Geschrieben am 30. Dezember 2009 von für Kolumnen und Themen, Litmag

David Foster Wallace: Unendlicher Spaß / Nachlese

Jahr des weißen Backsteins

Das Jahr 2009 begann mit „Ruhm“ (Daniel Kehlmann) und endet mit Ruhm (Herta Müller). Dazwischen, im Sommer, verließ ein amerikanischer jest nach brillanter Eindeutschung den PC des Übersetzers Ulrich Blumenbach und materialisierte sich in einem Backstein. Und obwohl Ziegel in Mengen die Büchertische beschwerten, war es doch dieser weiße, der sich dem Jahr auf- und einprägte wie die schwarze Schrift dem Buchdeckel. Von Gisela Trahms

Die erste bemerkenswerte Aussage findet sich im Kleingedruckten auf Seite vier: Blumenbach dankt seinem Vater für die finanzielle Unterstützung. Zwar erhielt er außer dem Verlagshonorar (44.000 Euro) zwei Stipendien aus dem Deutschen Übersetzerfonds, dennoch reichte das nicht für sechs Jahre Brot, wie man leicht errechnet. Wer ein hochkomplexes Gestrüpp wie Infinite Jest anderen zugänglich macht, und zwar so sorgfältig wie schöpferisch, sprengt die belletristische Preiskalkulation und endet, wenn ihm kein Mäzen beispringt, trotz Literaturförderung am Hungertuch. Also: Großen, lauten Dank an Vater Blumenbach!

Am 22. August, einem Samstag, erhoben die Kritiker aller großen Feuilletons ihre Stimme (gab es das je?), um die öffentliche Wahrnehmung des Spaßes anzustoßen: spürbar überwältigt, schlugen sie in der SZ, FAZ, FR, taz, NZZ Verständnisschneisen durch das Mammutwerk. Alex Rühle (SZ) gebührt die Krone der Zitatauswahl und leuchtender Diagnosen. Der Erregung über Wallace’ Spiel mit Fachtermini, Neologismen und Endlossätzen begegnet er mit der Feststellung, letztere hätten „die verwegene Eleganz einer schlanken Hängebrücke“. Ja, so ist es. Und so, wenn nicht verwegen, doch elegant, setzt sich die Rezension fort.

Miracle

Dank dieser konzertierten Aktion erreichte der „Spaß“ dann drei Wochen später Platz acht der Bestsellerliste (bis September 50 000 verkaufte Exemplare, bis Jahresende wohl 70 000). Dass ein Wälzer von 1600 Seiten, der 40 € kostet und auf komplizierte Weise von Tennis, Sucht und fiktiven Filmen handelt, zu Tausenden erworben und nach Hause geschleppt wird – staunenswert. Anfangs trug wohl auch ein vom Verlag eingerichtetes, optisch hinreißendes Blog dazu bei, unendlicherspaß.de. Eine stolze Reihe von Autoren hatte die Druckfahnen erhalten und nun die Möglichkeit, sich hundert Tage lang über ihre Lektüreerfahrungen zu äußern. Abgesehen von ein paar Glanzlichtspenden zogen sie das Schweigen vor.

Selbst Alban Nikolai Herbst wollte schließlich nicht mehr vom Kindergarten seiner Zwillinge berichten. Einzig Elmar Krekeler ließ uns bis zum Schluss an seinem schönen Leben teilhaben. Inzwischen hatten längst die Kommentatoren aus dem Publikum das Forum besetzt und fuhren es gegen die Wand. Der Einzige, der auf der Autorenliste stand und sich überhaupt nicht zu Wort meldete, war KiWi-Chef Helge Malchow. Sehr klug.

Im Fernsehen äußerte Stefan Zweifel unterdes die Befürchtung, der Backstein werde gekauft wie eine Gucci-Tasche, um ihn sichtbar in der Wohnung zu platzieren. Na wenn schon: Von jedem Kauf profitiert der wagemutige Verlag. Der/Die Käufer(in) muss, wie immer, selbst entscheiden, ob er/sie bloß Teilnahme am kulturellen Diskurs simulieren oder lesen will, wirklich lesen. Und übrigens: Nach 700 Seiten aus der Lektüre auszusteigen und durchzuatmen, ist auch keine Schande. Mario Incandenza und Don Gately werden trotzdem zu Lebensbegleitern. Und vielleicht stürzt man sich ja in zwei, drei Jahren aufs neue ins Wörtermeer, des Rausches und Rauschens wegen. Da eine fortlaufende Handlung im Sinne von „Ich verstehe Seite 978 nicht, wenn ich Seite 354 nicht mehr im Kopf habe“ nur andeutungsweise existiert, ist das kein Problem.

Another Turn of the Screw

Bei den vorweihnachtlichen Kaufempfehlungen der FAZ setzte Richard Kämmerlings den „Spaß“ in die Sparte „Klassiker“. Originell, wahr und schätzenswert. In seiner Rezension hatte er Wallace mit Musil verglichen. Ebenso könnte man Parallelen zu Proust ziehen: die mäandernden Sätze, die das Hirn euphorisieren und den Wunsch nach Weiter, weiter und Niemals aufhören wecken. Der Anspruch „Alles und noch mehr“. Die Ablehnung gliedernder Kapitel, die Zeitsprünge, der Beschreibungsfuror, ob nun Weißdorn oder quietschendes Elternbett. Und die Souveränität, mit der der „Spaß“ wie die „Suche nach der verlorenen Zeit“ gegenüber noch so berechtigten Einwänden die monumentalen Schultern zucken: Sie sind ihre eigene Liga.

Im Januar, wie gesagt und lang ist’s her, erschien Kehlmanns intelligente Reflexion über Autorschaft, Intertextualität usw. usw. Im Dezember wurde Herta Müller die Nobelpreis-Urkunde überreicht, ein nachdrücklicher Hinweis auf die moralische Dimension von Literatur. Der Unendliche Spaß enthält beide Aspekte, außerdem scheint er alles, was die Exegeten zusammentragen, längst zu wissen. Vor allem aber dreht er an unserem innersten Gewinde: der Wahrnehmung, der Sprache. Und obwohl seine Herkunft aus dem 20. Jahrhundert offensichtlich ist, haben wir dank seiner Lektüre das Gefühl, den Nachtzug ins 21. Jahrhundert gerade noch zu erreichen.

Gisela Trahms

David Foster Wallace: Unendlicher Spaß (Infinite Jest, 1997).
Aus dem Amerikanischen von Ulrich Blumenbach.
Köln: Kiwi 2009. 1547 Seiten. 39,95 Euro.

Foto: © Marion Ettlinger