Geschrieben am 16. März 2010 von für Litmag, Porträts / Interviews

Daniel Kehlmann im “Live-Porträt”

Daniel Kehlmann, wirklich

Europas größtes Literaturfestival, die lit.COLOGNE, begann mit einem Ausflug ins Spiegelkabinett von Realität und Fiktion. Ein Bericht von Gisela Trahms.

Die Karten für diesen im Nu ausverkauften Abend gab es schon im November, als der neue Roman von Daniel Kehlmann nur ein Raunen der Erwartung war. Im Januar materialisierte er sich dann stapelweise in den Buchhandlungen und nun, zwei Monate später, am 12. März, eröffnen Autor und Buch die Lit.COLOGNE. Am Nachmittag wurde in Leipzig der „Preis der Leipziger Buchmesse“ verliehen, Kehlmann gehörte zu den Nominierten. Dass er nicht gewann, war in Köln niemand eine Silbe wert – zu offensichtlich brauchen weder Kehlmanns Ruhm noch Ruhm den Preis. Bedeutsamer ist vielleicht, dass es der Tag nach Winnenden ist.

Nun steht er also auf der Bühne am Lesepult. Nur mühsam kann man ihn erkennen: das Licht strahlt auf die Buchseiten, nicht auf den Lesenden. Neulich, bei einem Interview im Fernsehen, erschien sein Gesicht ständig in Großaufnahme, kein Mundwinkelzucken blieb verborgen. War er uns da näher? Er lächelte viel, auch heute klingt die Stimme freundlich aus dem Dunkel.

Die Geschichte handelt von einem Schriftsteller, für den ein gewisser brasilianischer Bestsellerautor Modell stand, dessen Name auch später im Gespräch nicht genannt wird. Aber das Publikum lacht und signalisiert damit, dass es die Satire durchschaut und sich absetzt vom Millionenpublikum des Modells: Hier nur intelligente Leute! Und wie angenehm ist es, sich erzählen zu lassen, dass jener seichte Esoteriker ahnt, welchen Schrott er verzapft und mit der Vorstellung spielt, sich umzubringen ob dieser Ahnung. Und das Problem der Theodizee, der Rechtfertigung Gottes angesichts des Leidens in der Welt, wird vielleicht gleich mit erledigt…

Schon sitzen wir in Kehlmanns Buchfalle, denn dies ist ja nicht als Fiktion gemeint, auf die wir uns wirklich (?) einlassen sollen. Vielmehr wird ein Spiel entfaltet mit Ebenen und Metaebenen, Erzählhaltungen und Autorschaft, das uns zeigt, wie ‚uneigentlich‘ und vielfach vermittelt das ist, was wir Wirklichkeit nennen. Gerade schiebt sich der fiktive Erfolgsautor einen Pistolenlauf in den Mund. Der Kopf antwortet mit dem, was man sich zu Winnenden vorstellt. Die Romanfigur verblasst.

Ist die Wirklichkeit der Konstruktion identisch mit der Konstruktion der Wirklichkeit?

Daniel Kehlmanns Gesprächspartner an diesem Abend ist Jochen Hörisch, Germanist und Medienwissenschaftler, der vor kurzem eine Studie mit dem Titel „Bedeutsamkeit“ veröffentlichte. Die beiden sind einander ebenbürtig an Höflichkeit, guter Laune, Sprechtempo und der Fähigkeit, das reflexive Treppchen um immer noch eine Stufe zu erhöhen. Es macht Spaß, ihnen zuzuhören. Alle Wirklichkeit ist konstruiert, darin sind sie sich einig, aber ist die Wirklichkeit der Konstruktion identisch mit der Konstruktion der Wirklichkeit?

Darauf antwortet Kehlmann weder mit Ja noch Nein. Vielmehr beruft er sich auf die Freiheit des Schriftstellers, philosophische oder medientheoretische Probleme nicht lösen zu müssen. In seinen Büchern konstruiere er eine Wirklichkeit, die sich letztlich durch ihre Konstruktionsweise beglaubige. Aber er persönlich, empirisch gesehen, habe ja das eigene Leben nicht annähernd so in der Hand wie das seiner Romanfiguren…

Eine kluge Antwort. Und als er wieder ans Lesepult tritt, um das Kapitel „Ein Beitrag zur Debatte“ vorzulesen, zollt er der Wirklichkeit mit dem Hinweis Tribut, dass ein, zwei Sätze darin einen Bezug haben zu dem, was in Winnenden geschah, dass er sie aber trotzdem lese.

Er liest virtuos und macht aus diesem Monolog eines einsamen Computerfreaks eine veritable Nummer. Sie ist zu lang, zu glatt und sehr durchschaubar in ihrer Balance zwischen Komik und Mitleid mit der Figur. Aber sie amüsiert. Das menschenscheue Dickerchen träumt zwar davon, den Kollegen zu killen (sekundenlang ein textexterner, kalter Hauch), aber niemals wird es das tun, niemals. Und wie tröstlich, dass dieser Blogger auch einige Bücher toll findet und deren Autor anbaggert und in eine Geschichte reinwill – also in ein richtig altmodisches Medium! Der Autor lehnt ab. Aber Kehlmann, der Autor des Autors, hat ja Letzterem zum Trotz die ganze Geschichte des Dickerchens… usw. So gewitzt ist er eben, und so nett.

„Sein ist Wahrgenommenwerden“

Nicht nur nett, möchte man ergänzen, sondern von geradezu entwaffnender Freundlichkeit. So gutwillig und offen tritt er auf, als bedeute seine Jugend auch: ohne Bitternis. Als sei er 34 Jahre lang von einer positiven Erfahrung zur nächsten durchgerutscht. In Wirklichkeit (!) kam der Erfolg ja keineswegs mit dem ersten Buch. Besaß er eine glückliche Eigenwahrnehmung? Hat er sich gut konstruiert?

Nach der Veranstaltung wird er signieren – draußen warten Berge von Ruhm. Und danach? Und morgen? Und immer weiter? Interviews und Gespräche, Fragen ohne Ende, kluge, wie heute Abend, und törichte, wie meistens. Also sich selbst erzählen, sein eigener Autor sein und aufpassen, dass man sich nicht aus Formeln und Formulierungen eine zweite Haut schafft, die die natürliche erstickt… Die „knappe Ressource Aufmerksamkeit“ (Hörisch) wird Kehlmann reichlich zuteil, offenbar kommt er damit zurecht. „Sein ist Wahrgenommenwerden“, wusste George Berkeley schon 1710.

Im letzten Herbst erschien das Büchlein Requiem für einen Hund von Kehlmann und Sebastian Kleinschmidt. Darin reden die beiden über Die Vermessung der Welt und den neuen Roman. Kehlmann beendet es mit dem Satz: „Wenn ein Buch ‚Ruhm‘ heißt, wovon sollte es handeln, wenn nicht vom Verschwinden?“

Allmählich ahnen wir, was dieser Satz bedeutet.

Foto: © by billy & hells

Gisela Trahms