Filme und Mediendiskurse aus, ist die Musicalverfilmung Cats (2019) vor allem eine gelungene Dokumentation über Katzen. Aber Kontext ist wichtig und gerade bei digitalen Spielen wird er gerne unterschlagen oder missrepräsentiert. Darin drückt sich auch – ob bewusst oder nicht – ein Desinteresse an Computerspielen als Kulturform aus. Wo Charles Bernstein vor dreißig Jahren nach dem Besonderen von Games bohrt, sucht der Feuilleton der Gegenwart allzuoft nach dem Gewohnten.

Zu den populärsten Aufhängern für Texte über digitale Spiele zählt daher auch der direkte Vergleich zu älteren Kulturformen. Games sind die Neue Literatur™. Games sind der Neue Film™. Der Begriff »Pferdelose Kutsche« mag zwar auch ein hinreichendes Bild vermitteln – eine Kutsche, aber eben ohne Pferde –, scheitert aber am genuin Neuen des Automobils – dem Verbrennungsmotor. Ebenso hilft der Fokus auf audiovisuelle und narrative Momente zwar beim Zugang zu modernen Computerspielen, vernachlässigt aber im Zweifelsfall den einzigartigen, prozeduralen Akt des Spielens. Wenn eine Rezension von Death Stranding (2019) in der ZEIT inhaltistisch auf den »Spiel-Film im wörtlichen Sinne« blickt, bleibt daher offen, ob der Spiel-Part überhaupt halten kann, was der Film-Part verspricht. Erneut: Charles Bernstein, Dichter, Gaming-Laie, war 1989 schon weiter.

Der Fachjournalismus zu Games ist derweil in der Breite (und mit Ausnahmen wie GAIN oder WASD) vor allem Servicejournalismus – macht der Toaster das Brot schön knusprig? Aber ein guter Toaster-Kritiker muss, wie der Spieleforscher Ian Bogost betont, neben der Funktion ebenso das verchromte Design des Küchengeräts im Blick haben: »To do game criticism is to take this common-born subject as toaster and as savior, […] as idiocy and as culture«. Denn Computerspiele sind ohnehin kulturelle Hybride. Die Grenzen zwischen ästhetischen Medien bleiben fließend, wie der Philosoph Daniel Martin Feige in seiner Ästhetik des Computerspiels festhält. Ein Spiel wie Telling Lies (2019) macht den linearen Film zu einem Filmarchiv, das detektivisch erschlossen werden muss. In Heaven’s Vault (2019) entschlüsseln die Spieler:innen eine fremde Sprache und lesen in der Welt wie in einem Buch. Wo es Fachmagazinen angesichts solch narrativer Architekturen und verschlungener Datenbankerzählungen nicht selten die Sprache verschlägt, könnte das Feuilleton die Knusprigkeit von Games eigentlich auch ästhetisch einordnen.

 

Der Respawn des Autors

Zu den bemerkenswertesten Erklärungsmodellen für das dann doch eher labbrige Schreiben über digitale Spiele im Feuilleton, gehört der Verweis auf ihr vermeintlich ungeklärtes Verhältnis zur Autorschaft. Nicht selten bestehen Entwicklerteams aus hunderten Personen. Und gibt es analog zur Regisseur:in eine »Creative Lead« oder einen »Game Director«, äußert sich diese Person häufig nicht offen zum kreativen Prozess und zu kontroversen Entscheidungen. Games sind Big-Business und sollen weder ihre Kunden verschrecken noch in den Verdacht geraten, die Gesellschaft zu »verdoomen«. Wie soll man aber über ein Werk schreiben, es im Kulturdiskurs verankern und kanonisieren, wenn es lediglich als Produkt, nicht aber als Werk öffentlich repräsentiert wird? Eine simple Antwort könnte sein, Autor:innen einfach zu ignorieren. Bernstein schreibt vor dreißig Jahren lesenswertes über Pac-Man ohne ein einziges Wort über seinen Schöpfer Toru Iwatani zu verlieren. Respawn unnötig.

Der Autor:innen-Fetisch unserer Kultur lässt sich hacken. Spielentwickler wie David Cage inszenieren sich als Auteur, droppen Buzzwords wie »Emotion« und halten inspirierende TED-Talks über abgedroschene Allgemeinplätze – Games sind interaktiv, was auch immer das nun heißen soll. Bernstein, 1989: »[T]hat claim, if pursued, becomes hollow quite quickly«. Die PR-Strategie trägt Früchte. Auf Spiegel Online konnte man zum Release von Cages Beyond: Two Souls (2013) unter anderem lesen, die »Welt der Videospiele« werde danach eine andere sein. Keine Frage, das Spiel macht vieles richtig, aber so revolutionär ist es auch wieder nur, wenn allein Call of Duty als Vergleichshorizont dient. Den Publishern gefällt’s. Und so wird der »Entwickler-Legende« Hideo Kojima für die Werbetour zu Death Stranding eben »Regie-Genie« Fatih Akin zur Seite gestellt. Leander Haußmann kann derweil in ZEIT Wissen binäre Gut/Böse-Entscheidungen in Red Dead Redemption 2 (2018) als Unique Selling Point von Games in Szene setzen.

Es ist schade, dass Akin und Haußmann bei ihrem Kontakt mit Computerspielen nicht mehr Streitfreude zeigen. Der oft trivialisierten Spielkultur tut es zwar gut, hochkarätige Affirmation von Außen zu bekommen, aber es könnte mehr dabei rumkommen als die reziproke Win-Win-Profilierung von Hochkultur und Hochtechnologie. Als der Filmkritiker Roger Ebert breitbeinig auf seinem Blog verkündete, dass digitale Spiele niemals Kunst sein können, war das hingegen zwar fürchterlich nervig, hat aber immerhin eine angeregte bis leider auch aggressive Diskussion ausgelöst. Denn auch wenn seine Definition von Spielen viel zu eng ist, hat Ebert doch einen wunden Punkt berührt: Mit ihrem marktkonformen Fokus auf Herausforderungen, Regeln und Ziellinien, berauben sich Games regelmäßig der Möglichkeit, etwas Außergewöhnliches zum Ausdruck zu bringen. Spielentwickler Brian Moriarty entschuldigte sich später beim Filmkritiker und stimmte ein: Computerspiele sind meist eher Kitsch. Externe Expertise kann also gegen Betriebsblindheit helfen, aber sie sollte nicht nur die vermeintlich fehlenden Fürsprecher aus der Spielkultur kompensieren.

Tragisch ist an den Extremen – Games haben entweder keine Autor:innen oder Autor:innen-»Superstars« –, dass dazwischen das Ausmaß und die Vielfalt der Spielekultur völlig unter den Tisch fallen. Auf jeden Blockbuster wie Red Dead Redemption 2 kommen Dutzende zugänglichere und mutigere Produktionen von kleineren Entwicklerteams. Auf jeden Dampfplauderer wie David Cage kommen Dutzende Entwickler:innen mit kreativeren Visionen, fundierteren Meinungen und relevanteren Designphilosophien. Wo es dem Kulturjournalismus von Musik bis zum Theater in der Regel gelingt, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ihrer Kulturfelder sorgfältig zu kuratieren und vermitteln, wird im Gaming offenbar genommen, was gerade am meisten Lärm macht. Kein Moshe Linke, keine Nina Freeman, kein Robert Yang – die Liste ließe sich unendlich fortsetzen. Wie es anders geht (und um auch mal ein positives Beispiel zu nennen) zeigt die FAZ an Disco Elysium (2019): »Brauche Schlaf! Sehe merkwürdige Dinge.«

 

Git Gud

Bleibt als letzte Verteidigungslinie der Verweis auf die schier unüberwindbare Kompliziertheit der Kulturform Games. Zu komplex, um sie dem Publikum zuzumuten, zu komplex, um es überhaupt zu versuchen. Jahrelang macht man sich nicht die Mühe, sie lesen zu lernen, weil ja ohnehin trivial. Aber jetzt, wo sie nicht mehr trivial sind, möchte man auch nicht mehr beim ABC anfangen. Und es stimmt ja wirklich: Digitale Spiele sind oft eine Zumutung. Historisch bedingt – wie auch Charles Bernstein beschreibt – drehen sie sich meist um Leistungsabfragen und sanktionieren ein Scheitern mit toter Zeit. Das nervt, zunehmend auch Gamer:innen. Aber wer mit dem Interface eines Autos durch das geregelte Netzwerk einer Autobahn navigieren kann und obendrein Texte lieber im französischen Original liest und zitiert, sollte mit kaum einem Computerspiel ernsthafte Probleme haben. Um den Schmerz von wiederholtem Versuch und Irrtum kommt man dabei leider selten herum. »Git gud«, wie es in der Spielkultur heißt.

Eine Faustregel und gute Nachricht ist, dass einige der aktuell relevantesten Games gleichzeitig nicht zu den voraussetzungsreichsten gehören. Disco Elysium, Kentucky Route Zero (2013) oder Everything (2017) definieren sich geradezu aus ihrer Verweigerung klassischer Leistungsabfragen und konzentrieren sich auf experimentellen, spielmechanischen Ausdruck. Und dieser Ausdruck lässt sich in eigener Praxis erfahren und in Texte übersetzen. Sei es durch den Vergleich mit der Literatur oder mit dem Film Films, oder durch neue sprachliche Zugänge. Im Jahr 2004 schlug der Journalist Kieron Gillen etwa einen »New Games Journalism« vor, der als Reiseberichterstattung in Spielwelten daherkommt. Solange sich die Übersetzung nicht im Vergleich erschöpft – »ein Film zum Mitspielen« –, sondern Eigenheiten sichtbar macht und einordnet, ist alles gut. Die Sprache des Schreibens über Computerspiele wird gerade neu ausgehandelt und braucht neue Impulse, um die Fachdiskurse der Spielkultur anschlussfähiger zu machen.

Das wäre auch die Aufgabe der Kulturjournalist:innen im Feuilleton. Was sich hingegen leider meist noch beobachten lässt, sind selbsterfüllende Prophezeiungen. Das Publikum goutiert Games nicht, also werden sie ihnen nicht schmackhaft gemacht, also goutiert es Games nicht. Niemand kennt die Autor:innen von Games, also werden sie nicht vorgestellt, also kennt niemand die Autor:innen von Games. Und zu guter Letzt: Die Spielkultur ist vielfältig, komplex und unübersichtlich, also konzentriert man sich auf ihre bekanntesten Elemente, also findet sich niemand in der unübersichtlichen und komplexen Vielfalt der Spielkultur zurecht. Es ist an der Zeit, es wie Charles Bernstein vor dreißig Jahren zu machen: die bequemen Zugänge über Bord zu werfen und luzide und neugierig Computerspielen auf ihre kulturelle Bedeutung hin zu befragen – ob mit Fachwissen oder nicht, spielt keine Rolle. Es ist an der Zeit für die »Verdoomung« des Feuilleton.

 

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