Auf E-Tour (2): Zeit für was Kurzes
– Neue digitale Originalausgaben, frisch durchgewischt von Sophie Sumburane. Diesmal mit Pippa Goldschmidt („Von der Notwendigkeit, den Weltraum zu ordnen”) und Georg Friedrich Kammerer („Alles kaputtschlagen. Eine Schöpfungsgeschichte”).
Inzwischen ist meine jüngste Tochter beinahe acht Monate alt. So langsam mache ich nicht mehr den ganzen Tag bubu und baba und mutiere wieder zu einem denkenden, in ganzen Sätzen sprechenden Wesen, das wieder öfter am Schreibtisch sitzt, als hinterm Wickeltisch zu stehen. Denn jetzt wickelt sich mein Baby selbst (Ihres nicht?) und ich freue mich darauf, endlich wieder unter Menschen zu kommen.
Vorher sitze ich beim Frisör, die verwachsene Frisur richten lassen, und betrachte die Köpfe der beiden Frauen, die vor mir dran sind. Jetzt was lesen. Auf dem Tisch liegen Frisörzeitschriften mit Frisurentrends und Farbhighlights, außerdem Bunte, Gala, Lisa & Co. „Mist, Buch vergessen!“, würden andere nun denken und sich mit der Hand vor die Stirn schlagen, ich aber nutze sie und greife in die Tasche nach meinem Smartphone. Zack, Leseapp, tada – nur, was lese ich denn jetzt?
Pippa Goldschmidt: „Von der Notwendigkeit den Weltraum zu ordnen“
Wieder der Blick auf die vor mir Wartenden – lohnt es sich noch, „Der Horizont“ von Patrick Modiano anzufangen, was ich letztens in der kleinen Buchhandlung in Borgholzhausen von Martina Bergmann gekauft habe ohne jemals in Borgholzhausen gewesen zu sein? Nein – Als Literatur für zwischendurch hab ich vor allem eines auf dem Handy: Kurzgeschichten.
Die von Pippa Goldschmidt zum Beispiel. Die in London geborene Astronomin lebt heute als preisgekrönte Autorin in Edinburgh und verknüpft in ihren wunderbaren Texten gekonnt Wissenschaft und Literatur. „Von der Notwendigkeit den Weltraum zu ordnen“ heißt die zweite Story-Sammlung, die jüngst im CulturBooks-Verlag in der Übersetzung von Zoë Beck erschienen ist. 14 Kurzgeschichten, so unterschiedlich wie großartig, erzählen von Wissenschaft, Frauen in der Männerwelt, Erfahrung mit Abschied und Neuanfang.
Ich lese die Geschichte „Keine Zahlen“, in der eine junge Frau am Sterbebett ihrer Großmutter das erste Mal deren Tätowierung am Unterarm sieht und die Haut berührt. Dort steht eine fünfstellige Zahl, ihre Häftlingsnummer aus dem KZ. „Sogar im Sommer hatte sie lange Ärmel getragen, und ich wusste, dass sie bereit war zu gehen, als sie aufhörte, sie zu bedecken, (…)“, reflektiert die Protagonistin, die der Leser vorher als matheliebende, zahlenaffine junge Frau kennen gelernt hat.
Und wie gedenkt man seiner Großmutter, die nie wollte, dass man sich tätowieren lässt, nach ihrem Tod, nachdem man nun den Grund kennt, für deren Abneigung? Die Worte dieser Geschichte sind berührend und stimmig, keines ist überflüssig, die Stimmung brechend oder zufällig. Dies gilt für alle Erzählungen.
Die Stimmigkeit ist auch der Übersetzerin Zoë Beck zu verdanken, die die Originaltexte wunderbar einfühlsam wiedergibt (mitten im Frisörsalon krame ich jetzt nach einem Taschentuch – für die feuchten Augen). Neben Traurigem, so nüchtern und eindrücklich erzählt wie ich es bisher nur bei wenigen gelesen habe, findet sich in dieser Sammlung auch politisches, feministisches, satirisches, viel Großartiges. Selbst jetzt, als ich schon auf dem Frisörstuhl sitze, lege ich mein Smartphone nicht aus der Hand, nehme in Kauf, dass die Frisörin mit jedem Mal genervter meinen Kopf in Position drückt und genieße die Literatur der Britin.
Doch irgendwann ist auch das schönste E-Book einmal ausgelesen, ich aber noch nicht wieder vollständig hergestellt. Ich weiß nicht, was die eigentlich sehr freundliche Frisörin mehr an mir nervt: dass ich nicht mit ihr klatschte oder ständig den Kopf senkte, jedenfalls schickt sie mich jetzt ein wenig erleichtert in die Warteecke, zum Farbe einwirken lassen. Wieder habe ich Zeit und scrolle erneut durch meine virtuelle Bibliothek.
Georg Friedrich Kammerer: „Alles kaputtschlagen.“
Hängen bleibe ich an einer Novelle aus dem Verlag „Das Beben“, bei der mich allein der Titel zum Kauf veranlasst hat: „Alles kaputtschlagen.“ Eine Schöpfungsgeschichte, so der Untertitel, ist viel mehr die Geschichte vom Ende der Schöpfung. Die Novelle des in Berlin lebenden Komikers Georg Friedrich Kammerer geht allerdings hart an die Schmerzgrenze dessen, was von mir als aufklärerisch geprägte Leserin noch als satirisch empfunden werden kann.
Im Prolog lernen wir „Bärchen“ und „Entchen“ kennen, die den nahenden Weltuntergang vor Augen endlich sündigen (der vorwitzige Erzähler vermutet, dass dem Entchen bewusst ist, dass kein Ende bevor steht, es nur endlich das Bärchen rumkriegen wollte). Und so beginnt der Text, wie er unaufhörlich weiter macht: mit Sex. Viel Sex, zu viel Sex (und ich bin echt nicht prüde, nicht mal, während ich beim Frisör sitze), derbe Wortwahl, gewollt lustig, leider oft mit missglückter Pointe.
Der zweite Teil des Prologs stellt uns Mike vor, einen atheistischen Selbstmordattentäter, der sich einfach nur um des sich-in-die-Luft-sprengen-Willens in die Luft sprengt. Mitten in Berlin, ohne Aussage, ohne Grund. Der tote Mike begegnet uns in dem kurzen Text dann als toter hipster Mike mit Freundin (Joana), Ex-Freundin (Miriam) und schwulem Nachbarn (Richard) in Berlin, wo er versucht, die Welt vor einer ominösen Gottheit zu retten, die aus Versehen die ultimative Schlacht gewonnen hat. „Was passiert, wenn man ein paar verdrufften Hipstern die Rettung der Welt anvertraut?“, es geht schief, natürlich – aber da sind ja noch Entchen und Bärchen, die übernehmen das!
Ein schräger Text, anzusiedeln in der Fantastischen Literatur, voller Klischees über „hippe Großstädter“, deren Alltag sich um Sex, Drogen, Kneipeneröffnungen, Partys und „irgendwas mit Medien“-Jobs dreht, der mich nicht nur an einer Stelle zum Lachen brachte (die Frisörin sah von ihrer neuen Kundin zu mir rüber und hoffte wohl, mitlachen zu können, was dazu führte, dass die Kundin lachte und plötzlich alle lachten, gern geschehen). Allzu oft aber war es mir deutlich zu derb, zu gewollt, zu zynisch.
Sehr schön dagegen die Fußnoten, die beim Lesen angetippt werden können und auf einer Meta-Ebene (noch so ein Hipster-Klischee: alles ist meta) kurze Informationen zu Personen à la „Jochen, 42, Schreiner“ geben, mehr über das Sexleben verraten (ja, noch mehr) oder Texte wiedergeben, die in der Novelle angesprochen werden, aber nicht in den Fließtext passten. Ein Klick, da. Ein Klick, zurück im Text – wunderbar, ein Hoch auf das E-Book! Und jetzt bin ich mit Haare ausspülen dran.
Sophie Sumburane
Das CulturMag geht auf E-Tour: In ihrer Kolumne zum digitalen Text präsentiert Ihnen die Autorin Sophie Sumburane jeden Monat neue digitale Originalausgaben.
Pippa Goldschmidt: Von der Notwendigkeit, den Weltraum zu ordnen. Storys. Übersetzt von Zoë Beck. Originalausgabe. CulturBooks 2014. 120 Seiten. 5,99 Euro. Mehr Informationen. Foto: Chris Scott
Georg Friedrich Kammerer: Alles kaputtschlagen. Eine Schöpfungsgeschichte. Verlag Das Beben, 2013. 135 Seiten. 3,49 Euro. Mehr Informationen.