Argentinien ja, aber nicht allein
– Gisela Trahms für CULTurMAG: In dem Band „Neues vom Fluss“ haben Sie 28 Erzählungen aus drei südamerikanischen Ländern versammelt. Wie haben Sie die Texte gefunden?
In Deutschland gibt es seit einigen Jahren ein mobiles Festival lateinamerikanischer Literatur, die Latinale, die ich mit anderen Leuten zusammen organisiere. Dadurch lernte ich viele Schriftsteller aus Argentinien und Brasilien kennen. Als ich 2008 in Südamerika war, zum wiederholten Male in Argentinien, zum ersten Mal in Uruguay und Paraguay, habe ich durch diese Kontakte viele weitere geknüpft, die Autoren sind ja untereinander vernetzt wie bei uns auch. Interessante Texte aufzuspüren war nicht schwierig. „Neues vom Fluss“ präsentiert lauter junge, größtenteils unbekannte Autoren.
Die Texte stammen aus Argentinien, Uruguay und Paraguay, alle am Rio de la Plata gelegen. Gibt es einen intensiven kulturellen Austausch zwischen diesen Ländern?
Argentinien ist ein riesiges Land mit einer berühmten literarischen Tradition, man denke nur an Jorge Luis Borges. Buenos Aires hat seit langem eine bedeutende Literaturszene, die für ganz Südamerika eine Rolle spielt, besonders für die benachbarten Länder. Da interessieren sich die Argentinier natürlich nicht so brennend für das, was in den viel kleineren Städten Montevideo oder Asunción passiert. Das bedeutet aber nicht, dass es dort nicht auch Festivals, Clubs, Lesungen und viel Interesse und Resonanz gibt auf alles, was Literatur betrifft. Es gibt ein großes independent-Spektrum, gerade weil kaum ein Autor von seinen Büchern leben kann.
Welche Ähnlichkeiten und Unterschiede würden Sie hervorheben?
Alle drei Länder besitzen eine intensive mündliche Erzähltradition, die immer noch fortwirkt und nicht so verschüttet ist wie in Europa. Die ländlichen Gebiete sind noch immer davon geprägt, dass man Geschichten eher erzählt, als dass man sie liest. Gleichzeitig hat der technische Fortschritt neue Kommunikationsformen und Schreibweisen mit sich gebracht, die denen des Westens ähneln. Sie werden intensiv genutzt, wobei Argentinien sicher am weitesten fortgeschritten ist.
In Paraguay spielt die Carton-Literatur eine große Rolle. Erklären Sie uns diesen Begriff?
Sie meinen sicher die Literatur, die in Bücher aus Karton veröffentlicht ist. Die Idee, Buchumschläge aus recycelten Karton herzustellen und diese dann individuell zu bemalen, stammt ursprünglich aus Argentinien, wo es sogenannte Cartoneros, Papiersammler gibt. Mittlerweile gibt es in fast allen Länder Lateinamerikas solche Kartonbuchverlage. In Paraguay spielen sie deshalb in der Literaturszene eine wichtige Rolle – weil es insgesamt nur wenige Verlage gibt, und so sind Kartonbücher eine wichtige Plattform für junge Literatur.
Alle drei Länder hatten ja auch ihre besondere Geschichte und haben unter spezifischen Diktaturen gelitten. Spielen diese Vergangenheit und die gegenwärtigen politischen Verhältnisse für junge Autoren eine bevorzugte Rolle?
Meinem Eindruck nach nur zum Teil. Zwar leidet etwa Argentinien immer noch unter den Folgen der Militärherrschaft, das ist ein nationales Trauma und die Auseinandersetzung damit wird noch lange andauern, besonders für die Familien der Opfer. Aber junge Autoren wenden sich der Gegenwart zu, wie es nur natürlich ist, und die bietet auch außerhalb des politischen Kontextes genügend Erzählstoff. Paraguay feiert in diesem Jahr das Jubiläum seiner Gründung vor 200 Jahren, natürlich auch ein Anlass, über die eigene Identität und Geschichte nachzudenken.
Das Interesse für lateinamerikanische Literatur verbindet sich bei uns mit bestimmten Namen, eben Borges, Cortázar, Onetti, García Márquez usw. Vor fünfzig Jahren öffneten die Romane dieser Autoren den europäischen Lesern das Fenster ins Fantastische. Borges’ raffiniert konstruierte Welten oder das Macondo aus „Hundert Jahre Einsamkeit“ waren neu und aufregend, sowohl dem Inhalt wie der Erzählweise nach, und seitdem ist das Barocke, Übersprudelnde, Surreale das, was der Leser hier erwartet, wenn er einen Roman aus Südamerika aufschlägt.
Diese Tradition ist aber eher im Abnehmen begriffen. Wenn Sie die Erzählungen in „Neues vom Fluss“ betrachten, ist das Fantastische da, dominiert aber nicht. Die jungen Autoren setzen sich auch lebhaft mit der nordamerikanischen Literatur auseinander. Ein Problem ist allerdings, dass nicht besonders viel übersetzt wird und diese Bücher dann teuer und nicht überall zu haben sind.
Wer hat „Neues vom Fluss“ übersetzt?
Die Geschichten wurden von Studenten eines Translationsseminars der Universität Mainz übersetzt, meist haben sich zwei oder mehr Studentinnen mit einem Text beschäftigt und ihre Versionen miteinander diskutiert. Das war ein sehr schönes Projekt, eine gute Zusammenarbeit.
Haben Sie eine Lieblingsgeschichte?
Ich mag sehr gern die Geschichte „I want to be fat“ von Cecilia Pavón. Darin wird beschrieben, wie sich ein paar Freundinnen einmal die Woche abends treffen und dem auch in Argentinien grassierenden Schönheitswahn provozierend den Spiegel vorhalten: Sie polstern sich nämlich unter ihrer Kleidung mit genügend Schaumstoff aus, um als dicke Weiber selbstbewusst durch das Nachtleben zu ziehen. Laut der Erzählerin hat das denselben Effekt wie eine Droge.
Vielen Dank für das Gespräch.
Timo Berger, geboren 1974, studierte u.a. Lateinamerikanistik in Tübingen, Buenos Aires und Berlin. Er hat zahlreiche Texte lateinamerikanischer Autoren übersetzt und Anthologien herausgegeben. Er schreibt Gedichte und Erzählungen, z.B. „Kafka und ich“ (SuKuLTuR). Timo Berger lebt in Berlin. Timo Berger auf Literaturport.de.