Geschrieben am 8. September 2008 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Akzente: Themenheft Roman

,,Der Roman übertrifft alle Kunstwerke an Papier-Größe.“

In einem ziemlich fernen Früher waren Romane ein Echoraum für die Seufzer unbeschäftigter Frauenzimmer, also Schwachsinn. Heute werden Romane auch von Männern gelesen und überfluten die Büchertische. Ob sich der Schwachsinn vermindert hat, darf bezweifelt werden. Von Gisela Trahms

Daneben, dahinter, darüber oder darunter aber gibt es immer noch jene Romane, die nicht verschlungen, sondern gelesen sein wollen und den ebenso traditionssatten wie zukunftsseligen Anspruch erheben, Kunst zu sein.

An Theorien über diese Kunstform herrscht kein Mangel, nur treiben sie den Literaturliebhaber eher in den Schlaf als in die Helle des Bewusstseins. Das Akzente-Themenheft „Roman“ konzentriert sich weise auf das, was die Schreibenden sagen. Es gleicht einem Beutelchen, in dem jene Perlen klackern, die die Romanautoren im eigenen Fleisch genährt haben. Sehr unterschiedliche Perlen, zerstreute, unsystematische, und dennoch, da wir es mit Textvirtuosen zu tun haben, von nachhaltigem Glanz.

Beginnen wir mit den schwärzesten: Sie finden sich in Thomas Hettches Rede zur heutigen Lesekultur mit dem rabiaten Titel: „Nichts bleibt“. Auf vier Seiten wird uns demonstriert, woher wir Leser kommen (aus dem Bürgertum) und wohin wir gehen (ins Nichts). „Gehörte es zum bürgerlichen Ethos im Umgang mit Kunst, die Arbeit wertzuschätzen, die der Künstler geleistet hatte, … so wird in dem Moment, in dem der Konsument an die Stelle des Bürgers tritt, … das Buch selbst zum Dienstleister.“ Dann bestimmt nämlich der Leser, welche Sensationen das Buch ihm bereiten soll, und das Buch hat zu liefern und wehe, wenn nicht. Welche Folgen dieser Zwang haben wird und schon hat, sollten Sie im Heft nachlesen.

Gemessen an diesem Untergangsszenario, wirken die beiden Romane, über die sich die Verfasser Ingo Schulze und Norbert Niemann unterhalten, wie Rettungsinseln: Neue Leben (Schulze, 2005, 794 Seiten) und Willkommen neue Träume (Niemann, 2008, 608 Seiten). Jahrelang haben die Autoren daran geschrieben, beide Bücher führen das verheißungsvolle „neu“ im Titel. In ihrem Gespräch reflektieren die Schriftsteller, mit welchen Ideen, Bildern, Absichten sie begannen, welchen Schwierigkeiten sie sich unerwartet gegenüber sahen, wie überhaupt so etwas wie Form zustande kommt und welche Konsequenzen die Entscheidung für eine bestimmte Form nach sich zieht. Das zu verfolgen ist spannend, auch wenn man die Bücher nicht kennt (Niemanns Roman ist gerade erst erschienen). Vielleicht gehen die beiden ein wenig zu milde miteinander um – für Leser schafft Reibung mehr Klarheit (und Vergnügen).

Aber trotzdem, Perlen die Menge: „Der Roman, so wie ich ihn verstehe, zielt ja gewissermaßen aufs Ganze eines Weltzustands“ (Niemann). Applaus! Da wirft doch mal jemand den Hut in den Ring, und gerührt hört man den seligen Georg Lukács einen Geisterbeifall klatschen. Der Roman sei die Kunstform „eines Zeitalters, für das die Totalität des Lebens nicht mehr gegeben ist“, das aber dennoch „die Gesinnung zur Totalität hat“. Das schrieb Lukács 1914/15, als die Welt, die er deutete, gerade unterging. Was er nicht ahnen konnte, war die Wandlung von wie auch immer entworfener oder erfahrener Totalität in eine medial vermittelte. Norbert Niemann formuliert das so: „Das Verhältnis der Prosa zur Wirklichkeit besteht für mich nicht darin, Wirklichkeit abzubilden, sondern Wirklichkeitsabbilder als Abbilder abzubilden.“ Und wenn dir das fremd ist, Georg, dann lies nur, wie Hans-Ulrich Treichel dich in seinem Artikel zitiert, all die prächtigen Begriffe („Lebensimmanenz des Sinnes“), in denen einmal gedacht wurde und die heute keiner mehr zu denken wagt, geschweige denn zu verwirklichen fordert.

Klackernde Perlen

Naturgemäß flotter und begreifbarer sind die 36 Kurzbemerkungen von Thomas Glavinic mit dem ebenso schlichten wie kühnen Titel: „Der Roman“. Simpel beginnen sie, erste Perle: „Ich fliege wie ein Blinder durch die Bücher, die ich lese, ziehe jedoch auf mir rätselhafte Weise Genuss daraus. Mit meinen eigenen geht es mir nur unwesentlich anders.“ Zweite Perle: „Und außerdem ist mir egal, was meine Bücher bedeuten. Ich muss sie nicht verstehen. Ich mag sie, weil sie mein anderes Ich sind …“ Und so geht es weiter, während unter der Hand erklärt wird, wie der Roman Die Arbeit der Nacht (von wem doch gleich? Ah, Thomas Glavinic!) mit Anspielungen gespickt und gänzlich unblind aufs Feinste durchkonstruiert ist. Resultat: „Ich glaube, dass ich mich in den Hinterkopf meines Lesers schreiben kann.“ Aber ja!

Hundert Seiten hat das Heft, zwölf Autoren kommen zu Wort, unter anderen auch Cervantes, Melville und Flaubert. Es beginnt mit dem hübschen Jean-Paul-Zitat, mit dem auch dieser Artikel überschrieben ist. Nach der Lektüre sind wir klüger, haben gedacht und gelacht und freuen uns, dass wir, ehe das Bleibende im Nichts verschwindet (s. o.), noch ein Stück davon mitgekriegt haben.

Gisela Trahms

Akzente. Zeitschrift für Literatur, hg. von Michael Krüger. Heft 4/2008: Roman, hg. von Michael Lentz, Wolfgang Matz und Norbert Niemann. Hanser Verlag 2008. 7,90 Euro.