Magischer Twilight-Realismus
– Reif für die Insel? Die Hamburger Fotografin Anja Jensen stellt ihre faszinierenden „Tatort“-Bilder auf Föhr im Museum Kunst der Westküste aus. Es sind inszenierte, geheimnisvoll ausgeleuchtete Fotos, die während ihrer Aufenthalte auf Föhr und Amrum entstanden. Von Peter Münder
Hinten am dunkelblauen Horizont ist ein roter Reststreifen der untergehenden Sonne auszumachen, vorn steht ein grell ausgeleuchtetes rothaariges Mädchen im weißen Kleid in einer hügeligen Heidekrautlandschaft und blickt direkt in die Kamera. Sie greift dabei in einen großen Popcornkübel – will sie dem Betrachter vielleicht etwas anbieten? Oder fühlt sie sich wie eine verlorene Gretel und will mit verstreuten Popcornbröseln ihre Spuren für einen sicheren Rückweg verewigen? Das Bild des Inselmädchens Lara, auf Amrum während eines längeren Aufenthalts von Anja Jensen inszeniert, liefert eins dieser Rätsel, die inzwischen zum Markenzeichen der Hamburger Fotografin geworden sind. Sie kapriziert sich ganz auf die Ambivalenz des scheinbar Eindeutigen: Erhellende Erklärungsmuster muss sich der Betrachter selbst zurechtzimmern.
Die Künstlerin ist fasziniert von der magischen Twilight-Stunde, von diesem ganz besonderen diffusen Licht und den speziellen Situationen, die sich nach ihrer Ansicht daraus ergeben. In ihrem aus zehn großformatigen Bildern bestehenden „Tatort“-Zyklus überraschen die besonderen Lichteffekte, aber auch die ungewöhnlichen Situationen, in der die Porträts jeweils entstanden. Da hockt ein Mann beim Dämmerlicht im hohen Schilfgras, sein Gesicht ist hell ausgeleuchtet, er blickt zur Seite, trägt eine schwarze Pudelmütze und beobachtet als Jäger vielleicht ein seltenes Tier – aber das können wir nur erahnen. Spekulieren können wir auch nur über die junge langhaarige Frau im rotweiß gepunkteten Kleid, die mit gehetztem Blick eine große Holztreppe vom Strand nach vorn ins Bild hinaufsteigt. Düstere, turbulente taifunartige Wolkengebilde haben sich im Hintergrund bedrohlich zusammengezogen, während im Vordergrund noch silbrig der Sandstrand strahlt. Ihr Gesicht wirkt gespenstisch weiß, fühlt sie sich verfolgt? Das Foto hat jedenfalls eine Schrecksekunde eingefangen, die wiederum einen Moment von existentieller Bedeutung entfaltet.
Geheimnisvolle Inszenierungen
Sämtliche Bilder sind sorgfältig inszeniert, arrangiert und akribisch ausgeleuchtet. Anja Jensen ist keine Schnappschussartistin, sie möchte Ambiente, Figuren und Licht zu einem magisch-realistischen Szenario verdichten, das dann vom Betrachter enträtselt werden soll. Oft transportiert so eine Fotografie dann auch Segmente der im Hintergrund angedeuteten gesellschaftlichen Verhältnisse: Etwa wenn sie während ihrer Auslandsreisen zwischen Südamerika, China und Europa Slum-Szenen aus Santiago de Chile festhält oder in der Altstadt von Istanbul einen mit einer Wasserflasche an seinem alten laubfroschgrünen Buick hantierenden Mann fotografiert. Man rätselt über die Umstände, unter denen die Bilder produziert wurden, über den Hintergrund der Figuren, über die Aura und das Geheimnis der gesamten Inszenierung.
Für Anja Jensen ist das Thema Beobachten, Überwachen und Kontrollieren zu einem Leitmotiv ihrer Arbeiten geworden, nachdem sie bei einem Londoner Arbeitsaufenthalt die vielen Videokameras im öffentlichen Raum wahrnahm. Daher steht der Aspekt des Ertapptwerdens in einer überraschenden, verfänglichen Situation im Mittelpunkt ihrer Bilder. Mehr sollte darüber jedoch nicht spekuliert werden, weil die Künstlerin den Betrachter und dessen eigene Perspektive und Interpretation ernst nimmt – sie will uns ihre Sicht der Dinge nicht bevormundend oktroyieren.
Fotomotiv Freiheitsstatue
Aber dann sieht man das Bild „Freiheitsstatue“ und muss irritiert zur Kenntnis nehmen, dass offenbar all diese Überlegungen angesichts dieser beinah propagandistischen Direktheit des Motivs hinfällig sind: Da steht eine mit der US-Fahne drapierte Frau breitschultrig vor düsteren Wolkenformationen wie ein Denkmal am Strand, den Kopf streckt sie himmelwärts, während unter ihren Füßen eine weitere Fahne liegt, auf der man den hübschen friesischen Sinnspruch erkennen kann „Lever duad us Slav!“ („Lieber tot als Sklave“). Ist das nun ein satirisch-drastischer Slogan, der die Supermacht USA verhöhnt oder anprangert? Soll das eine aktuelle Stellungnahme zum amerikanischen Wahlkampf sein? Nein, es ist einfach nur eine Auseinandersetzung mit der Biografie einer aus Amrum stammenden Frau: Pauline Höfer hatte es mit ihren Eltern in die USA verschlagen, sie lebte dort einige Jahre, kehrte wieder auf die Insel zurück und schwelgt heute noch in einem euphorisch eingefärbten nostalgischen Rausch, weil sie die Offenheit und den Pioniergeist der Amerikaner einfach großartig fand. Diese idealisierende Verklärung einer dynamischen Go-West-Mentalität wollte Anja Jensen, die mit ihren Eltern ebenfalls in den USA gelebt hatte, mit einem pseudopathetischen Touch verfremdend stilisieren.
Die großformatigen Bilder faszinieren durch ihre ungewöhnlichen Inszenierungen und Motive; dieser magische Twilight-Realismus strahlt eine grandiose Aura aus, die einen auch noch lange nach dem Verlassen der Ausstellung beschäftigt. Abgesehen davon bietet die Dauerausstellung im Museum Kunst der Westküste einen schönen Überblick über friesische Heimatkunst und zeigt auch einige Klassiker wie Liebermann, Munch, Nolde und Beckmann. Und sie präsentiert in einer weiteren Ausstellung den bekannten amerikanischen Video- und Installationskünstler Bill Viola mit seiner Arbeit „The Raft“: In extremer Zeitlupe hält er fest, wie eine Gruppe von Männern und Frauen von einer bedrohlichen Flutwelle erfasst wird. Viola ist fasziniert vom Wasser als Naturelement und setzt sich vor allem mit dem Konflikt zwischen Mensch und Natur auseinander – das verbindet ihn mit den Inselbewohnern auf Föhr.
Peter Münder
Anja Jensen studierte Kunstgeschichte und Malerei in Mainz, Paris, Kiel und Münster. Seit 1996 fokussiert auf Fotografie, vor allem auf das Leitmotiv Überwachung/ Kontrolle. Ihre Ausstellungen und Projekte haben sie nach Südamerika, China, in die USA, Türkei und nach Polen gebracht. Als Stipendiatin lebte und arbeitete sie für einige Monate auf Föhr und Amrum, jetzt lebt sie in Hamburg.
ANJA JENSEN: TATORT – Ausstellung im Museum Kunst der Westküste, Alkersum/Föhr bis 13. Januar 2013. Hauptstr. 1, Tel. 046 81 747 400 Öffnungszeiten: bis 31. Okt.: Di-So 10-17 Uhr, Do 10-19 Uhr 1. Nov.- 13. Jan. 2013: Di-So 12-17 Uhr. Foto ganz oben: Anja Jensen, Frau auf Treppe.