Alle tun sich zusammen, damit Einer es schafft
– Wer in einen Kaurismäki-Film geht, ist nicht auf Überraschungen aus, sondern erhofft, was er kennt und liebt: die stete Meisterschaft der Bilder, die Sorgfalt, mit der sie aufgenommen und geschnitten sind, die Dialoge, deren Lakonie ein so würdevolles wie selbstironisches Pathos erzeugt. Die sympathischen Protagonisten sind Outsider oder kleine Leute, meist wehrlos, manchmal aber vom Glück begünstigt, was niemand glaubt, aber jeder gerne sieht. Märchenhaft ist das alles, dennoch fest verankert in der Wirklichkeit. Das Böse ist allezeit präsent und seine Vertreter reiben sich schon die Hände. Von Gisela Trahms
In „Le Havre“ geht es um afrikanische Immigranten, die illegal nach Nordfrankreich gelangen, dort aber in der Falle sitzen: sie erhalten weder Papiere noch Arbeitserlaubnis und bleiben ausgesperrt. Kaurismäki zeigt ein paar Gesichter, blendet Fernsehaufnahmen von der Räumung ihrer Zeltlager ein, das reicht – die Situation ist bekannt. Er erzählt, wie immer, eine individuelle Geschichte, die, wie immer, gut ausgeht und also vollkommen irreal ist und dennoch nicht verlogen, denn das Bewusstsein dafür, wie solche Geschichten gewöhnlich verlaufen, bleibt in jeder Einstellung lebendig. Kaurismäki träumt, seine Zuschauer mit ihm, und nach fast dreißig Filmen weiß man, wie diese Träume funktionieren.
Ihr Grundmuster lautet: Alle tun sich zusammen, damit Einer es schafft. Der Eine ist hier ein Kind namens Idrissa. Es will nach London, wo seine Mutter lebt. Also muss ein Schlepper her und viel Geld, um ihn zu bezahlen. So kommt die Geschichte in Gang, das Vorhaben scheint unmöglich, da auch die Polizei in Gestalt eines schwarz gekleideten Kommissars nichts anderes zu tun hat, als hinter dem Jungen herzuschnüffeln. Erzählt wird das mit jener Statik und Farbigkeit, für die Kaurismäki berühmt ist: der Zuschauer blättert quasi ein Album blaugetönter Einzelbilder durch. Selbst der Gefängnisdirektor sitzt in einer blaugrün gestrichenen, trostlosen Kammer und rührt sich nicht. Außenaufnahmen werden durch zusätzliches Licht aufgehellt, in dem die Personen diskrete Schatten werfen. Da stehen sie dann im normannischen Wintermorgen und sagen haarsträubende Sätze auf („Ich bin der Albino der Familie“) und transportieren mit unbewegter Miene tonnenweise Gefühl.
Der hilfreiche Held heißt Marcel Marx, ein sprechender Name. Gespielt wird er von André Wilms, einem französischen Bruno Ganz, der die edlere Nase besitzt. Vor fast dreißig Jahren war Wilms der Marcel in „Das Leben der Bohème“, Kaurismäkis Filmversion der Puccini-Oper. Damals versuchte er vergeblich, Mimis eiskaltes Händchen zu wärmen, Mimi starb. In „Le Havre“ spielt Kati Outinen die Frau an seiner Seite, sie heißt hier Arletty wie die berühmteste französische Schauspielerin der Vierziger Jahre. Eine muntere Mimi gibt es zusätzlich, und Evelyne Didi, welche damals die Mimi spielte, darf als anmutig gealterte Yvette wieder auferstehen. Einmal sitzt Marcel vor einem noch geschlossenen Café, dann geht der Rolladen hoch und sichtbar wird ein ans Fenster geheftetes Plakat von Chabrols „Les Cousins“, mit dem 1959 die Nouvelle Vague begann. Deren Ikone Jean – Pierre Léaud darf zur Abwechslung mal den tückischen Denunzianten geben, ein Scherz für sich. Ausführliches, leichthändiges Spiel also mit Zitaten und Identitäten, wehmütige Blicke in die Vergangenheit.
Hund Laika aber heißt auch im wirklichen Leben Laika und das Meer bleibt das Meer (noch). Die krebskranke Arletty muss wohl sterben, kann aber trotzdem das schöne gelbe Kleid aus der Zeit der ersten Liebe anziehen und nach Hause gehen, denn der Tod, so hat ihr Regisseur beschlossen, umzingelt uns ja sowieso immer und überall, da muss er nicht auch noch im Kino das letzte Wort haben. „Je suis rentré“, sagt Marcel nach des Tages Arbeit als Schuhputzer zu Arletty, und sie antwortet mit Reibeisen – Stimme und finnischen Akzent: „Je vois ça“, und das schafft Wärme für alle Zeiten. Einem einzelnen Einwandererkind kann geholfen werden. Für den Strom der Immigranten, die Europa ansteuern, taugt die Lösung des Films nicht, aber das gibt er auch nicht vor. Sie zu finden, müssten wir uns wohl alle sehr viel deutlicher anstrengen.
Gisela Trahms
Le Havre: FIN/F/D 2011. Buch: Aki Kaurismäki, Kamera: Timo Salminen, Schnitt: Timo Linnasalo, Darsteller: André Wilms (Marcel Marx), Blondin Miguel (Idrissa), Kati Outinen (Arletty), Jean-Pierre Daroussin (Monet), Elina Salo (Claire), Evelyne Didi (Yvette), Pierre Étaix (Dr. Becker), François Monnié (Gemischtwarenhändler), Roberto Piazza (Little Bob), Jean-Pierre Léaud (Denunziant), Laika (Laika), 93 Minuten.
Fotos: © Sputnik Oy/Pandora Film, fotografiert von Marja-Leena Hukkanen.