Geschrieben am 22. April 2015 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Ein Bericht von der Lesung „Flucht nach Europa“

Bwnasis_Foto„Wer ist hier der Illegale?“

Im Berliner Literaturhaus Lettrétage fand gestern Abend die Lesung „Flucht nach Europa“ statt, auf der drei eBooks vorgestellt wurden, die dazu einladen, sich mit den Beweggründen und vielfältigen Schicksalen der Flüchtlinge vor Europas Grenzen – und denen, die bereits bei uns sind – auseinanderzusetzen. Sophie Sumburane war für uns vor Ort.

Lampedusa. Wir alle haben mehr oder weniger deutliche Bilder im Kopf, wenn wir diesen Namen hören. Lampedusa ist zum Synonym geworden – für Flüchtlinge, Tod und gescheiterte Träume, für EU Außenmauern, Bürgerkriegsfolgen und (verfehlte) Asylpolitik.

Lampedusa ist dabei nicht mehr als eine Insel im Mittelmeer, näher an der Küste der arabischen Welt als an Europa, und doch zu Italien gehörend, deswegen immer wieder Anlaufpunkt für tausende Flüchtende. Nicht selten kommen die jedoch nie dort an.

Im Moment überschlagen sich die Schreckensmeldungen aus der Mittelmeerregion, gekenterte Boote, hunderte Tote und der Höhepunkt scheint noch längst nicht erreicht, nicht nur vor Lampedusa. Es wird mit jedem Tag wichtiger, dass die Menschen in der EU, die Menschen in Deutschland, sich mit denen auf den Booten befassen. Versuchen zu verstehen, was einen Menschen dazu treibt, seine Heimat zu verlassen, sich von Freunden und der Familie zu trennen und sich in Lebensgefahr zu begeben. Es wird mit jeden Momenten, in denen Menschen vor unser aller Augen sterben, notwendiger, dass wir die Augen endlich nicht mehr verschließen, auch nicht vor denen, die bereits hier sind. Schließlich sind viele Probleme, die die Menschen heute zum Flüchten zwingen, in der Kolonialzeit verwurzelt und damit hausgemacht. Auch heute noch wird beispielsweise durch „Landgrabbing“ vielen Menschen in postkolonialer Manier die Lebensgrundlage entzogen.

Umso wertvoller ist eine Veranstaltung wie die gestrige Lesung „Flucht nach Europa“ im Literaturhaus Lettrétage in Berlin Kreuzberg, initiiert von der Journalistin und Autorin Michaela Maria Müller, organisiert von den Verlagen Frohmann und mikrotext. Mit ihren drei sehr verschiedenen E-Books zum Thema gaben sie den Zuhörern einen tiefen Einblick in die Seele eines Menschen, der vertrieben wurde und ließen Flüchtlinge in den Dialog mit Berlinern treten.

Michaela.Müller.Lampedusa„Vor Lampedusa“, so heißt der erste Beitrag des Abends, von Michaela Maria Müller aus dem Frohmann Verlag. Die Journalistin reiste bereits Ende 2013 auf die italienische Insel und gibt in ihrem Text in kleinen Schnipseln einen Einblick in ihre Erlebnisse. Sie, die Deutsche, der eine kleine Plastikkarte alle Türen öffnet, ist auf Reisen nach Lampedusa, auf völlig anderem Weg als es ein Mensch ist, der zufällig nicht im Schengen-Raum geboren wurde. Kurz aber eindrücklich gibt Müller einen wunderbaren Einstieg in den Abend, aus der deutschen, hin zur syrischen Sicht.

Faiz-Julia-Tieke-Mein-Akku-ist-gleich-leer-mikrotext-2015-400px-240x360Denn geflüchtet wird auch auf anderen Wegen, wie uns Faiz und Julia Tieke illustrieren. „Mein Akku ist gleich leer“, so der Titel des als E-Book publizierten Chats einer Deutschen mit einem Syrer auf der Flucht. Faiz ist Aktivist in Aleppo, wird in seiner Heimat vom IS mit dem Tod bedroht und schließlich zur Flucht gezwungen. Über abenteuerliche Wege, meist zu Fuß, gelangt er von Land zu Land, stets zwischen Hoffnung und Verzweiflung pendelnd. Sein einziger Wunsch: „Wir müssen Menschen bleiben. Nur das“, doch selbst daran zweifelt er irgendwann. Das E-Book aus dem mikrotext Verlag ist nach dem von Aboud Saeed das zweite eines Syrers und doch vollkommen anders. Es ist ein Fragment, ein Zeitzeugenbericht, ein Stück Literatur, die man sich nicht ausdenken kann. Der Chat hängt ohne Anfang und Ende in der Luft, doch das ist gewollt, versichern Verlegerin Nikola Richter und Julia Tieke einstimmig: „Was wir damit wollen ist vor allem: zum Nachdenken anregen!“ Und das hat geklappt. An diesem Abend besonders, den Faiz sitzt unter einem Foto, das er selbst auf der Fluch geschossen hat und erzählt von dem, was nicht im Buch steht. Sein Weg über die Türkei, Griechenland, immer wieder Gefängnis, ein Martyrium. Und doch sitzt er dort, mit seinem Freund Hozan, der auch im Buch erwähnt wird und wirkt, wie eben frisch seinem Chat entstiegen. Noch während der Lesung versuchen sie, einen Freund im Gefängnis in Mazedonien anzurufen, für alle hörbar, sagt der einige Worte auf Arabisch, doch dann ist Stille – die Polizei ist gekommen. Stille herrscht in diesem Moment auch in Berlin.

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V. l. n. r.: Hinten: Christiane Frohmann, Nikola Richter. Vorn: Michaela Maria Müller, Julia Tieke, Faiz, Hozan, Lydia Zielke, Patras Bawansi.

Es ist das eine, über Flüchtlinge zu reden, sie abzulehnen, „nach Hause“ schicken zu wollen, wenn keine dabei sind. Aber wenn einer vor dir sitzt, dir sagt, wie gern er nach Hause würde, von Schlägen in Gefängnissen und menschenverachtenden Schleppern erzählt, steigert sich das Unverständnis gegenüber PEGIDA und Co. ins Unermessliche. Ein solcher Dialog, wie er an diesem Abend stattgefunden hat, kann viel dazu beitragen, Ängste abzubauen, Vorurteile zu entkräften und – ganz einfach – Menschlichkeit zu erzeugen.

Patras.Bwansi.Lydia_.Ziemke.Mein_.Name_Im letzten Text des Abends kommt Patras Bwansi zu Wort. Ein Ugander, der Teil der Protestbewegung auf dem Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg war und die Initiative „We are born free – my right is your right“ gründete. Und er stellt schließlich auch die Frage, die wir uns alle stellen sollten: „Wer ist hier der Illegale? Ich, der ich einfach frei leben will, ohne Repressionen, Schläge und Unterdrückung und deswegen nach Deutschland gekommen bin, oder die EU, die Waffen an mein Land liefert, mit denen wir erschossen werden sollen? Nicht jeder Kriminelle hat sich ausgesucht ein Krimineller zu sein. Ich bin es, sagt das deutsche Gesetzt, einfach weil ich existiere.“

Die beiden Essays des Uganda und der deutschen Regisseurin Lydia Ziemke zeigen sehr eindrücklich die Abartigkeiten des deutschen Asylsystems, sowohl für die Betroffenen, wie Petras Bwansi, als auch für die, die einfach helfen wollen, wie Lydia Ziemke.

Bwansi erzählt uns nicht mehr und nicht weniger als seine Lebensgeschichte, die so voll ist mit Ungerechtigkeiten, dass es für drei Leben gereicht hätte. Seine Wut wird zum Kampf, zum politischen Aktivismus, erzählt mit viel Pathos und Leidenschaft, sowohl im Text, als auch an diesem Abend. Gar nicht mehr aufhören zu reden will er, doch das ist nur all zu verständlich. Sein Dasein in Berlin ist ein täglicher Kampf um das, was für uns normal ist: ein Leben in Freiheit.

Lydia Ziemke kam dadurch etwas kurz zu Wort. Sie ist eine Wütende, die jedoch nicht in der Wut verharrt, sondern sich zum Helfen entschlossen hat, ohne dabei an ihr eigenes Ego zu denken. Selbstironisch durchleuchtet sie ihr Tun, deckt Paradoxien auf und gibt im Text immer wieder konkrete Anregungen.

Doch im Mittelpunkt der Lesung standen die beiden „Flüchtlinge“, was sich auch in der anschließenden Diskussion zeigte, und das ist richtig so. Trotzdem sollte auch Lydia Ziemkes Essay, der ebenfalls im E-Book „Mein Name ist Bino Byansi Byakuleka“ im mikrotext Verlag erschienen ist und Bwanis Text großartig ergänzt und abrundet, gelesen werden. Für den Leser entsteht gerade durch diesen Zweiklang ein neuer Blick auf „Asylanten“ und unseren bürokratisch entmenschlichten Umgang mit ihnen. Der gestrige Abend konnte diesen Blick aufleuchten lassen und in privaten Gesprächen im Anschluss war es dann auch möglich, jeden der Autoren noch persönlich kennen zu lernen.

Sophie Sumburane

Patras Bwansis/Lydia Ziemke: Mein Name ist Bino Byansi Byakuleka. Doppel-Essay. Mikrotext Verlag 2015. 65 Seiten. 1,99 Euro.
Faiz/Julia Tieke: Mein Akku ist gleich leer. Ein Chat von der Flucht. Mikrotext 2015. 56 Seiten. 1,99 Euro.
Michaela Maria Müller: Vor Lampedusa. Eine Reise. Frohmann Verlag 2015. 37 Seiten. 2,99 Euro.
Fotos: Sophie Sumburane

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